Nachtsprech

Kurzgeschichte zum Thema Heimat

von  Isensee

Wegen Nicole
Das Wohnzimmer riecht nach Erbsensuppe. Aus dem Fenster, niedliches Lametta, Turm und Stadtlampen, Dachgeschoss 4:30, in Pisse und Fruchtresten aufgewacht. Ein Lautsprecher schreit und die anderen elektrischen Geräte verlangen nach Aufmerksamkeit. "TÜV zertifizierte Liegegarnitur" sagt Jochen, dann hebt Jochen den Zeigefinger, neigt sein Gesicht, linst über seine Brille und brummt selbstzufrieden um sich. Möchte ich mir nicht nochmal ansehen und beschließe meinen Körper auf Fremdeinwirkung zu untersuchen. Gehe in eine Küche die sich mit Aufklebern gegen Nazis wehrt. Noch betrunken genug, letzte Stunden als angenehm wahrzunehmen. Die Geburtstagsfeier meines Mitbewohners eskaliert im Flur. 5:30, Nicole kommt mit der Idee auf Candyflip steil und tanzen zu gehen. Zustimmung, duschen, umziehen: Bermuda schwarz, Tanktop mit dem Schriftzug “i believe in unicorns” Turnschuhe. 
Ziel: IFZ. Ein CleverShuttle wird gebucht, wir verabschieden uns dolle von den übrigen Gästen, das MDMA fängt an zu wirken, das LSD braucht noch eine Stunde. Auf der Fahrt erzählt Nicole von einer Begegnung mit demonstrierenden Taxifahrern. “Im Kreis fahrende Vollidioten. Zukunftsverweigerer die schlecht riechen und kindisch grinsen wenn Journey im Radio läuft” Nicoles Abrechnung wird zu einem Sommergewitter in weiter Entfernung und ich ziehe in eine Blase.

Mit “Ihr macht nen ganz schönen Kiefer” werden wir von unserem Fahrer verabschiedet, auf einem Kiesplatz abgeladen und sind nun uns selbst überlassen. Ob ein Sumpf zu mir spricht oder die Bässe bis zum dem Kassenbereich dringen, kann ich nicht mehr unterschieden. Nicole hält mich fest. Verspricht mir, dass eine gute Zeit beginnt.

Cream-colored ponies and crisp apple strudels.

oh sky above me,
You, profiligate.
you, the modest one
oh sky above me,
I am already aware,
you want to get rid of me

Zwanzig Euro gelöhnt, mein Mitbewohner teilt mir per WhatsApp das Ergebnis einer Partie Mäxchen mit.

Mäxchen oder auch Mäxle genannt
Kategorie:
Würfelspiel
Benötigte Utensilien:
Bier, Gläser, Schnaps, Untersetzer, Würfel
Spieleranzahl:
2 - X Spieler
Spielhärte:
Trinkspiele aus der Kategorie "Variiert"

Sven führt.

Da das Geld knapp ist, teile ich mir mein Zimmer mit einer 22-jährigen Lesley-Ann, die ihre Freizeit hauptsächlich mit dem Trinken von Caipirinhas in Rooftop-Bars verbringt. Sie hat mich dreimal gefragt, ob ich mitkommen möchte
Wir reden nur selten, zweimal in der Woche müssen wir uns jedoch darüber einigen, dass Sie ihr Zimmer für ein paar Stunden für Ihre Zwecke nutzen möchte, Sie bekam den Dienstag und Freitag, für mich war der Samstag und Mittwoch vorgesehen. An Lesleys erstem Solo-Dienstag, sah ich mir einen Teil der  Stadt an, der eher schwer zugänglich ist und von den Touristen gemieden wird.

Die Touristen mit ihren vollgepackten Rucksäcken haben immer ein Lächeln in der Fresse. Wenn ich einen schlechten Tag habe, gucke ich sie absichtlich böse an. Wenn ich einen guten Tag habe, tut mir das manchmal im Nachhinein Leid. Am schlimmsten ist jedoch die Universität. Vor dem viktorianischen Haupteingang befindet sich eine Wiese mit Brunnen in der Mitte, auf der die Studenten mit ihren Bier- und Weinflaschen sitzen. Ich muss meine Sonnenbrille aufsetzen und in den Himmel gucken, weil ich sonst in einen der kleinen Transporter steige und mit Vollgas über die Wiese fahre. Manchmal durchbricht Lesley-Anns Stimme mich und zwingt mich für 5 Minuten Smalltalk stehen zu bleiben. Lesley-Ann sollte besser aufpassen, dass ich ihr nicht auf ihre frisch blondierten Haare kotze, wenn ich vor ihr stehe, wie sie kniend auf ihrer Picknickdecke hockt und an einer Weinflasche nippt.
Fick dich, Lesley-Ann.

Man könnte jetzt denken, ich sei generell ziemlich schlecht gelaunt. Aber ich hasse zum Glück nicht alle Menschen. Ich hasse nur die Lesley-Anns dieser Welt. Die genau wissen wann der Zeitpunkt für ein Lächeln gekommen ist. In den richtigen Momenten schüchtern sind und sich auch mal besinnen und andere zum besinnen auffordern. In der Schule sich zur Klassensprecherin bitten lassen, weil Sie ja mit jedem klar kommt und überhaupt keine Probleme hat. Ja, dann wünsche ich mir, dass mit ihrer Familie was nicht stimmt, sie einen behinderten Bruder bekommt. Während Lesley-Ann auf der Wiese saß, habe ich ein ausklappbares Futon in unserem Wohnzimmer aufgebaut. Es ist Dienstag, heißt, Lesley-Ann hat das Zimmer für sich allein. Heißt, ich habe das Wohnzimmer für mich allein. Heißt, ich gehe mal wieder zum Bahnhof und mache mir einen Typen klar, dessen Zug eine mehrstündige Verspätung hat. Das Gute ist, ich sehe die Typen nie wieder. Ich kann ihnen eine falsche Nummer geben, ich kann sie zwei Stunden lang auf dem Futon im Wohnzimmer durchvögeln, ohne dass Lesley-Ann neben uns schnarcht, ohne Sympathie vorheucheln zu müssen und ohne für den unwahrscheinlichen Fall einer Schwangerschaft ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, dem Vater nichts von der folgenden Abtreibung erzählt zu haben.
Ich bin schon ziemlich gut darin, die Männer an ihren Klamotten einzuschätzen, wenn sie zum Beispiel einen Deuter Rucksack und hochwertige Wanderschuhe tragen, kann man ruhig zuschlagen. Das geht immer. Aufpassen muss man bei Typen die mit Trainingsjacken am Bahnhof abhängen. Es kam schon vor, dass ich mir einen jungen gutaussehenden Obdachlosen mit nach Hause genommen hab. Wider deren Erwarten, habe ich sie nicht mit einem Heißgetränk bezahlt, schließlich bin ich keine Nutte. Die Typen bekommen bei mir sowieso nichts, wenn mich einer lecken will, dann schlage ich mit der flachen Hand auf seinen Hinterkopf, bis er aufhört.
Ich habe übrigens irgendwann herausgefunden, was Lesley dienstags und freitags macht. Sie tötet Menschen. Ich habe sie dabei beobachtet.

Lesley-Ann lagert die Leichen dienstags im Bettkasten und entsorgt sie am Donnerstag.
Anfang April bemerkte ich zum ersten mal, dass etwas nicht stimmte. Das Land war von Hitzewellen heimgesucht. Ich kannte den Geruch von vier Tage alten Nudeln mit Calabrese Pesto gut, aber der geruch in unserem auf 25 Grad aufgeheiztem Zimmer war ein anderer. Ich begann also, nach dem Auslöser zu suchen. Im Schrank, hinter dem Schrank. In den Sachen der Mitbewohner kramen ist eine bestimmte Schwelle, die ich nur ungern übertrete, doch es musste sein.
Lesleys-Ann hat keinen Bettkasten, den man nach vorne hinauszieht, sondern stattdessen zwei kleine Schiebetüren. Ich legte mich also seitwärts, mit dem Gesicht an den Boden gepresst, vor den Bettkasten und schob die rechte Tür beiseite. Mich starrten zwei leere Augen in einem weißen Kopf an.
“Hi, Greg”, dachte ich, “siehst etwas käsig aus.” Ich bin sicher nicht kaltherzig, falls man das jetzt denken könnte, ich war bloß nicht überrascht. Wisst ihr, die Lesley-Anns dieser Welt verbergen eben diese Geheimnisse hinter ihren blondierten Haaren.

Dein Schwanz hat Spaß gemacht,
gestern hat er dich umgebracht.

Greg tut mir Leid, aber ich habe noch niemandem davon erzählt. Ich meine, wen interessiert das schon, wenn ein Obdachloser stirbt? Seine Familie bestimmt nicht. Vielleicht ein Artikel in der Regionalzeitung und Lesley-Ann-Kommilitonen, die Decken und Care-Pakete verteilen. Ich dachte mir jedenfalls, ich behalte es erstmal für mich. Außerdem: Wer weiß, was sich aus meinem und Lesleys Geheimnis noch ergeben könnte. Das ging dann so bis Mitte September, dann hab ich mich in Ihr Jagdrevier begeben und Sie bei Ihrer Arbeit beobachtet. Es hat Spaß gemacht viel Wert darauf zu legen in einer Gruppe von Menschen unterzugehen, damit hatte ich noch nie Probleme.
Nur einmal hat Lesley-Ann mich entdeckt, aber ich hatte natürlich eine plausible Erklärung parat. Den ersten Mord, den ich beobachtete, traf Tony.
Tony war alt und auf einem Auge blind, sein rechtes, funktionstüchtiges Auge begaffte Lesleys Netzstrumpfhose unter ihrem kurzen Lederrock. Das Gute an der Mode unseres Zeitalters ist, dass Lesley auch privat wie eine Prostituierte herumläuft. Heißt, keiner ihrer Kommilitonen würde Verdacht schöpfen, wenn er ihr in diesem Outfit begegnet.

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Kommentare zu diesem Text


 TheHadouken23 (11.04.20)
Es hat mich abgeholt. Ich habe nun ein schlechtes Gewissen, während ich meinen Wein weiter exe und fühl mich gleichzeitig gut dabei. Ich würde jetzt am liebsten wie eine Nutte einschlafen: Gefickt, betrunken, ärmer an Selbstakzeptanz, aber ein wenig reicher an Scheinen.

Wundervoller Text
aliceandthebutterfly (36)
(12.04.20)
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