Mauerschützen, Deutsche, Menschen! Das Gewissen sagt uns doch, was man -nicht - tun sollte.

Text

von  Willibald


Chris Gueffroy wird bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer erschossen.
Sein Bruder kann in der „Berliner Zeitung" vom 21. Februar 1989 eine Todesanzeige
für ihn aufsetzen, in der auf einen „tragischen Unglücksfall" am 6. Februar Bezug
genommen wird. Westmedien sind damit über den wahrscheinlichen Hintergrund
der Schüsse informiert, die zum gegebenen Zeitpunkt  an der Grenze zu vernehmen waren.
Die beteiligten Grenzsoldaten werden nach der Vereinigung angeklagt.
Hier ein Plädoyer -  zur Diskussion.


(1) Das Rückwirkungsverbot

„Nullum crimen sine lege praevia, nulla igitur poena", das  ist ein berühmter Satz in der Diskussion  unter Juristen. Auf Deutsch: Kein Verbrechen ohne ein vorausgehendes, bereits vorliegendes Gesetz. Daher denn auch - bei fehlendem Gesetz, bei fehlendem Verbot, bei fehlender Charakterisierung einer Tat als "Verbrechen" - keine Strafe.

Oder - etwas ausführlicher - in Juristendeutsch:
Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) ist Teil des rechtsstaatlichen Gesetzmäßigkeitsprinzips. Es gebietet, dass die Strafbarkeit einer Handlung zum Zeitpunkt ihrer Begehung gesetzlich bestimmt sein muss. Eine nicht strafbare Handlung kann nicht plötzlich als strafbar gelten und rückwirkend bestraft werden.
Für den Täter müssen nämlich die Konsequenzen seiner Verhaltensweisen voraussehbar sein, will man davon sprechen, dass  er bewusst, frei verantwortlich und/oder unter mildernden Umständen gegen die Gesetze gehandelt hat.
Das Rückwirkungsverbot ist durch die Norm der Beachtung der Menschenwürde und durch das  allgemeine Willkürverbot gestützt, es gilt absolut und ist damit eigentlich jeder Abwägung entzogen.

Das ist ein starkes Argument etwa in den Mauerschützenprozessen. Oder in den Nürnberger Prozessen. Es dient(e) der Entlastung der Angeklagten.

(2) Das Gewissen

Es ist gewiss oft unmöglich, eine scharfe Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden und einzuhaltenden Gesetzen.

Eine andere Grenzziehung aber kann man in Anlehnung an den Juristen Gustav Radbruch (1878–1949) mit aller Schärfe vornehmen: Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit der Chancen, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur "unrichtiges" Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.

Den Mauerschützen im Fall Geoffrey mag in der Nacht zum 6. Februar 1989  bis zu einem gewissen Grad das Unrechtbewusstsein gefehlt haben, in ihrem tiefsten Inneren, in dem, was man Gewissen nennt,  aber wussten sie: Es ist unverhältnismäßig, Republikflucht mit dem Tode zu bestrafen. Und sie wussten, dass man einen so unrechtmäßigen Befehl nicht ausführen durfte und auch ohne größere Nachteile umgehen konnte. Wer kann nachweisen, dass ein Fehlschuss gewollt war?

Also ist das Rückwirkungsverbot nicht anzusetzen. Es greift nicht, denn selbst wenn die Mauerschüsse in der ehemaligen DDR nicht strafbar gewesen sein sollten: Das Gewissen, wenn man es entsprechend befragt und anspannt, wird klar aussagen, dass man solche Befehle umgehen muss.

(3) Fazit:

Das positive Recht der DDR war im Mauerschützenfall evidentes Unrecht, die Angeklagten mussten bei Gewissenserforschung klar erkennen, was sie da taten, das Rückwirkungsverbot greift in solchen Fällen nicht. Daher ist der Hauptangeklagte  zu  zwei Jahren Freiheitsstrafe mit Bewährung zu verurteilen.

Oder ohne Bewährung?
Oder härter?

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (14.07.20)
Ich möchte zur Ergänzung darauf hinweisen, daß sich die DDR als Mitglied der Vereinten Nationen auf die UN-Menschenrechtserklärung verpflichtet hatte, in der es heißt:
Artikel 13
(1) [...]
(2) Jeder Mensch hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein Land zurückzukehren.

 Willibald meinte dazu am 14.07.20:
Grüße Dich, Graeculus,

ja, jetzt traue ich mich auch zu präzisieren:

a) IPBPR (5)

Im sogenannten ersten Mauerschützen-Urteil verwarf der BGH Rechtfertigungsgründe wie „Die Staatspraxis der DDR gebot Schusswaffengebrauch“. Vielmehr gilt: Der Schusswaffengebrauch an der Berliner Mauer sei unvereinbar mit dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR).: "Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen", so heißt es im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem auch die DDR beigetreten war.

Das sehr viel spätere Urteil des BGH vom 26.7.1994 bewertet und verurteilt Tötungshandlungen von Grenzsoldaten der DDR, die sich im Jahre 1972 abspielte, also vor Inkrafttreten des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte für die DDR am 23.3.1976.

Dieser Umstand hinderte den BGH jedoch nicht, an seiner Rechtsauffassung festzuhalten, die Staatspraxis der DDR sei kein Rechtfertigungsgrund für die Tötung von Flüchtigen an der innerdeutschen Grenze. Und zwar mit dem folgenden Argument.

b) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Der BGH stellte zunächst darauf ab, dass der IPBPR seine Grundlage in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – fixiert durch die Vereinten Nationen - habe. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und des IPBPR stimmten im Hinblick auf das Recht auf Leben und freie Ausreise überein; weniger präzise als im IPBPR formuliert seien allerdings die Schranken der Menschenrechte (Art. 29 Nr. 2 der Allgemeinen Erklärung).

Funktion der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sei es, die Bezugnahme der Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945 auf die Menschenrechte zu konkretisieren.

Angesichts der Exaktheit, mit der die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte das fundamentale Recht auf Leben und das Recht auf freie Ausreise definiert habe, könne die Erklärung - nicht anders als der IPBPR - als eine Konkretisierung dessen aufgefasst werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden werde.

Der Tatsache, dass die DDR erst im Jahre 1973 Mitglied der Vereinten Nationen geworden war, maß der BGH wenig Bedeutung bei, da die DDR stets - also auch vorher - erklärt habe, sie identifiziere sich mit den Zielsetzungen der Vereinten Nationen.

c) Art. 91 DDR-Verfassung (4)

Schließlich verwies der Senat auf Art. 91 DDR-Verfassung, wonach die allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts über die Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen unmittelbar geltendes Recht sein sollten.

Somit sei von den Mauerschützen nach DDR-Recht gehandelt worden, aber es hätte auch die Möglichkeit einer "menschenrechtsfreundlichen Auslegung" gegeben.

Nach dieser Interpretation der DDR-Verfassung und des Grenzgesetzes hätte nicht auf unbewaffnete, niemanden gefährdende Flüchtlinge geschossen werden dürfen, d.h. die Tötungen waren schon zur damaligen Zeit strafbar, da sie gegen positives (schriftlich fixiertes) Recht der DDR verstießen. Dass sie nicht bestraft wurden, ändere daran nichts.


d) Fehlende Unterrichtung kein Entlastungsargument

Die fehlende Unterrichtung der Grenzsoldaten der DDR über den Beitritt der DDR zum IPBPR oder über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte könne die Täter nicht entlasten. Entscheidend sei, dass die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun darstelle, dass der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich gewesen sei.

Aber ...

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 14.07.20:
Kennen wir auch das Soldatengesetz bei Befehlsverweigerung der ehemligen DDR? Was stand dort?
Aha (53) schrieb daraufhin am 14.07.20:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 15.07.20:
Ich bin ja dafür, dass man alle Umstände berücksichtigt. Dann kann man recht schön darüber nachdenken.

 Willibald ergänzte dazu am 15.07.20:
Greetse in die Runde!
Ich finde spannend, dass bei aller Sprödigkeit juristischer Argumentation plötzlich ein Urteilen und "der" Gerechtigkeitssinn gefragt sind. Und dass dann also wirklich solche Domänen wie Gewissen, Moral, mildernde Umstönde, Sozialisation recht konkret verhandelt und diskutiert werden können.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.07.20:
Ist ja auch so, da erzählt der Angeklagte aus seiner Kindheit...
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