Der lange Weg zum Dümmer

Bericht zum Thema Literatur

von  Jedermann

Das klingt ja abgefahren: Aus dem Leben eines Fauns! Der Titel fordert mich direkt zum Lesen raus. 1998 in Berlin Kreuzberg, damals, ein gutes Jahrzehnt bevor das digitale Buch für mich wichtiger wurde, kramte ich regelmäßig in den Antiquariaten. Das schmale Paperback eines Arno Schmidt fiel mir durch diesen absonderlichen Titel auf und damit startete ich in eine mehrere Jahre andauernde Lektüre seiner Romane und Erzählungen. Ich war verblüfft, welch starke Sprache war hier am Werk, zauberte aus kleinsten Verhältnissen ein Universum. Bilder entfalteten sich beim Lesen unverzüglich in meinem Kopf. Beim Lesen des Fauns sah ich die Wölfin in ihrer strammen Uniform, fühlte die abweisende Art seiner Frau. Ich war dabei, wenn er listreich um Landrat und andere Vorgesetzte taktierte. Die Lektüre Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas ließ mich im Bus so laut auflachen, dass mich sicher einige Fahrgäste für verrückt hielten.
Natürlich steht Zettels Traum bei mir im Bücherregal. Als S. Fischer 2002 die preiswerte Paperback Ausgabe herausbrachte grenzte mein Kaufverhalten fast an Kleptomanie. Ich musste es haben! Gelesen habe ich es bis heute nicht. Es gibt Menschen, die haben dieses Schmidtsche Monumentalwerk tatsächlich gelesen. Ich verbleibe gerne in seinem Frühwerk, tauchte Anfang der 2000er in die Romane und Erzählungen der Jahre 1946 bis 1964 ein.
Nun scheint es ein gesichertes Phänomen zu sein, Arno Schmidt gehört zu den Schriftstellern, von denen die begeisterten Leser auch persönliches wissen möchten. Nicht ohne Grund etablierte sich das Arno Schmidt Dechiffrier-Syndikat in Bargfeld, nur wenige 100 m von dessen Wohnhaus entfernt. Ich stand mit meinem Wunsch nicht allein! So war es denn auch nicht verwunderlich, dass ich bald nach dem beruflichen Umzug nach Hannover das Bargfelder Haus und die Arno-Schmidt-Stiftung besuchte.
Frau Kopp, die Haushälterin der Schmidts, führte durch das Schmidtsche Reich, das kleine Holzhaus. Buchregale, Zettelkästen, Arbeitsplatz! Alles richtet sich auf die nur eine Tätigkeit, das Schreiben. Es blieb nicht bei einem Besuch. Nein, ich wollte noch einmal das Eingeweckte der Schmidts im Keller begutachten. Noch immer haltbar, obwohl schon 30 Jahre alt! Die grünliche Lederjacke hängt an der Garderobe. Draußen streunen die Katzen, testamentarisch vereinbartes Futter- und Bleiberecht genießend. Der Garten ist mittlerweile von außen nicht mehr einsehbar. Ein Markenzeichen für das Arno Schmidt Zeit von seiner so kostbaren Arbeitszeit abgeknapst hat. Die Stacheldrahtrollen wären heute zur Verhinderung des Zaunübersteigens nicht mehr notwendig.
Das kleine Haus der Schmidts erhielt Nachbarschaft. Das feuerfeste Archiv wurde errichtet und später ein Stück Land hinzuerworben, dass das Haus der Arno-Schmidt-Stiftung beherbergt.
Die Gaststätte Bangemann am eichenbestandenen Dorfanger existierte auch noch im Jahr 2014. Was lag näher, als ein Spargelessen im Gasthaus um die gelesenen Schmidtschen Bilder mit der Wirklichkeit zu vergleichen!
Dieses Dorf strahlt Intellektualität aus! Und das führe ich auf das eine Ehepaar Schmidt zurück, die eigentlich zurückgezogen ihr Schriftstellerleben führten. Die Texte dieses misanthropischen Schmidt zogen viele Leser in das Dorf, überprägten das Bäuerliche.
Aber nun möchte ich auf das eigentliche Erlebnis kommen, unsere Fahrradtour von Hannover zum Dümmer. Es begann damit, dass ich HW vorschwärmte welch eindrucksvolle Sprachkraft sich für mich gerade in Seelandschaft mit Pocahontas entfaltete. Natürlich drängte ich ihm das Buch förmlich auf. HW gehört jedoch zur anderen Seite, er konnte mit der Schmidtschen Sprache nichts anfangen. Ein wenig enttäuscht, in ihm in diesem Punkt keinen Gleichgesinnten zu finden, schmiedeten wir dennoch unsere Pläne mit dem Fahrrad zum Dümmer zu fahren. Schließlich verbrachte dort das Ehepaar Schmidt eine Sommerwoche im Landgasthof Schomakers. Dort wollte ich übernachten. Und HW kannte die Gegend noch aus seiner Militärzeit. Die Sache war abgemacht!
Für das von uns geplante Wochenende wurde atlantischer Einfluss vorhergesagt. Westwind, kühl und viele Schauer, das war die Wetterprognose. Aber wir hatten ja nur 80 km nach unserer Abschätzung zu fahren. Der Wetterwechsel wurde für Freitagmittag angekündigt und er kam pünktlich. Wir verließen gerade den Weg entlang des Mittellandkanals, da hatte ich kurz vor Wunstorf einen Platten. Mein Fahrrad war nicht im besten Zustand. Ca. 2005 beim Aldi Discounter in Berlin als Alu Leichtrad gekauft, habe ich es nie gemocht. Es ist unglaublich schwer – fast schon witzig, dass es als Alu Leichtrad verkauft wurde – und besitzt einen sehr  unkomfortablen Lenker vom Typ Stadtrad. Kein Wunder, dass ich es über die Jahre kaum benutzte und natürlich war es auch kein Wunder, dass ich so bald einen Platten hatte. Aber HW war wohl präpariert. Er hatte einen funkelnagelneuen Schlauch bei. Zumindest konnte man das aus der Verpackung schließen. Ich wechselte den Schlauch und begann das Hinterrad aufzupumpen. Ich pumpte und pumpte, nichts passierte, der Reifen blieb platt. Nach dem Ausbau fanden wir die Lösung. Im Schlauch fehlte ein großes Stück. HW schimpfte mächtig über den Ordnungssinn seiner Frau, die immer alles wegräumt, ohne ihm etwas zu sagen.
Wunstorf war noch ca. 2 km entfernt. Dort gibt es ja mit Sicherheit einen Fahrradladen. HW fuhr vor. Wir bekamen einen Schlauch, tauschten gegen den alten und fuhren nach fast 2 Stunden Zeitverlust weiter. Mittlerweile bekamen wir straffen Westwind, immer ins Gesicht, dass bedeutete mächtig zu strampeln, aber so weit war es ja gar nicht mehr!
Zum frühen Nachmittag erreichten wir Loccum, das Wetter hatte sich leicht gebessert, gar nicht so schlecht. Wenn an windgeschützten Stellen die Wolken aufbrachen, wärmte uns die Sonne wohlig. Es war sehr schön entlangzufahren und an den Abend im Landgasthof in Vorfreude zu denken. Der Fahrradweg, natürlich durch seinen schlängelnden Verlauf etwas länger als der Weg entlang der Straße, führte durch Wald durchbrochene Kulturlandschaft. Sehr schön, wir genossen unsere Tour, bis wir ein Schild sahen. Der Wegweiser am Fahrradweg zum Dümmer zeigte 80 km an. Unsere gute Stimmung verflüchtige sich schlagartig. Auch das Wetter taktete ein. Passend zu unserer Stimmung kam starker Wind mit Regen auf. Drei Uhr nachmittags, da half nichts, wir legten uns in die Pedalen und kämpften gegen den Wind an, jetzt auf kürzestem Weg in Richtung Dümmer. Nach Überquerung der Weser erreichten wir eine Kleinstadt. Krisensitzung! Ich wollte weiter fleißig in die Pedale treten um, und wenn es erst um Mitternacht wäre, den Dümmer zu erreichen. HW war anderer Meinung. Wir überlegten jetzt auch in dieser kleinen Stadt zu übernachten und am nächsten Tag weiterzufahren. Alles nicht realistisch schließlich wollten wir nur zwei Nächte bleiben und am Sonntag den Rückweg antreten.
Wir bestellten uns ein Großraumtaxi, vereinbarten einen Festpreis, luden unsere Fahrräder in den Gepäckraum und erreichten den Landgasthof zum Abendbrot. Bei zünftigem Mahl und Bier musste ich mir ein Fußballspiel ansehen. Ich werde nie verstehen, woher die Begeisterung der Zuschauer rührt. Selbst zur Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 blieb sie mir verschlossen, obwohl die abendliche und nächtliche Sommerstimmung in Berlin großartig war.
Wir waren im Gasthof Schomakers untergekommen. Tapete und Zimmerausstattung könnten noch aus der Zeit, des Schmidtschen Aufenthalts stammen. Hier entstand die Idee für seine Pocahontas. Da lag er mit seinem fiktiven Erich in einem Zimmer, resümierte drüber, wie die beiden weiblichen Gäste zu beeindrucken seien und ertrug Erichs Fürze. Und dann entspann sich die zarte Liebesgeschichte, die ihm später den Vorwurf der Pornografie einbrachte, aber keinen von seiner Frau Alice, schließlich war sie ja die Vorlage der fiktiven Liebesgeschichte, obwohl, anatomisch eher nicht.
Ich wollte unbedingt mehr über den Aufenthalt des Ehepaares herausfinden und fragte den Wirt. Auch wusste ich, dass Schmidt ein Gedicht nach Art des Victor von Scheffel über den Steinzeitmenschen am Dümmer in das Gästebuch schrieb. Der Wirt bestätigte, dass sein Vater derjenige war, dem Schmidt sein Gedicht widmete. Aber zeigen wollte er es mir nicht, mit der Begründung, dass schon einige Schmidtbesessene da heranwollten. Er hatte Angst, dass ich ihm das Gästebuch entwende. War nichts mehr aus ihm herauszuholen!
Am nächsten Tag umrundeten wir mit unseren Fahrrädern den Dümmer, hielten Ausblick nach den Wasservögeln und stellten schnell fest, dass die intensive Tierhaltung und die Melioration der umgebenden Wiesen, dem flachen Gewässer ein Überangebot an Nährstoffen einbrachte. In den heißen Sommerwochen wird der Dümmer zur Blaugrünalgenbrühe.
Auf dem Rückweg gingen wir auf Nummer sicher und fuhren mit dem Rad nur bis Delmenhorst und von dort mit dem Zug über Bremen zurück nach Hannover.

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Kommentare zu diesem Text


 RainerMScholz (30.06.20)
Normalerweise stellte ich solche Anfragen ja nicht, aber wenn du Zettels Traum ohnehin nicht lesen willst, und es, sozusagen, nur im Schrank verstaubt - für wieviele Märker wärst du bereit, es einem willigen Adepten zu überlassen? Oder vielleicht leihweise über die nächsten Jahrzehnte?
Grüße,
R.

 Jedermann meinte dazu am 01.07.20:
Ich würde ja fast zum Letzteren tendieren, nur überlege ich mir noch wie ich auch sicher nachprüfen könnte, dass du es wirklich gelesen hast 😂

Antwort geändert am 01.07.2020 um 19:21 Uhr

 RainerMScholz antwortete darauf am 20.07.20:
Ich schriebe selbstverständlich ein Exposé, nur für dich gedacht natürlich. Oder tägliche Ein- und Ausdrücke. Lithographien vielleicht von Traumbildern aufgrund des "Textes"?

 Jedermann schrieb daraufhin am 21.07.20:
Das ist wohl das Mindeste! Schließlich gehörst du nach der Lektüre zur Elite :).

Antwort geändert am 21.07.2020 um 22:11 Uhr

 idioma (03.09.20)
= ein wahrhaft arnoschmidtisch langer Weg.......
also Prosa ist wahrhaft Deine Stärke !
und "Jedermann" ein wahrhaft sinniges Pseudonym !

Von "Zettels Traum" gibts inzwischen eine neue Riesenausgabe, abgesegnet vonner Arno Schmidt Stiftung und so groß und schwer, dass kaum tragbar
und sich ergo Kleptomanie erübrigt.........
https://www.arno-schmidt-stiftung.de/content/Archiv/ZettelsTraum/ZT-Beispielheft.pdf

i di
idi

 Jedermann äußerte darauf am 06.09.20:
Freut mich sehr idioma, dass Du den Text gerne gelesen hast. -> Mut=ivation zum Schreiben!

 Terminator (07.04.21)
Es geht ja tatsächlich um diesen Teich bei Diepholz!

 Jedermann ergänzte dazu am 14.04.21:
A.S traf dort seine fiktive Pocahontas!

 FrankReich meinte dazu am 14.04.21:
😂, auf den Titel bin auch ich hereingefallen, hat sich aber gelohnt.

Ciao, Frank
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