Kreide gefressen

Fabel zum Thema Betrachtung

von  EkkehartMittelberg

Der Löwe war in die Jahre gekommen und hatte seine Zähne verloren. Er streifte sich eine Mönchskutte über und predigte die Tugend des Verzichts. Eine Antilope, die das aus noch immer respektvoller Entfernung sah, rief ihm zu: „Ich traue dir nicht, du hast Kreide gefressen.“ Ein  kräftiger Leopard, der sich unbemerkt angeschlichen hatte, kommentierte dies so: „Da hast du recht, schöne Antilope, „die Tugend ist die Schwester der Krankheit“ ¹ und er packte sich die Antilope.
 
1) Aphorismus des französichen Moralisten La Rochefoucault (1613-1680)

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Kommentare zu diesem Text


 ViktorVanHynthersin (08.05.20)
Lieber Ekki,
"Die Prämisse des Werte- und Entwicklungsquadrats von Schulz von Thun lautet: Jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jede menschliche Qualität) könne nur dann seine volle konstruktive Wirkung entfalten, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer “Schwesterntugend” befinde." heißt es bei Wikipedia.
So gesehen ist und bleibt diese Fabel spannend.
Herzlichst
Viktor

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.20:
Merci, Viktor. La Rochefoucault hat bestimmt nicht gedacht, dass er wissenschaftlich bestätigt würde. :)
Herzlichst
Ekki

 TassoTuwas (08.05.20)
Lieber Freund,
Moralisten neigen manchmal zu merkwürdigen Vergleichen!
Ich würde eher meinen, die Tugend ist oft eine Verwandte der Angst
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 08.05.20:
Hallo Tasso, du hättest mit La Rochefoucault gut harmoniert. Am Anfang steht tatsächlich die Krankheit, zum Beispiel der Raucherhusten. Weil man davor Angst hat, unterlässt man das Rauchen. So ist die Tugend die Schwester der Krankheit und der Angst.
Herzliche Grüße
Ekki
Jo-W. (83)
(08.05.20)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 08.05.20:
Vielen Dank, mein Freund. Die Natur geht sehr grausam mit sich um. Deshalb haben wir Grund, Ausgleich zu schaffen und lieb zu ihr zu sein.
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (08.05.20)
Vor Predigern sollte man Reißaus nehmen.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 08.05.20:
Ja, vor allem rechtzeitig. Merci.

 Graeculus (08.05.20)
Man muß eben nach allen Seiten vorsichtig sein.
Rochefoucault, Chamfort & Co. mal wieder ins Gespräch zu brigen bzw. in eine eigene Geschichte einzubauen, ist ein guter Einfall.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 08.05.20:
Gracias, ich habe viel von den französischen Moralisten gelernt, besonders, was die Kehrseite der Tugenden betrifft.
Al-Badri_Sigrun (61)
(08.05.20)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.05.20:
Vielen Dank, Sigi. Ja, der löwe ist aus der Not der Altersschwäche tugendhaft geworden. Das meint La Rochefoucault mit Krankheit.
Du hast die Fabel genau in meinem Sinne interpretiert.
Herzliche Grüße und auch dir ein heiteres Wochenende
Ekki

 AvaLiam (11.05.20)
Jenseits der Aufrichtigkeit jener vom Löwen erlangten Tugend suche ich mich selbst in dieser Fabel und in welcher Rolle ich wohl meine Tugend fände.
Ich glaube und fürchte, mich in jeder Figur zu entdecken.

Interessant finde ich den Wirkungskreis meiner eigenen Gedanken, die, durch deine Fabel angestoßen, augenblicklich sehr perspektivisch ihre Schleifen ziehen.

So nehme man heran, dass Fressen und Gefressen werden auf der Welt nun einmal so läuft. Man möge nun dem Leopard keine böse Rolle anhängen, da er nur seine natürliche Nahrungskette bedient und das tut, was er eben tun muss.
Und so spinnt sich für mich deine Fabel weiter...
Vielleicht lädt der Leopard den Löwen zum Mahl ein und überlässt ihm das für ihn Mögliche.
Das wäre doch dann auch eine Form von Tugend - dem Löwen gegenüber. Und DIESE dann gar aufrichtig und frei entschieden.

Man könne nun auch die Rolle der Antilope näher betrachten. Im ersten Augenblick schreiben wir ihr die des Opfers zu. Ganz klar. Sie muss sterben, weil der Löwe seinen Verzicht erklärt und währenddessen ruft sich ein weiteres Raubtier auf den Plan. Voll bezahnt. Arme Antilope.

Aber mal ehrlich... Jetzt stelle man sich vor: da ist so eine hübsche, zarte Antilope und springt vor diesem, unter Verzicht lebenden Löwen herum. Geht auch noch ins Gespräch mit ihm und verführt nun auch noch den Leoparden durch ihr Kokettieren. Die brauch sich gar nicht wundern.
Wenn ich hungrig bin und mir tänzelt die ganze Zeit das Essen vor der Nase herum, würde ich auch zum Raubtier werden!

Wo liegt nun die wahre Tugend? Und wie wahr ist die ursprüngliche Aussage?

Die Antilope jedenfalls wird uns das nicht mehr beantworten können.

Philosophierende Grüße - Ava

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.05.20:
Grazie, Andrea, ich staune immer wieder über die Fantanie, mit der du die semantischen Nischen eiern Erzählung auszufüllen verstehst. Wer eine solche Kommentatorin hat, dem macht es große Freude sich etwas auszudenken.
Hedonistische Grüße
Ekki
Sin (55) meinte dazu am 11.05.20:
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 AvaLiam meinte dazu am 12.05.20:
Pssscccchhhht!!

Wenn das noch jemand liest!
Nachher glaubt der das noch.
Nicht auszudenken, welch Erwartungshaltung ich dann enttäuschen müsste.

Aber schön, wenn ihr Spaß und Freude habt an den Kommentaren.

Ich hab ja auch Freude an euren Texten. :-D

schlaft gut - ihr beiden... bis zum nächsten Statement

eure Andrea

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.20:
Grazie, Andrea, Sin's Staunen ist der Anfang der Weisheit und ich werde sie dank deiner Kommentare mir hoffentlich noch eine Zeitlang erhalten können.
Herzliche Grüße
Ekki

Antwort geändert am 12.05.2020 um 01:08 Uhr

 AZU20 (11.05.20)
Sie Moralisten wussten halt, wo's langgeht. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.05.20:
Danke, Armin, wir können von ihnen lernen, wenn es um die Kehrseite der Tugenden geht.
LG
Ekki
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