Dem Tod immer nah

Roman zum Thema Nähe

von  eiskimo

Unser Garten liegt oberhalb des Friedhofs von Bonnard, fast wie ein Balkon. Es ist ein sehr großer Friedhof, und es ist ein  französischer Friedhof, das heißt: Wir schauen auf lange graue Kieswege, auf hässlich polierten Marmor, verwitterten Beton, rostige Grabeinfassungen und ganz viele Plastikblumen. Von Natur keine Spur. Dagmar hat schon im ersten Jahr, als wir uns gerade im neuen Heim einrichteten, gesagt: Nee, auf so einem Friedhof möchte ich auf keinen Fall begraben werden!
Dabei entwickelte sich im Laufe der Jahre eine durchaus reizvolle „co-habitation“ zwischen uns Neuen oben und den so schweigsamen  „Nachbarn“ unten.  Schweigsam heißt nämlich nicht, dass uns die Toten nicht viel zu sagen hätten. So erinnern sie uns nach wie vor  daran, dass wir ...leben! Dass WIR da unseren Garten aktiv gestalten können, dass WIR frisches Grün und echte Blumen haben und WIR diesen Flecken – wenn WIR denn wollen – auch einfach verlassen können....
Als leicht philosophisch angehauchter Fotograf mache ich aber sehr oft auch das Gegenteil: ich gehe sehr bewusst zu meinen Nachbarn auf diesen Friedhof und verweile zwischen den Gräbern. Meine Kamera kennt sie alle schon, die Billons, Bigeards, Désertennes, Guyards, Basdevants....um nur einige der am häufigsten vorkommenden Namen zu nennen. Und ich habe Hunderte Fotos dieser zum Teil schrecklich kitschigen oder aber auch total trostlosen Grabstätten gemacht.  Kitschig in dem Sinne, dass für „ notre cher papa“ Plaketten angefertigt wurden, die ihn zeigen bei seinem liebsten Hobby: Zum Beispiel dem Jagen. Und dann sieht man auf der Grabplatte diesen stilisierten Jäger und er zielt genau auf.. den eingravierten Namen! War der Verstorbene ein Fußball-Fan, sieht man ihn beim strammen Tor-Schuss Richtung .. Jenseits!  Oder der Mann war Briefträger: Da fährt der „facteur“ mit dem Briefträgerrad schwungvoll um die Ecke „pour faire son dernier tour“. Bauern sitzen auf einem Traktor, der den Hang herunter kommt und gleichsam von der Grabplatte purzeln wird. Unter dem  vorgefertigten Bild prangt dann meist ein sentimentaler Spruch, zumindest das schöne Wort „Souvenir“.
Die anderen Gräber, die trostlosen, sprechen mich insofern an, als sie einfach den Verfall, den Zahn der Zeit wiedergeben. Da haben Flechten und Moose längst alle Inschriften überwuchert, die Plastikblumen haben sich zersetzt, man sieht nur noch verblasste Reste an rostigen Drahtgeflechten baumeln, Kruzifixe sind geborsten. In einem zerbrochenen Jesus habe ich einmal ein Wespennest ausgemacht. Von einem anderen Jesus war nur noch der linke Arm da – Auferstehung mit kleinen Fehlern...
Warum mich auch nach 30 Jahren dieses morbide Dekor immer wieder neu anlockt? Weil es zu jeder Jahreszeit, je nach Witterung, immer wieder anders aussieht, ja, immer neue Blüten treibt. Man denke nur an den ersten Frost, der sich wie Puder auf den Grabschmuck legt. Oder an Schneefall, den wir in den Osterferien oft erlebt haben – da zeigt sich dieser Cimetière in seiner ganzen Poesie!
      Begegnungen haben aber auch sehr prosaischen Charakter. Wir haben da zum Beispiel mittags schon einmal den Grill angeworfen, sitzen noch gemütlich bei einem letzten Lammkotelett – da zieht wenige Meter weiter, sozusagen unter unserem „Balkon“, das Begräbnis-Défilé vorbei. Vorneweg die direkten Angehörigen des Verstorbenen, heulend und in tiefer Trauer, dahinter die etwas weniger betroffenen Gäste. Sollen wir da schnell einen Eimer Wasser über den brutzelnden Grill kippen?  Nein!  So trifft in unserem Bonnard dann Erdbestattung tatsächlich auf „Krematorium“ - wobei es passiert ist, dass uns Bekannte innerhalb der Trauergemeinde auch ein paar nette Worte hoch gerufen haben, nach dem Motto: „Bon appétit!“
Da die Beerdigungen meist am Vormittag stattfinden, kam es Gott sei Dank nicht sehr oft zu dieser Art Parallel-Veranstaltung. Aber grundsätzlich sind wir als unmittelbar neben der Kirche Wohnende immer involviert, vor allem, wenn es „große“ Beerdigungen gibt. Dann ruht in Bonnard tatsächlich das öffentliche Leben, denn fast alle Erwachsenen kommen zum Gottesdienst. Wir merken das, weil sie bis dicht an unsere Tür stehen und immer erst unmittelbar vor Beginn in die Kirche einziehen. Manche müssen dann auch noch ganz schnell mal bei uns im Hof „in die Büsche“, ein „Geschäft“ was in Frankreich von den Männern sehr ungeniert verrichtet wird, sehr zum Ärger von Dagmar, die jedes Mal laut und hektisch wird, um die Herren zumindest etwas zu irritieren.....
Todesfälle haben uns aber auch in anderer Form berührt, nicht als Nachbarn der Kirche oder eines Friedshofs, sondern weil man uns das erzählte, wenn wir nach monatelanger Abwesenheit zurückkamen – es waren oft Morvan-typische Unfälle: Da wurde ein Bauer vom eigenen Traktor überrollt, ein Waldarbeiter vom abgesägten Baum erschlagen, bei einem unachtsamen Jäger löste sich ein Schuss, der ihn  selber tödlich traf....
Auch Selbstmorde folgen im Morvan offenbar bestimmten Mustern: In mindestens zwei Fällen erfuhren wir von Männern, die sich ertränkt haben, und zwar, indem sie sich einen Sack mit Steinen umhängten und dann untergehen ließen. Einen dieser Männer kannten wir sogar, weil er unser Lieblingsrestaurant im Nachbarort Planchez übernommen hatte. Er ließ das Haus teuer renovieren, versuchte sich in „internationalem Flair“, konnte aber selber außer diesen Ideen nichts einbringen. Als er nach fünf Jahren völlig überschuldet war, sprang er in den Lac de Pannécière....
Die andere Form des Selbstmordes ist das Sich Erhängen. Von unserer früheren Nachbarin Jeanne habe ich bereits erzählt, dass sich ihr Mann auf diese Weise das Leben nahm, nachdem er von seiner  Krebserkrankung erfahren hatte. Dasselbe war in einem Haus passiert, das ca. 100 Meter von unserem entfernt an der Hauptstraße liegt. Jahrelang war dieses „maison du pendu“ nicht zu verkaufen gewesen. Keiner wollte in ein Haus „mit Todesgeruch“ einziehen. Bis es vor einigen Jahren Holländer gekauft haben (und es inzwischen sehr schön herrichteten).
Dass wir dem „Tod immer nah“ sind mit unserem Haus bzw. Garten am Friedhof, hat aber Gott sei Dank auch  positive Seiten: So gibt es nur wenige Meter von unserem Anwesen entfernt den „Friedhofsmüll“, getrennt nach „Compostable“ und „Non-compostable“. Bei Ersterem findet Dagmar regelmäßig Topfpflanzen, die voreilig entsorgt wurden und unter ihrem „grünen Daumen“ zu neuem Leben erweckt werden können. Und aus der anderen Hälfte konnte ich schon einige Metall-Teile herausholen, die zum Beispiel ideal für ein Treppengeländer verwertbar waren. Merke:  Wir nehmen wir unsere  Lage nicht nur ganz pragmatisch, sondern der makabren Entourage hier auch den Schrecken... Morvan ist für uns beileibe nicht die Entsprechung für  „mort“ . Wir sehen die Dinge absolut entspannt.
Am Ende dieses leicht schauerlichen  Kapitels noch etwas zum Schmunzeln: Wir sehen in unserem Garten, wenn wir auf den Friedhof schauen, des Öfteren Igel vorbeilaufen. Ja, Igel, genau auf der Zinne dieser Friedhofsmauer, die uns von dem Reich der Toten trennt. Natürlich sind das keine echten Igel. Es sind die Köpfe der vorbei gehenden Leute, die gerade noch über diese Einfriedung hinausragen. Aber beim ersten Mal, als wir dieser optischen Täuschung auf den Leim gingen, hatte unser Sohn tatsächlich gerufen “Ein Igel!“.Aber es war nur Jacques Billon mit seinem kurz geschnittenen Mecki-Kopf....


Anmerkung von eiskimo:

Aus meinem Roman "Ein Haus in Burgund", Kapitel 20

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (08.03.20)
Eine solche Nachbarschaft kann nicht jeder ertragen. Ich hätte Probleme. LG

 eiskimo meinte dazu am 08.03.20:
Wir kommen gut kla. Es hat auch was Beruhigendes
vG
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