Schach im Stadtpark

Skizze zum Thema Beobachtungen

von  Jedermann

„Aber das ist ja furchtbar. Kann ich aufgeben.“ Herr Sch., leicht gebeugt, macht laut mit sich selbst sprechend seinen nächsten Zug. Auf den Zug des Gegners: „Ach das geht ja auch noch, das ist ja furchtbar.“ Grinsend, Kommentar vom Rand: „Tja, so steht's im Buch.“ Der Kommentator trägt eine Brille mit starken Gläsern. Er spielt nur sehr selten am großen Brett. Den lakonischen Beitrag in Berlinerisch „Tja, so steht's im Buch, wa.“ bekommt immer der gratis, der das Nachsehen hat, entweder durch seinen schlechten Zug oder eine gute Kombination des Gegners.
Schach im Stadtpark. Um die zwei 5 x 5 m großen Spielflächen ist Betrieb. Bänke und Stühle sind mit Zuschauern belegt. An warmen Tagen tummeln sich schon mal 20 bis 30 Spieler in der Schachecke. Durchschnittsalter 70, würde ich behaupten. Da gibt es die, die nicht genug kriegen können, spielen selbst noch im Dämmerlicht. Dann sind da die Passiven, selten mal am Brett zu sehen.
R. zum Beispiel, ist schwer zu schätzen im Alter, vielleicht um die 50, vielleicht etwas älter, hat weißes gelocktes Haar und ihm fehlen einige Frontzähne im Unterkiefer. Gelegentlich verschwindet er mit seinem Rucksack. Nach seiner Rückkehr hat sich seine Alkoholfahne verstärkt. Wenn er dann doch einmal spielt, egal wie oft er um die Ecke verschwand, verliert er keine Partie. Auf die Frage, woher er kommt, antwortet er nicht direkt. Er verneint nur bei Nachfrage eines bestimmten Landes. Seine Aussprache des Deutschen lässt den Italiener oder Spanier vermuten. War bestimmt mal ein hübscher Kerl, dem die Mädchen nachschauten oder nachtrauerten. R. kann die gesamte Zeit mit Zuschauen verbringen und er beobachtet den Partieverlauf sehr genau.
Da sind die „Russen“, meist etwas Abseits vom Spielbetrieb an den großen Brettern, spielen sie unter sich, Kampflieder der Sowjetzeit summend oder pfeifend. Einmal mit I. auf dem gemeinsamen Nachhauseweg: „Ich Arzt ... Jetzt ich nicht, ... ja ja wegen Familie ... Ich jetzt nicht mehr arbeiten ... können nicht mehr.“ Die Meisten von ihnen sind täglich im Stadtpark, haben das Schach aus ihrer Kindheit mitgebracht, in den Arbeitsgemeinschaften an den Schulen gelernt und geübt. Jetzt im Alter hilft ihnen das Spiel über Fremde und Beschäftigungslosigkeit hinweg. Sie können stundenlang mit dem Spielen von Schnellschachpartien zubringen. Die Eröffnungen werden mit Automatismus runtergespielt, erst dann wird innegehalten und nachgedacht.
V. liest russische Poesie des frühen 20. Jahrhunderts. Auf die Frage, warum er so (überhaupt nicht) schlecht Deutsch spricht, obwohl er schon 13 Jahre hier lebt: Ich keine Lust, ich keine Zeit.
Da sind die deutschen Rentner, vorneweg Herr Sch. steht er leicht gebeugt vor dem Spielfeld und denkt laut nach. Eigentlich spielt Sch. langweilig, auf Sicherheit bedacht, verzichtet er lieber auf eine erfolgversprechende Kombination. Aber Vorsicht, geht man mit so einer Einstellung ins Spiel gegen ihn – das bedeutet, man unterschätzt ihn – kann das ganz böse Folgen haben.
Da ist der ganz Alte, der Besserwisser. Um die 80 Jahre, spielt er natürlich nicht alle Partien auf höchstem Niveau, aber man merkt doch an manchen Tagen, dass er mal weit über DWZ* 1800 lag. An solchen Tagen hat man kaum eine Chance gegen ihn, da spielt er schöne Kombinationen aus.
Da ist Ch., eine der wenigen Schach spielenden Frauen, sieht mit ihrem kolossalen Übergewicht und den dünnen spärlichen Haaren ganz schön behindert aus, spielt aber solide. Ihr Freund, weißhaarig, schlank mit wachen Augen - war früher sicher ganz attraktiv, sitzt schweigend auf der Bank und schaut ihrem Spiel zu.
Da ist S. der Serbe, mit breitem slawischen Akzent und einem ausgesprochen aggressiven Angriffsschach. Verzichtet gerne auf die Rochade und startet sofort den Angriff. Gegen ihn zu spielen, macht wirklich Spaß.
Der Maurer mit seiner Frau. Hat sich den Rücken kaputt gemacht, sagt sie, musste sein Leben lang schwer arbeiten. Nach der letzten Winterpause schaute ich auf einen sehr dünnen Mann am Schachfeld. Klar war, das der erst seit kurzem wieder auf seinen Beinen stand. Eine überstandene lange und schwere Krankheit zeichnete nach. Ich kam nicht darauf, woher ich ihn kannte und war fast schon gewillt ihn darauf anzusprechen. Erst als ich seine Stimme vernahm, erkannte ich ihn wieder. Es war der Maurer. Jetzt am Ende des Sommers sieht er nicht mehr ganz so krank aus. Die Spiele gegen ihn waren spannend. Er starb am Ende der Saison.

DWZ – Deutsche Wertungszahl, eine Wertungszahl um die Spielstärke der Spieler im Schach zu vergleichen.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (30.06.20)
Kurzem -> kurzem

 Jedermann meinte dazu am 30.06.20:
geändert :)

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 30.06.20:
Ich habe übrigens beruflich schon ein paar Mal über Schachturniere berichtet, aber dort war immer nur von der Elo-Zahl die Rede, von DWZ habe ich noch nie gehört...

 Jedermann schrieb daraufhin am 30.06.20:
Alle Spieler die irgendwann mal aktiv in einem Schachverein gespielt haben, also an Wettkämpfen teilgenommen haben, bekommen eine Deutsche Wertungszahl (DWZ) die ihre Spielstärke kennzeichnet. ELO bekommt, wer in internationalen Turnieren spielt.

 Graeculus äußerte darauf am 30.06.20:
Das ist mal eine Information. Auch ich kannte nur ELO.

 BerndtB (14.07.20)
Die Charaktere sind realistisch und freundlich dargestellt. Da weiß jemand, wovon er schreibt!

LG Berndt

 Dieter_Rotmund (21.02.22, 09:31)
ließt -> liest 
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