Meditation über Tiberius Iulius Celsus Polemaenus

Essay zum Thema Tradition

von  Graeculus

Celsus stammte aus Sardes, lebte in Ephesos und machte zur Regierungszeit Traians eine Ämterkarriere: Konsul, Senator und schließlich Statthalter der Provinz Asia (105-107 u.Z.).

Den heutigen Menschen, sofern sie sich für Archäologie interessieren, ist er ein Begriff durch seine testamentarisch verfügte Gründung einer Bibliothek in Ephesos, in die architektonisch sein Grabmal samt Sarkophag eingebaut war.
Der Bau hat bis zum Jahr 135 gedauert und umfaßte dann, neben diesem Sarkophag ihres Stifters, eine öffentliche Bibliothek mit ca. 12.000 Buchrollen. Provinziell im Vergleich zu den ca. 700.000 Buchrollen in Alexandria, aber immerhin.

Im 3. Jhdt. haben die Goten - Barbaren! - das Gebäude zerstört.

Zwischen 1970 und 1978 ist österreichischen Archäologen unter Verwendung von mehr als 700 gefundenen Bruchstücken die Rekonstruktion des Baus gelungen. Die Celsus-Bibliothek ist heute wieder ein Publikumsmagnet in den Ruinen von Ephesos - ohne die Buchrollen allerdings.

Der Nachwelt eine öffentliche Bibliothek zu hinterlassen, das war damals ein Akt von Kultur. Und heute?

Wenn wir bei Gesprächen an den Punkt kommen, an dem man etwas nachschlagen muß, eile ich zu den Büchern, während meine Frau ihr Smartphone zückt, etwas eintippt ... und in aller Regel die Information schneller hat als ich.
„Ah, das alte Wikipedia!“, meinte ein junger Gast kürzlich, als ich mit einem Buch ankam.

Soll man jungen Leuten jetzt Laptops stiften? Und wo soll dann der Sarkophag hin?

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (22.01.20)
Nun mal nicht so pessimistisch. Da gibt es eine Trick. Einfach das "Retro" oder "Vintage" vor die Bibliothek stellen und schon ist sie wieder hip und der Sarkophag findet auch wieder seinen Platz.

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Wenn es so einfach wäre! Ich kenne etliche meiner Altersgenossen, die sich fragen, was aus ihren Büchern werden soll. Kinder haben sie alle, aber niemanden, der sich für ihre Bibilothek interessiert. Vom Sarkophag darin zu schweigen.

 Dieter Wal (22.01.20)
Die Oskar Rudolf Schlag-Bibliothek in Zürich innerhalb dessen ehemaliger Villa soll die weltweit umfangreichste private Fachbibliothek über Religionswissenschaft, Magie und Esoterik sein.

Schlag selbst war als Jugendlicher einer von C. G. Jungs begabtesten sensitiven Probanden, mit denen Jung eine Zeit
parapsychologisch, damals offiziell als Psychiater, forschte.

Schlag lebte hauptsächlich von Okkultahandel. Er scheint seine Sensitivität auch dafür genutzt zu haben. Zu Lebzeiten bekannt wurde, dass praktisch so gut wie nichts über ihn bekannt war. Er gehörte Sapere Aude in Zürich an und mischte im OTO mit, wohl Metzgers Schweizer Linie, er lebte homosexuell, legte jedoch auch da keinerlei Wert auf Selbstdarstellung. Seine Tranceprotokolle werden nach wie vor kommentiert ediert. Das Projekt ist noch unvollendet.

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Oskar_Rudolf_Schlag

Ich finde ihn sehr sympathisch. Erinnert etwas vom Typ her an Paul Celan und war ähnlich hochbegabt.

https://www.wikiwand.com/de/Zentralbibliothek_Zürich

Kommentar geändert am 22.01.2020 um 03:33 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 22.01.20:
Spezialbibliotheken, die genießen noch ein gewisses Ansehen. Einer soll über 30000 Bücher haben - alle zu Marcel Proust. Da mögen die Spezialisten hinpilgern.

 AchterZwerg (22.01.20)
"Ah, das alte Wikipedia!“, meinte ein junger Gast kürzlich, als ich mit einem Buch ankam."

So sind se! Neulich fragte mich einer entgeistert, wie ich ohne Navigationssystem an ein Ziel käme ...

Lächelnde Grüße
der8.

 Graeculus schrieb daraufhin am 22.01.20:
Das Navi! Das ist ein vergleichbares Thema. Landkarten und Stadtpläne sind "old-school".
Ob die noch wissen, daß es einmal eine Encyclopedia Britannica, einen Brockhaus, eine Meyers Enzyklopädie gab?

Wikipedia hat sie alle plattgemacht.

Antwort geändert am 22.01.2020 um 17:20 Uhr

 Dieter Wal äußerte darauf am 22.01.20:
@Graeculus: Betreute 2002-2008 bei Wikipedia die Artikel "Freimaurerei" und "Magie" und erhielt speziell für Lemmma Freimaurerei und weitere FM-Unterartikel einen Preis im Wert von 100€ bei einem bestimmten Verlag. Ich kaufte mir dafür als CDs die Encyclopedia Britannica und Staublis Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens.

Unter Wikipedia-Nickname "Benutzer: Penta".

Antwort geändert am 22.01.2020 um 21:23 Uhr

Antwort geändert am 22.01.2020 um 21:24 Uhr

 Graeculus ergänzte dazu am 22.01.20:
Wird die Enyclopedia Britannica denn wenigstens auf CD noch fortgesetzt? Nein, nehme ich an.

Es gibt ja noch Lexika im Handel, die ich nicht erwähnt habe, z.B. der Neue Pauly (für die Antike) oder das Historische Wörterbuch der Philosophie. Nur neu kommt da nix mehr.

 FRP (22.01.20)
vom Ersteller gelöscht

Kommentar geändert am 22.01.2020 um 09:58 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Das stimmt schon: es ist die Architektur, die sie berühmt gemacht hat; die Buchrollen gibt es ja auch nicht mehr - da ist nichts mehr zu bewundern.
Cora (29)
(22.01.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Es gab eine Zeit - so bis Ronald Reagan etwa -, da hat jeder US-Präsident eine Gedenkbibliothek gestiftet. Wird Bill Clinton das noch tun? George W. Bush?
Barack Obama liest viel, wie man hört.
Donald Trump weiß vermutlich nichtmal, wie herum man ein Buch hält.

 LottaManguetti (22.01.20)
Laptops ohne Server bleiben leer.
Also sollte man Server stiften?
Server arbeiten nur mit Unmengen an Energie.
Sollte man also Energie stiften?
Energiegewinnung schadet zunehmend der Umwelt.
Ich habs!
Man sollte Umwelt spenden, indem man die Laptops mal zuklappt und ein Buch in die Hand nimmt!

:D

Meint
Lotta

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
So sollte man es machen!
Wieviel Energie die Server verbrauchen, ist mir erst spät bewußt geworden.
Man muß auch die seltenen Rohstoffe, welche die Geräteherstellung benötigt (Koltan!), bedenken.
Laptops zu- und Buch aufklappen!

 GastIltis (22.01.20)
Hallo Graecu,
sicher ist dein Seitenhieb auf die Goten angebracht. Und Ephesos ist zurecht ein Publikumsmagnet, das ist unbestritten. Natürlich wissen wir alle, dass von den alten Kulturen viel zu wenige Zeugnisse, vor allem schriftliche, überliefert sind. Wem sage ich das. Umso verwerflicher sind natürlich die Untaten der sich „Christen“ nennenden Eroberer in Mittelamerika, speziell auch an den schriftlichen Überlieferungen der sogenannten „Eingeborenen“ gewesen, weil im Unterschied zu den Kulturen der Griechen, Römer und des vorderen Orients überhaupt kein Austausch, wie z.B. über die Araber bzw. die hohe Kultur der Mauren stattfinden konnte. Aber das ist ein anderes Kapitel. Und Bücher und neue Mittel der Kommunikation ein weiteres. Hier könnte man sich für den Rest des Lebens vertiefen.
Herzlich grüßt dich Gil.

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Nicht alle amerikanischen Kulturen waren Schriftkulturen. Aber immerhin: auch von den Maye-Codices ist kaum etwas erhalten geblieben.
Von den ungeheuren Verlusten bei der antiken Literatur, verursacht durch den antiheidnischen Furor der Christen, habe ich ja schonmal geschrieben.

 eiskimo (22.01.20)
"Der Nachwelt eine öffentliche Bibliothek zu hinterlassen, das war damals ein Akt von Kultur. Und heute?"

Dafür zu sorgen, dass Menschen überhaupt Wissensdurst entwickeln, neugierig bleiben, Dinge verstehen und durchschauen wollen, sich mit anderen "Wissenden" austauschen (also Wissenschaft betreiben), das tut gerade heute wieder Not.
Ob die Kommunikation dabei in Druckform, als Morsezeichen oder per Vortrag erfolgt, ist m.E. sekundär.

Jedenfalls habe ich mit dieser Meditation einiges Neues gelernt.

vG
Eiskimo

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Als Erzieher zum Bücherlesen bin ich, ich muß es sagen, weitgehend gescheitert. Gegen den Trend habe ich vergeblich gekämpft.
Natürlich, es muß über die Motivation gehen.

Eine Anekdote:
Vertretungsstunde. Ich habe den Inhalt von R. L. Stevensons "Der Flaschenteufel" erzählt, bin aber nicht bis zum Ende gekommen, weil es läutete. Ende der Stunde. Empörung. "Das können Sie doch nicht machen, jetzt wegzugehen!"
Das Buch lesen, habe ich empfohlen.
Vier Wochen später Vertretungsstunde in derselben Klasse. Sie wollten die Fortsetzung der Geschichte hören. Kein einziger hatte sie inzwischen gelesen.
Zum Haareraufen.

 Dieter Wal meinte dazu am 22.01.20:
@Graeculus: "Vertretungsstunde. Ich habe den Inhalt von R. L. Stevensons "Der Flaschenteufel" erzählt, bin aber nicht bis zum Ende gekommen, weil es läutete. Ende der Stunde. Empörung. "Das können Sie doch nicht machen, jetzt wegzugehen!"
Das Buch lesen, habe ich empfohlen.
Vier Wochen später Vertretungsstunde in derselben Klasse. Sie wollten die Fortsetzung der Geschichte hören. Kein einziger hatte sie inzwischen gelesen.
Zum Haareraufen."

Meine väterliche Großmutter Emilie Wallentin, geborene Grasser war Märchenerzählerin. Sie konnte Märchen auswendig und erzählte sie uns Enkeln. Wenn ich das Märchenfragment "Das Wasser des Lebens" schrieb, dann wegen ihr, Grimms und Bechstein. Ein Märchenerzähler ist für seine Zuhörer ein Vermittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Jenseits und Diesseits. Du toppst jedes TV-Gerät, jedes Kino, jedes Theater und praktisch jeden Gott, weil Du in der Tradition der Schamanen als Erzähler stehst, dem gesprochenen Wort. Niemand will lesen, solange aus deinem Mund Welten entstehen.

Antwort geändert am 22.01.2020 um 21:40 Uhr

 FrankReich (22.01.20)
Ich möchte gern nach der Einäscherung in meinem Laptop beigesetzt werden.

 AchterZwerg meinte dazu am 22.01.20:


Und ich in meinem alten Standgerät.

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Asche über meinen Laptop & mein Smartphone!
Das werden sie als Kulturschande empfinden, sofern das Gerät noch relativ neu ist.

 TassoTuwas (22.01.20)
Bücher bzw. schriftliche Aufzeichnungen gibt es seit Jahrtausenden und wird es in auch in Jahrtausenden noch geben.

Ohne Rücksicht darauf, dass es dann schon lange keine Menschenheit mehr gibt

TT

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Dann können wir nur darauf hoffen, daß Aliens unseren Planeten entdecken, die Bücher lesen und (a) sich wundern oder (b) begeistert sind. Tippe auf (a).

 EkkehartMittelberg (22.01.20)
Lieber Graeculus, du bist ein liebenswerter Anwalt der Buchkultur, von dem ich immer wieder lernen kann. Wer sich den sinnlichen Genuss des Umgangs mit Büchern nicht vorstellen kann, dem empfehle ich meine Besprechung von Alberto Manguel: "Eine Geschichte des Lesens" hier bei kV.
Beste Grüße
Ekki

 Graeculus meinte dazu am 22.01.20:
Ein (zunehmend melancholischer) Anwalt der Buchkultur, das bin ich wohl.
Vor 100 Jahren hätte ich sicher das Pferd gegen das Auto verteidigt.

Deine Manguel-Besprechung werde ich mal suchen und mir durchlesen.

Gruß von
Wolfgang
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