Der Wert des Lebens

Essay zum Thema Leben/Tod

von  Graeculus

Vor etwa 15 Jahren habe ich einmal Schüler der Oberstufe gefragt, ob für sie das Leben das höchste Gut sei oder ob es etwas gebe, für das sie ihr Leben opfern würden.
Sein Leben für etwas zu opfern, das war – so wirkte es auf mich – ein für sie befremdlicher Gedanke. Erst nach einigem Überlegen nannten einige wenige, es mögen 5 oder höchstens 10 Prozent gewesen sein, die Familie. Für die würden sie sich unter Umständen opfern. Doch der erdrückenden Mehrheit galt das eigene Leben als höchstes Gut, und zwar mit großer Selbstverständlichkeit.

Das wäre, so dachte ich mir, von 150, vor 100 und vielleicht sogar vor 50 Jahren noch ganz anders gewesen. Was gab es da nicht alles, für das man sein Leben zu riskieren und sogar hinzugeben bereit war! Gott, Kirche, König, Vaterland, Nation, Volk, Freiheit, Ehre, Ruhm, Sozialismus, Gerechtigkeit, Menschheit. So viel gab es, was einem heilig war. „Lieber tot als rot!“ – „Lieber stehend sterben als kniend leben!“ Das war einmal.

Kann man deshalb heute von einem Zeitalter des Narzißmus oder Hedonismus sprechen, allenfalls mit der Familie als dem erweiterten Ego? Oder sind wir durch Erfahrungen des Mißbrauchs von Idealismus skeptischer geworden gegenüber abstrakten Idealen?

Wenn schon Leben der höchste Wert sein soll, dann aber nicht irgendein oder ein möglichst langes Leben, sondern eines, das einen Sinn und eine Freude in sich trägt.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (01.05.20)
Interessant wäre, sich anzusehen, wofür die Leute wirklich sterben. Dein Text macht nachdenklich. LG Gina

Kommentar geändert am 01.05.2020 um 06:00 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Ich möchte hinzufügen: wofür die Leute freiwillig sterben.
Oder meinst Du etwas anderes?
Heute ist der Tod ja fast immer ein erlittenes Schicksal, das man so lange wie möglich hinauszuschieben bemüht ist. Nicht selten von Medizinern bis ins Sinnlose hinein. Einem dementen Menschen, dessen Lebenswillen erloschen ist (der nicht mehr ißt noch trinkt), mit der PEG-Sonde das Leben zu verlängern, hat für mich geradezu etwas Gewaltsames.

Wer stirbt heute überhaupt noch freiwillig für etwas? Und warum? Um als ein Held zu gelten?

 Regina antwortete darauf am 01.05.20:
Nein, ich dachte an Kriege, An Journalisten, Oppositionelle usw. Wofür wird gestorben, wenn nicht nach langem Leben an Herzversagen?

 Regina schrieb daraufhin am 01.05.20:
Nein, ich dachte an Kriege, An Journalisten, Oppositionelle usw. Wofür wird gestorben, wenn nicht nach langem Leben an Herzversagen?

 Regina äußerte darauf am 01.05.20:
Die ursprüngliche Antwort wurde am 01.05.2020 um 19:20 Uhr wieder zurückgezogen.

 Graeculus ergänzte dazu am 01.05.20:
Journalisten und Oppositionelle, die ihren Arsch riskieren, um etwas an den schrecklichen Lebensumständen anderer Menschen zu ändern?
Ja!, das ist ein Sterben für einen Wert, für etwas, das höher steht als das eigene Leben. Ein sehr gutes Beispiel.

Wofür stirbt man eigentlich ... falls man sich das aussuchen kann?

 AvaLiam (01.05.20)
Ich denke, das liegt auch ein wenig in der Zeit selbst, in der wir leben. Eine Zeit, in der Sicherheitsdenken und entsprechende Vorkehrungen vor allem junge Generationen weniger wagen lässt und auch weniger von ihnen erwartet.
Erfahrungswerte spielen sicher auch mit. Wo früher Menschen sich noch mutig und OHNE NACHZUDENKEN in eine Schlägerei hineingeworfen haben - beispielsweise - so sind wir heute bedachter auf das mögliche Ergebnis. Es ist nicht so, dass uns unser Leben wichtiger ist - nur das Abwägen bremst uns aus. Wenn erfahrungsgemäß der Schaden in keinem Verhältnis zum Nutzen steht, dann lassen wir es meist. Das sollte man bei der Betrachtung auch nicht außer Acht lassen.
Grundsätzlich kann ich schon beobachten, dass im Falle eines Falles Menschen sehr wohl bereit sind, ihr eigenes Leben für andere einzusetzen.
Erst am 24.04. diesen Jahres hat ein Freund von mir sein eigenes Leben riskiert, um das Fluchtauto eines Banküberfalls/Anschlags auf einen Geldautomaten in Schach zu halten bis zum Eintreffen der Polizei.
Ganz gezielt ist er mit seinem Auto in das Fluchtfahrzeug gefahren, um es größtmöglich zu schädigen. Da gab es keinen zögerlichen Moment, Bedauern ums eigene Auto oder gar Angst ums eigene Leben.
Und ich selbst habe auch schon so gehandelt, wie ich auch noch weitere "Heldentaten" dieser Art anführen könnte aus meinem Freundes- und Familienkreis.
Natürlich ist es auch ein Stück weit Erziehungssache. Was lebe ich meinen Kindern vor? Welche Werte vermittle ich ihnen?
Ziehe ich sie zu übermütigen Individuen heran, die sich furchtlos durchs Leben bewegen oder zu feigen Zuschauern, die noch nicht einmal den Notruf wählen können, wenn ein Unfall passiert, weil sie einfach wie gelähmt sind.
Dazwischen ist sehr viel Platz und als Elternteil, Betreuer oder Lehrer habe ich großen Einfluss auf genau diese Entwicklung.

Interessant und wichtig finde ich deine Frage als Anstoß zur Betrachtung hinsichtlich des Idealismus.

Über den Sinn des Lebens können wir jetzt gern streiten. Manch einer muss sich 70 Jahre quälen, um genau an den Punkt zu kommen, wo das Leben für ihn lebenswert wird. Heißt das nun, dass 70 Jahre umsonst waren? Ist es nicht vielmehr SEIN Weg?

Das Leben ist aus meiner Sicht immer lebenswert, wenn wir am Ende mit einem Lächeln einschlafen und einer der letzten Gedanken ist: "Das war es wert."

Ja, Regina hat schon Recht. Ein nachdenklich machender Text.
Am Tag der Arbeit gar keine schlechte Idee. War für viele das Leben doch nur Arbeit und die Arbeit das Leben. Ein philosophischer Tag heute.
Möge er wohlgesonnen sein und schöne Momente schenken.

liebe Grüße - Ava

Kommentar geändert am 01.05.2020 um 09:13 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Was Du über den Freund schreibst, beeindruckt mich. Er hat sein Leben riskiert! Vermutlich hat er in diesem Moment gar nicht mal überlegt, sondern instinktiv gehandelt. Kann man dennoch ergründen, warum er es getan hat? Welche Wertvorstellung hat ihn dabei geleitet?
Es ging ja, wie ich die Schilderung verstehe, nicht um die Rettung von Menschenleben, sondern um die Verhinderung des Erfolgs einer Straftat. Gerechtigkeitsliebe?

In meiner Heimatstadt ist einmal der Fall vorgekommen, daß ein Mann eine junge Frau mit dem Messer gezwungen hat, mit ihm in der Straßenbahn zu fahren - bis in die Nähe eines Wäldchens, wo sie ausgestiegen sind und er sie vergewaltigt hat. In der Zeitung wurde ausdrücklich hervorgehoben, daß die Fahrgäste der gut besetzten Straßenbahn das teils gar nicht zur Kenntnis genommen, teils dennoch nichts unternommen haben, um der Frau zu helfen.

Was hättest du getan?, habe ich mich damals gefragt. Ich weiß es nicht. Ich hätte ja nicht nur mein Leben riskiert, sondern auch das der Frau.

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Ach so: Herzlichen Gruß, Graeculus

 AvaLiam meinte dazu am 02.05.20:
Guten Tag

Dein aufgegriffenes Beispiel - man möge es sich nicht vorstellen wollen - hat natürlich den berechtigten Einwand: ...nicht nur mein Leben riskiert, sondern auch das der Frau.

Da sind wir beim Nachdenken und Erfahrungswerte, Aufklärung und Wertevermittlung. So böse sich das liest (hat jetzt nichts mit deinem Beispiel zu tun): Manchmal muss man eine handvoll Leben opfern, um 1000 Menschen retten zu können.
Auch dazu hält die Geschichte zahlreiche Beispiele bereit.
Gut, dass ich darin nie den Richter spielen muss.

Mein Bekannter ist einfach eine gute Seele. Er ist unheimlich hilfsbereit, denkt dabei nie an sich selbst, springt immer ein wenn Not am Manne ist...er ist einfach so. Und in dieser beschriebenen Situation ging es ihm ausschließlich um das Aufhalten des Fluchtwagens. Genauso wie er dem Wagen hinterher fuhr und die Polizei auf dem Laufenden hielt.
So konnte der Täter dann ja auch gestellt werden.

Ob es nun mutig oder dumm war, soll jeder für sich selbst interpretieren. Manche Menschen nehmen sich selbst nicht so wichtig und leben und sterben für das Wohlergehen und den Erhalt von Gemeinschaft. Nach wie vor.

lG - Ava

 Graeculus meinte dazu am 02.05.20:
Was der Freund da gemacht hat, erscheint mir mutig - mehr möchte ich es nicht bewerten. Dumm wäre es nur, wenn man es dumm findet, sein Leben zu riskieren. Das mag vieles sein, aber dumm ist es nicht.
Und es ist selten, meine ich - sogar: seltener geworden.
Es gibt bei uns kein Erziehungssystem mehr, das soetwas fördert.
Ich glaube, nichtmal die Polizei empfiehlt ein derartiges Verhalten, auch wenn es ihr in diesem Falle zugute kam; in anderen Fällen, in denen die Täter skrupellos und bewaffnet sind, geht es anders aus.

Herzlichen Gruß
Graeculus

P.S.: Es hat mich gefreut, von diesem Fall zu lesen!
Cora (29)
(01.05.20)
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 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Es handelt sich, wie Du mich mit Recht zitierst, um eine Annahme meinerseits. Diese beinhaltet nicht, daß alle Menschen früher so gedacht haben - das wäre Quatsch. Ich meine nur, daß es erheblich mehr waren als heute.
Meine Umfrage beschränkte sich auf Schüler der gymnasialen Oberstufe eines Gymnasiums. Auch das ist alles andere als eine repräsentative Umfrage.

Wie komme ich zu meiner Vermutung?

- Die Jahresangaben von 50, 100 und 150 sollen die frühe Bundesrepublik, das III. und das II. Reich bezeichnen. Das ist meine eigene Generation (als junger Mann), die meiner Eltern (Generation des II. Weltkriegs) und die meiner Großeltern (Generation des I. Weltkriegs). Sie alle habe ich kennengelernt und mich mit ihnen unterhalten können.

- Die Kriegsbegeisterung im I. und II. Weltkrieg (das Sterben für Kaiser, Vaterland, Volk und Führer) war nicht durchweg vorhanden, und sie nahm im Laufe des Krieges ab. Sie war aber auch kein reines Propagandaphänomen (so wie Langemarck es, zugegeben, war). Es gab zahlreiche Soldaten, die an den Sinn ihres Tuns geglaubt haben - übrigens nicht nur auf deutscher Seite; am wenigsten wohl noch in den Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn, Rußland und Osmanisches Reich). Es gab zahlreiche Soldaten, die Tapferkeitsauszeichnungen erhalten haben, die man nicht für nichts bekam. Mein Großvater mütterlicherseits z.B. trug das EK II und EK I. Träger des Ritterkreuzes oder des Pour le merite galten als Helden ... und wurden von vielen Frauen auch so angesehen (was junge Männer sehr motiviert).

- Der wichtigste Transmissionsriemen zur Erzeugung einer Begeisterung für Opfermut und Werte war die Erziehung, vor allem in der Schule. Zwar bin ich weit entfernt von der Annahme, daß Schüler die ihnen von Lehrern vermittelten Ideale 1 : 1 übernehmen, aber ein Teil der Schüler tut das. Unsere Lehrer heute erziehen nicht mehr zum Sterben für Werte, und auch damit hängt es wohl zusammen, daß fast kein Schüler mehr an sowas glaubt. Die Lehrer des II. und III. Reiches haben das sehr wohl getan, im staatlichen Auftrag.

- Daß das funktioniert (wohlgemerkt: bei einem Teil der jungen Leute), kann man an dem in islamischen Ländern verbreiteten Märtyrerkult - bis hin zu Selbstmordattentätern - sehen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß in solchen Ländern auch heute noch die Bereitschaft, für Gott und den wahren Glauben sein Leben zu opfern, viel verbreiteter ist als bei uns.

Das ist es, was ich dazu sagen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei herauskommen soll ein Denkanstoß. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Cora (29) meinte dazu am 01.05.20:
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 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
"Das Leben ist der Güter höchstes nicht", sagte Schiller. Ist uns das so fremd geworden? Möchtest Du unter allen Umständen weiterleben?

Der Selbsterhaltungstrieb ist ja nun nicht unser einziger Trieb; schon der Arterhaltungstrieb veranlaßt viele Lebewesen, ihr Leben für den Nachwuchs zu opfern.
Dabei plädiere ich nicht für jene Spinnenmännchen, die nach der Begattung vom Weibchen aufgefressen werden. Dennoch: was für ein Opfer!

Ich persönlich möchte auch nicht, wie Kaiser Valerian nach seiner Niederlage gegen die Parther, in einem goldenen Käfig herumgefahren werden, nur herausgelassen, um dem Sieger beim Besteigen seines Pferdes als Fußschemel zu dienen.
Nein, das möchte ich nicht.
Cora (29) meinte dazu am 01.05.20:
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 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Stimmt, die Spinnenmännchen machen das nicht aus eigenem Antrieb. Und da sie es - nehmen wir an - vorher nichtmal wissen, kann man nicht von einem Opfer sprechen.

Andererseits kann ich mir - auch ohne derzeit in einer solchen Situation zu stecken - eine ganze Menge Umstände vorstellen, unter denen ich nicht mehr leben möchte. Ich lese etwas, z.B. wie kürzlich die Geschichte des Kaisers Valerian, und spüre sofort: nein, mit mir nicht.
Auch wenn ich die Berichte von Schalamow oder Solschenizyn über den GULag lese.
Einmal habe ich eine KL-Gedenkstätte besucht, und der Führer hat erzählt, wie die Häftlinge alle an Ruhr litten, aber nur zu ganz bestimmten Zeiten und nur ganz kurz die Arbeit unterbrechen durften, um aufs Klo zu gehen. Ein völlig verdrecktes Klo natürlich.
Du verstehst, was ich meine?

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Bist Du eigentlich mit meiner Erklärung, wie ich zu meiner Ansicht gelangt bin, zufrieden? Du hast Dich gar nicht mehr dazu geäußert - ungewöhnlicherweise für Dich, wenn ich das recht sehe.
Cora (29) meinte dazu am 02.05.20:
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 Graeculus meinte dazu am 02.05.20:
O nein bzw. o ja! zur Bewertung dieser Opferbereitschaft wäre noch viel zu überlegen - auch ich halte sie nicht in jedem Falle für positiv, zumal sie ja auch durch eine knallharte psychische Manupulation erzeugt werden kann: wie bei islamistischen Selbstmordattentätern, japanischen Kamikaze-Piloten oder im Erziehungssystem des III. Reiches.

Mir geht es hier in erster Linie um den Standpunkt, daß sie bei uns in Deutschland (und sicher auch in etlichen anderen Ländern) abgenommen hat.
Und: daß das Leben (das Leben um jeden Preis) nicht der höchste Wert ist.

Wie ich mich in verschiedenen Konfliktsituationen verhielte, weiß ich nicht. Meine Vermutungen darüber sind eine sehr persönliche Sache und für eine öffentliche Diskussion nicht geeignet, weil zu indiskret. Deshalb frage ich Dich auch nicht danach.

 Graeculus meinte dazu am 02.05.20:
P.S.:
Die von mir angeführten Beispiele sind solche, in denen klarerweise Menschen zu Opfern gemacht wurden; das hatte mit Freiwilligkeit nichts zu tun.
Ich habe sie nur zur Charakterisierung von Umständen genannt, unter denen ich nicht leben möchte, weil für mich das Leben um jeden Preis kein Wert ist.
Du magst einwenden, daß ich mich vielleicht, sollte der Fall tatsächlich eintreten, doch anders verhielte; aber ich kann es mir bei mir nicht vorstellen.

 Bluebird (01.05.20)
Eine Illustration zur Schlussbemerkung des Essays:   Im Angesicht des Todes

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Oh, bitte kein YouTube. Google, Facebook, Amazon scheue ich wie der Teufel das ... was war es noch? Ich glaube, das Weihwasser.
Wenn Du ein Argument oder dergleichen hast, kannst Du mir das lieber kurz formulieren.

 Bluebird meinte dazu am 01.05.20:
Lieber Graeculus,
habe ich an irgendeiner Stelle dich direkt angesprochen? Nein, ich habe deinen Text kommentiert ... im Übrigen ein sehr inspirierender Videoclip, womit der ein oder andere Mitleser vielleicht etwas anfangen kann

Antwort geändert am 01.05.2020 um 22:56 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Nun, Du mußt in der Tat damit rechnen, daß ich mich bei einem Kommentar unter meinem Text angesprochen fühle. Und meine Einstellung zu YouTube konntest Du schließlich nicht ahnen.
(Nichtmal meine Frau versteht diese meine tiefe Abneigung.)

Aber wenn's anderen Lesern - Verzeihung: Leserinnen und Lesern etwas bringt ...

By the way: Wußtest Du, daß - gendersprachlich - die Römerinnen und Römer die Christinnen und Christen den Löwinnen und Löwen zum Fraß vorgeworfen haben?

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Soll ich meine Texte jetzt zur missionsfreien Zone erklären? Nein. Mach ruhig.

 EkkehartMittelberg (01.05.20)
hallo Graeculus, richtig ist, dass ein Teil der Bevölkerung bereit war, für die von dir erwähnten verklärten Begriffe zu sterben. Wahrscheinlich trifft aber auch Coras Vermutung zu, dass eine Minderheit in der Verklärung Propaganda sah. !955 sollte ich mich in einem Schuaufsatz mit den Begriffen Staat und Vaterland auseinandersetzen. Ich beschrieb mit den sprachlichen Mitteln eines Sechzehnjährigen, welcher Missbrauch mit dem Vaterlandsbegriff im Wilhelminismus und im Dritten Reich getrieben worden sei und forderte, dass er in die Mottenkiste gehöre und durch einen neutralen Begriff wie Staat ersetzt werde. Mein damaliger Deutschlehrer schrieb dick "sehr gut" an den Rand. Ich vermute, dass schon in der Adenauere-Zeit eine kritische Überprüfung propagandistischer Sprachhülsen in den Schulen einsetzte.
Heute frage ich mich manchmal, ob wir damals in der Abkehr vom Nationalsozialismus das kritische dialektische Denken verlernt haben. Es wurde nämlich überhaupt nicht gefragt, warum zum Beispiel der Begriff Vaterland über Jahrhunderte hinweg nahezu unbezweifelt übernommen wurde. Der Mensch lebt nicht von Aufklärung allein. Die riesige emotionale Lücke, die verkürzende Vergangenheitsbewältigung hinterlassen hat, besetzen heute Populisten und schlagen daraus Kapital.
Ich finde es gut, dass du eine Reflexion belebst, die permanent stattfinden muss.

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Das sind interessante Erinnerungen, die Du da schilderst. Deine Lehrer und auch noch die meisten meiner Lehrer hatten ihre Prägung ja im III. Reich erhalten. Da war es nicht selbstverständlich, daß Dein Deutschlehrer ein "sehr gut" an den Rand Deiner kritischen Überlegungen geschrieben hat.
Andererseit haben zumindest Teile unserer Generation (wenn ich das mal so zusammenfassen darf) ja noch an andere Werte geglaubt, für die sie ihr Leben oder zumindest ihre berufliche Existenz aufs Spiel gesetzt haben ("Berufsverbot") - also etwa die Ideale, für die der Sozialismus stand.

Heute sehe ich da fast gar nichts mehr. Oder liegt das an meinem Blick? AvaLiams Beitrag macht mich nachdenklich.
Jedenfalls kämpft die FFF-Bewegung für ihre eigene Perspektive. Sie riskieren nicht etwas, gar ihr Leben, für die Rettung der Tierwelt.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 01.05.20:
Ich denke schon, dass junge Menschen bis etwas Mitte der Siebzigere Jahre mehr für ihre Ideale riskierten. Aber vielleicht trübt der Blick auf eigenes Engagement damls das Verständnis für Opfer, die auch heute noch erbracht werden.

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Darin sind wir uns einig: wir sehen es nicht, aber das mag an unserem Blick liegen. Alte Leute sind ja selten der Ansicht, etwas sei heute besser als früher - auch wenn Du und ich sicher keine extremen Vertreter dieses Alterspessimismus' sind.

 eiskimo (01.05.20)
Individualismus, privates Glück und maximale Selbstverwirklichung haben heute, so denke ich, einen viel höheren Stellenwert als vor 100 Jahren. Entsprechend abwegig ist der Opfergedanke geworden, egal für welche Sache.
Nicht mal zur Organspende sind viele noch bereit....

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Die Organspende, die ja nichtmal das Leben kostet, ist kein schlechtes Beispiel.
Was es noch gibt - wenngleich, wie ich höre, abnehmend -, ist das Geldspenden ... die wohl distanzierteste Form des Opfergeistes.

 eiskimo meinte dazu am 01.05.20:
Das hast du trefflich ausgedrückt, mit dem distanziert.
In einem System, das das Haben-Wollen zur zentralen Botschaft erkoren hat, ist Geben-Können nicht opportun.

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Von Herzen etwas geben, opfern können - und sei es das eigene Leben. Können nicht einmal mehr Mütter das?

 eiskimo meinte dazu am 02.05.20:
Es gibt sicher Extremsituationen, wo Mütter (und warum nicht auch Väter?) ihr Leben hergeben für ihr Kind. Ich denke da an die Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa wollen.
Gott sei Dank habe ich aber keine unmittelbare Erfahrung mit derartigen Entweder-Oder-Konflikten.

 Graeculus meinte dazu am 02.05.20:
Jetzt vermute ich einmal: Es braucht eine veritable Notlage, um die Menschen zu scheiden - die einen kämpfen nur um sich, während die anderen ihre Opferbereitschaft entdecken für Menschen, die sie lieben.
Das heißt nicht, daß man sich eine solche Ptüfung herbeiwünscht.

Danke für Deine Kommentare.

 Artname (01.05.20)
Mein erster Impuls beim Lesen ähnelte Coras Kommentar: Die Anonymität des Internet prägt unser modernes Meinungsbild. Vermutlich besonders das der jungen Menschen, denen es noch an (bitteren) Erfahrungen mangelt.

Die persönlichen Kontakte mit Freunden verlaufen zudem meistens anders als im Netz. Reale Freundschaft wählt und pflegt man viel sorgfältiger... und vorsichtiger.... oder gar umsichtiger?

Man vergleiche mal die (scheinbar) vielen Stimmen im Netz gegen die offizielle Corona- Politik mit der Zahl realer Demonstranten.

So gesehen... warum sollten gerade in diesem Forum lauter mutige Kämpfer schreiben und kommentieren? :D

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Als ich damals meine Umfrage durchgeführt habe, spielte das Internet noch keine so große Rolle - vor allem gab es noch keine Smartphones und keine sozialen Netzwerke. Es wäre interessant, ob sich dadurch irgendetwas in Bezug auf meine Frage geändert hat. Heute kann ich keine Umfragen bei Schülern mehr machen.

Aber in der FFF-Bewegung kämpfen junge Leute, ohne bei den Demonstrationen ihr Leben zu gefährden, für ihre eigene Zukunft, also nicht selbstlos für die anderer.

 Artname meinte dazu am 01.05.20:
Aber in der FFF-Bewegung kämpfen junge Leute, ohne bei den Demonstrationen ihr Leben zu gefährden, für ihre eigene Zukunft, also nicht selbstlos für die anderer.

Hm... falls man anerkennt, dass der Klimawandel menschengemacht ist, käme Widerstand doch letztlich allen zu Gute. Und außerdem noch der Umkehrschluss: Ist die Ablehnung der Alten, die meist darauf verweist, dass sie eh nicht mehr lange vom Wandel betroffen seien, nicht noch viel schamloser egoistosch?

Ansonsten braucht man doch keine Umfragen, um den unbarmherzigen Tonfall Jugendlicher im Netz bewerten zu können. Ich selber bin in vielen Hiphop-Kanälen unterwegs. Ist schon faszinierend, wie cool die jungen Fans verbale Gewalt als künstlerische Freiheit interpretieren... Aber ist das in den Fussballarenen besser?

Ich richte nicht über Generationen. Eher darüber, wie dumm und blind wir für eigene bipolare Anlagen sind, wenn wir Schuldige suchen.

Ich fürchte zudem, mich nicht wesentlich von den Anderen zu unterscheiden, wenn ich entsprechend unter Druck stehe...

Antwort geändert am 01.05.2020 um 20:13 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Auch ich möchte nicht über eine Generation urteilen - obwohl meine Gedanken manchmal so klingen. Eigentlich möchte ich nur etwas feststellen - im Grunde: verstehen.
Dabei bin ich mir aber bewußt, daß dies nicht mehr meine Generation ist.
Aber was mich angeht – mein Leben liegt hinter mir; viderint iuvenes, d.h. jetzt sind die Jungen dran.

(Cicero: ad Att. XIV 21,3)

 Artname meinte dazu am 01.05.20:
Lieber Graeculus, ich lese deine Texte immer gern! Außerdem sind wir im Prinzip eine Altersgruppe. Natürlich kann ich deinen Text als Altersgenossen AUCH verstehen!

Aber Alter schützt vor Torheit nicht! :D

lg

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Ah ja, 1952 - das paßt in etwa. Obgleich Du es da nicht ganz so leicht hast wie ich, der ich mir mein Alter ganz leicht merken kann: so alt wie die Bundesrepublik.
Du müßtest Dir dann schon einprägen: so alt wie die Stalin-Note. Oder was 1952 sonst noch so loswar.

Nein, Alter schützt vor Torheit nicht ... und auch nicht vor ciceronischer Müdigkeit.

 Augustus (01.05.20)
Die Selbstmordrate bleibt i.d.R. im Durchschnitt gleich hoch. Früher, also 1975 gab es in Deutschland ca. 19.000 Selbtmorde. Im Vergleich zu den anderen Jahren eine hohe Zahl. 2017 nur noch ca. 10.000.

Weltweit verzeichnet Russland die höchsten Selbtmorde im Jahr 2017 ca. 27.000, davon der Großteil Männer seien. Grundsätzlich töten sich in jedem Land immer mehr Männer als Frauen. Eine Ausnahme bildet China. In China ist die Zahl der Selbstmorde bei Frauen höher als bei Männern.

Selbstmorde sind oft ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Ave

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Und vor allem zeigen ein Suizid bzw. ein ernsthafter Suizidversuch, daß jemandem etwas anderes wichtiger ist als das eigene Leben. Das kann die Schmerzfreiheit sein, oder - wie bei dem Schweizer Arnold Winkelried - die Freiheit der Heimat. "Wollt's meinem Weib und Kind gedenken!" rief er und lenkte die Speere der Österreicher auf seine Brust, so eine Bresche in die Reihe der Feinde schlagend.

 Augustus meinte dazu am 01.05.20:
Knüpft man den Willen eines Menschen ans Leben, so heißt es Lebenswille. Die Entscheidung aus dem Leben gehen zu wollen, benötigt eben einen Willen. Ein willenloser Mensch wird nicht sterben. Nur einer, der entscheidet, er wolle sterben, kann aus eigenem Willen sterben. Aber da der Wille als Voraussetzung zum Leben an das Leben knüpft, so ist der Wille zum Sterben im Grunde ein Wille zum Leben wollen - aber nicht können.

Ave

Antwort geändert am 01.05.2020 um 20:25 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Nur ein Lebender kann wollen. Aber dieser Wille kann sich gegen das Leben richten, eben nicht mehr wollen wollen.
Ob das zugleich ein Nicht-Können ist, hängt m.E. von den Umständen oder der Perspektive ab. In manchen Fällen ist es jedenfalls nichtmal mehr mit irgendeinem Wunsch verbunden, es möchte doch irgendwie anders sein.
Den Tod des Sokrates verstehe ich so - gemäß seinem letzten, von Platon überlieferten Wort (Du weißt schon: "Denkt daran, daß wir dem Asklepios einen Hahn schulden" usw.), was ja heißt: Das Leben ist die Krankheit, der Tod ihre Heilung.
Oder wie Nicolas Chamfort es formuliert hat:
Leben ist eine Krankheit, von der der Schlaf alle sechzehn Stunden einmal befreit. Es ist nur ein Palliativ, der Tod ist das Heilmittel.
Da ist nichts mehr von: O wäre es doch anders, aber ich kann nicht mehr.

 Teichhüpfer (01.05.20)
Wenn wir einen hoch kriegen, geht es doch, oder?

 Graeculus meinte dazu am 01.05.20:
Vor allem kann ich [sc. Sokrates] mich berufen auf den Dichter Sophokles. Ich war nämlich einst Zeuge, wie er von jemand gefragt wurde: „Wie, Sophokles, steht es mit dir in Hinsicht auf die Liebesfreuden (ἀφροδίσια)? Bist du noch imstande einem Weibe beizuwohnen?“ „Wahre deine Zunge“, erwiderte er, „mein Bester. War es mir doch die größte Wohltat davon loszukommen, als wäre ich einen rasenden und wilden Herrn losgeworden.“ Das schien mir schon damals ein treffendes Wort und jetzt erst recht.
(Platon: Politeia 329b-d)

 Teichhüpfer meinte dazu am 02.05.20:
Das Loslassen ...

 Graeculus meinte dazu am 02.05.20:
Genau. Darin besteht die Kunst.

 Teichhüpfer meinte dazu am 02.05.20:
Yo.

 Graeculus meinte dazu am 02.05.20:
Dann sind wir uns einig.

 Teichhüpfer meinte dazu am 03.05.20:
Einen braucht man mindestens.

 Graeculus meinte dazu am 03.05.20:
Einen, der hochkommt ... wenigstens aus dem Bett.

 Teichhüpfer meinte dazu am 04.05.20:
Schlafe und lebe wie Du willst.

 Graeculus meinte dazu am 04.05.20:
Ein guter Grundsatz. Daran halte ich mich.
"This above all: to thine own self be true."

 Teichhüpfer meinte dazu am 04.05.20:
Das ist schön gesagt, sag das mal einer Frau, Du kannst machen, was Du willst

 Graeculus meinte dazu am 04.05.20:
Weißt Du, was wir hier tun, lieber Teichhüpfer? Wir unterhalten uns richtig. Das haben wir noch nie getan, in Jahren noch nicht.

 Teichhüpfer meinte dazu am 05.05.20:
Yo, ich bin ganz allein.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.20:
Wir alle. Manche mehr, andere weniger. Manche manchmal, manche immer. Es hilft, sich selbst nicht so tragisch zu sehen. Aber das tust Du wohl auch nicht.

 Terminator (04.05.20)
Der vitale Mensch stirbt sakrifiziell, der dekadente viktim.

 Graeculus meinte dazu am 04.05.20:
Du haust uns da ein Statement um die Ohren.

"Dekadente sterben viktim" - wie wäre das als Tafel (nebst Übersetzung) über einem Konzentrationslager, einem Waisenhaus, einem Frauenhaus oder einer Krebsstation?

 Terminator meinte dazu am 05.05.20:
Waisenhaus zu Oliver Twists Lebzeiten passt, aber Frauenhaus mit einem Konzentrationslager und einer Krebsstation gezusammengemeinsamt, das klingt nach ultradekadenter victim mentality.

Viele sind im KZ sakrifiziell gestorben, Viktor Frankl hat sakrifiziell überlebt. Und man muss nicht gleich ein Walter White werden, um sakrifiziell anstatt viktim an Krebs zu sterben.

Im KZ können sie einen langsam töten, aber sie können einem den Willen nicht von sakrifiziell auf viktim umschalten, das ist immer eine eigene Entscheidung. Man kann sich aber auch für den Tod entscheiden und seine wenigen Brotkrümmel für eine letzte Zigarette tauschen. Die Dichotomie sakrifiziell/viktim ist als innere Haltung gemeint, nicht behavioristisch.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.20:
Daß das auf den Willen bezogen ist, habe ich mir schon gedacht.
Dennoch komme ich nicht klar mit Deiner Deutung eines Zusammenhangs zwischen Dekadenz und Opfer(haltung). Was war dann Caligula, was Domitian? (beides übrigens Figuren, die auch literarisch gedeutet worden sind)
Was ist mit Alexander dem Großen? War der nicht vital?

Nein, die Dichtomie ist mir zu schematisch.

 Teichhüpfer meinte dazu am 05.05.20:
Tragik ist zum Beispiel, wenn ein Turtor ums Leben kommt.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.20:
Hm. Was ist ein Turtor?

 Teichhüpfer meinte dazu am 05.05.20:
Klassenlehrer

 Graeculus meinte dazu am 06.05.20:
Ah, Du meinst Tutor. Verstehe.

 Graeculus meinte dazu am 06.05.20:
Der Tutor in der Oberstufe.

 Teichhüpfer meinte dazu am 06.05.20:
Yo
ne, Gesamtschule.

Antwort geändert am 06.05.2020 um 05:02 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 06.05.20:
Gesamtschule. In Schleswig-Holstein, meerumschlungen?

 Teichhüpfer meinte dazu am 06.05.20:
:-)

 Graeculus meinte dazu am 07.05.20:
Dann bis Du Wind und Gegenwind gewohnt.

 Teichhüpfer meinte dazu am 07.05.20:
Immer dagegen bringt nix

 Graeculus meinte dazu am 07.05.20:
Deshalb bin ich total gegen das Immer-dagegen-Sein.
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