Mörder mal anders betrachtet

Reportage zum Thema Mord/Mörder

von  eiskimo

Tote bringen Quote, Mörder (besser noch Serienmörder!) faszinieren. Dieses Wissen schlachtet die Filmindustrie weidlich aus, Kein Fernsehabend heutzutage ohne Killer. Wir weiden uns an deren perversen Tun, gerne in HD.
Die Lebenswirklichkeit dieser „Monster“ aber ist viel desaströser als ein Krimi es je zeigen könnte. Als Stoff für Fernsehunterhaltung eigentlich völlig ungeeignet. Sei´s drum,  Was aber hat das mit dem beschaulichen Dorf Bonnard in Burgund zu tun?

Der Anlass, warum ich ausgerechnet mit einem derartigen Mörder-Thema in Kontakt kam, heißt Marc Lapierre (55) und der wohnt zurückgezogen in Bonnard.
Er war Sozialarbeiter in Frankreich, er hatte, als seine Frau noch lebte, dort vier Pflegekinder betreut. Er weiß, wie zerrüttet manche Familien sind, auch, was Kinder durchmachen, die in ein Heim müssen. Er hat aus direkter Anschauung den Hass erlebt, den manche aufbauen. Marc hat deshalb einen ganz eigenen Blick auf die „Monster“, die dann als Kapitalverbrecher enden.
Ihn bewegt bei den Nachrichten über diese Horror-Taten folglich nicht die Vorgehensweise der Täter, ihre Bewaffnung und wie die Polizei sie zur Strecke bringt, sondern die Frage nach den Anfängen ihrer fatalen Verirrung und Haltlosigkeit. Die Kindheit, diese oft Weg weisende Vorgeschichte der Täter, die will er in den Fokus rücken. Hier einmal eine Aufstellung der Fälle, die Marc zuletzt einmal näher untersucht hat

Mickael Harpon, der vor drei Monaten in der Polizei-Präfektur von Paris vier Kollegen erstach und einen fünften lebensgefährlich verletzte -
die Brüder Kouachi, Haupttäter beim Überfall auf Charlie Hebdo in Paris am 15. Januar 2015, der 12 Menschen das Leben kostete -
Hayat Boumeddiene, begleitet von  Amedy Coulibaly , fast zeitgleiche Geiselnehmer in einem jüdischen Lebensmittelladen von Vincennes, die fünf Tote hinterließen-
Mehdi Nemmouche, verhaftet nach dem Blutbad im Jüdischen Museum in Brüssel im Mai 2014, dringend verdächtig, vier Menschen erschossen zu haben -
Mohamed Merah, « der Motorrad-Killer von Toulouse » (7 Tote), im März 2012 von der Polizei erschossen -
Tony Meilhon. Tötete und zerstückelte Laetitia Perrais im Januar 2011  -
Patrice Alegre, « Der Mann, der so gerne Frauen tötete» wurde  2002 zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt für Vergewaltigung von sechs jungen Frauen und für fünf Mädchenmorde im Zeitraum  1989 bis 1997 - 
  Emile Louis, genannt « Der Metzger von der Yonne » wurde 2004 zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt für Vergewaltigung und Ermordung von sieben  Mädchen, die in den 70er Jahren im Département Yonne als vermisst gemeldet worden waren. Er starb 2013 im Gefängnis.
 
Diese makabre Liste könnte fast beliebig weitergeführt werden. Natürlich, so erläutert mir Marc, erfasst sie nicht alle Gewaltverbrechen, die im genannten Zeitraum in Frankreich verübt wurden. Was er aber bei den hier aufgeführten Verbrechen als übereinstimmendes Merkmal gefunden habe: Die Täter verbrachten allesamt eine bestimmte Zeit ihres Lebens in der „Obhut des Staates“. Das heißt: Sie stammten aus schwierigen Verhältnissen, sie hatten Probleme und wurden dann der ASE anvertraut: „ L´aide sociale  à l´ enfance,“ was vergleichbar wäre mit den deutschen Jugendämtern.
Konkret heißt das: Diese Menschen, allesamt Männer, waren in ihrer Kindheit oder Jugend schon einmal auffällig geworden, und zwar so auffällig, dass sie aus ihren Familien herausgenommen werden mussten. Oder es lief auch umgekehrt. Die Eltern wurden auffällig, waren überfordert und disqualifizierten sich als Erziehende, was dann zur gleichen Konsequenz führte: Die Kinder kamen in ein „orphelinat“, zu Deutsch: in ein staatliches Erziehungsheim, meist zusammen mit gleichgearteten „Fällen“ - manchmal zusammen mit über Hundert Kindern in einer Einrichtung. Heute vermeidet man den Ausdruck „orphelinat“, man spricht von les Foyers de l’enfance (FDE)
Für mich als Außenstehenden ist an dieser Stelle wichtig: Ich will nicht die Arbeit dieser französischen Sozialpädagogen in Frage stellen, und ich maße mir auch keinerlei Rückschlüsse auf die entsprechenden deutschen Einrichtungen an. Im Gegenteil. Ich habe großen Respekt vor deren gigantischen Herausforderungen.
Was ich aufzeigen will – einfach, weil es mich inzwischen so bewegt - , das ist das ungeheure Zerstörungspotential, das Menschen aufbauen können, die in ihre Kindheit und Jugend „unter die Räder“ gekommen sind, die also in dieser so sensiblen Lebensphase keine schützende Familie um sich herum hatten. Marc Lapierre hebt hervor, dass insbesondere die ganz frühe Zeit, also das Alter zwischen ein und vier Jahren, prägend sei.  Und dass in dieser Phase liebevolle Bezugspersonen da sein müssten – zur Not Ersatzfamilien. Die „orphelinats“ oder FDE´s, diese großen staatlichen Anstalten, könnten das seiner Überzeugung nach nicht leisten,  so modern sie sich auch geben.
Was sich für mich daraus ergibt: Die Familie hat oberste Priorität, zur Not eine Pflegefamilie.
Aber wie ergeht es diesem existentiell so wichtigen Grundbaustein unserer Gesellschaft? An welcher Stelle der Prioritätenliste rangiert er? Wie viele an sich funktionierende Familien drohen zu zerbrechen, weil Vater oder Mutter plötzlich „betriebsbedingt“ ihren Job verlieren, weil dann prompt ihre Wohnung unbezahlbar wird, weil strapaziöse Wege zu einer neuen Arbeit der Familie wertvolle Zeit rauben?  Wie brutal greifen ungünstige Arbeitszeiten und berufliche Vereinnahmung in das kaum zu schützende Zusammenleben der Familien ein? Sind wirtschaftliche Interessen, so frage ich mich,  dem Schutz  der Familien eigentlich noch  unter- oder längst  übergeordnet?
Und wie sieht es vor Ort aus, in den Gemeinden: Haben wir als Nachbarn, als Bekannte oder Angehörige alle noch ein Gewissen  – besser wäre noch ein Herz! - damit sich Familien in unserem Umfeld nicht so fatal fehl entwickeln können – auch,  wenn es unsere  so glatte gesellschaftliche Welt in Frage stellt,  auch, wenn wir vielleicht lieber wegschauen oder gerne die möglichen Konsequenzen verdrängen? 
Marc wird ab und zu in Bonnard von einem seiner ehemaligen Pflegekinder besucht. Nicht von den „einfachen“, sondern nur noch von Yves, den er einmal als sein schwierigstes Kind bezeichnet hatte – der, bei dem er am längsten gezweifelt hat.  Yves, so erzählt Marc stolz, habe inzwischen einen guten Job und ein geordnetes Leben. Sein Einsatz für ihn habe sich also gelohnt. Von seinen anderen Kindern, so kommentiert er mit zweifelnder Miene, wisse er er das nicht.
           

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (18.12.19)
Ein wichtiges Thema. Als Lehrer im Ruhestand denke ich oft darüber nach, wie schwer es manche von denen hatten, die mir anvertraut waren. Auch das Jugendamt war selten eine Hilfe. Den Eltern fehlte oft die erforderliche Zeit oder sie waren anderweitig überfordert. LG
Al-Badri_Sigrun (61)
(18.12.19)
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 eiskimo meinte dazu am 19.12.19:
Danke für Deine Unterstützung - ich sehe uns da alle in der Veranrtwortung.
Hass und Gewalt haben immer eine Vorgeschichte, und irgendwo war immer mal eine Chance, aus der Spirale rauszukommen!
lG
Eiskimo

 AchterZwerg (18.12.19)
Hallo eiskimo,
ein wichtiger Baustein fehlt mir hier, nämlich die Erwähnung der Gewalt innerhalb der nach außen hin ganz normalen Familien, die zu Weihnachten häufig den Höhepunkt des Jahres finden.
Wie ich schon anderswo erwähnte, die Frauenhäuser sind dann (und auch ohne das heilige Fest) komplett überfüllt, der Missbrauch treibt seine widerlichsten Blüten, Zwang und Prostituion ebenso.
Die Kinder werden meist nur (!) aus den Familien genommen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Aus meiner Sicht, als Fachfrau mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, kann ich nur sagen: Das passiert leider noch immer zu selten.
Solch ein Heimplatz ist teuer. Dann bietet man schon lieber ein paar "nette" Pflegeeltern an ...
Der Leiter eines Jugendamtes sagte mir einmal zum Fall eines 11-jährigen, der von seinem Vater regelmäßig mit einem Kabel zusammengeschlagen wurde und den ganzen Rücken voller Wunden hatte: "Das ist halt bei denen so."
Und nun kannst du dir die folgende Frage selber beantworten:
Was wird aus diesem Kind?

Der8.

Kommentar geändert am 18.12.2019 um 18:00 Uhr

 eiskimo antwortete darauf am 19.12.19:
Ich in diesen Fragen beileibe kein Fachmann. Und ich glaube Dir sofort, was Du da ergänzend hinzufügst. Jetzt Weihnachten wird der Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit wohl wieder besonders schmerzhaft zu Tage treten....
Danke für Deinen Kommentar!
Eiskimo

 AchterZwerg schrieb daraufhin am 19.12.19:
Das geht ja nicht nur dir so, lieber Eiskimo,
sondern ist eine Wahrheit, die gern verdrängt wird: Die brutalste und häufigste Gewalt wird innerhalb der Familien ausgeübt. Von Vati und Mutti, dem Opi, den Geschwistern oder anderen Angehörigen.
Und ganz besonders (!) bei uns in Deutschland.
Die Sitation in der öffenltichen Erziehung (früher: Heimerziehung) hat sich in den letzten 10 Hahren stark verbessert.
Die meisten Kinder und Jugendlichen leben (bei diagnostiziertem Bedarf) in Wohngruppen oder familienähnlichen Einheiten. -
Natürlich ist das kein Ersatz für ein glückliches Familienleben.

Vieleicht habe ich davon (berufsbedingt) zu wenig gesehen ...

Herzliche Grüße
der8.
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