Ivo Andric: Die Brücke über die Drina... oder eine Brücke zu Corona

Rezension zum Thema Grenzen/ Grenzen überschreiten

von  eiskimo

„...um die Mitte des 19. Jahrhunderts wütete zweimal in Sarajewo die Cholera und einmal die Pest. In diesen Fällen hielt sich die Stadt an die Anweisungen, die nach der Überlieferung Mohammed seinen Gläubigen für das Verhalten während einer Seuche gegeben hatte:
Solange die Krankheit an einem Ort herrscht, gehet nicht dorthin, denn ihr könntet euch anstecken; seid ihr aber am Orte, wo die Krankheit herrscht, gehet nicht fort aus diesem Ort, denn ihr könntet andere anstecken!
Aber da sich die Menschen auch an die heilsamsten Lehren selbst dann nicht halten, wenn sie vom Abgesandten Gottes ausgehen, falls sie nicht durch „die Kraft der Obrigkeit“  dazu gezwungen werden, beschränkte oder unterbrach die Regierung, sobald eine Seuche ausbrach, völlig jeglichen Post- und Reiseverkehr.“  (zitiert aus Ivo Andric, Die Brücke über die Drina, München 1962, S.94)

Wenn man weiterliest in diesem Hauptwerk des Nobelpreisträgers, erfährt man auch, dass auf dieser im 16. Jahrhundert errichteten Brücke exakt dieselben „Ausnahmeregelungen“ versucht wurden, wie sie heute in Corona-Zeiten zu beobachten sind:

„Jeden Tag erschienen ein paar von ihnen, Reisende, Händler, Boten und Landstreicher. Schon beim Zugang zur Brücke erwartete sie ein Posten und gab ihnen bereits von weitem ein Zeichen, dass es nicht weiter gehe. Der Reisende blieb stehen, begann aber zu verhandeln, sich zu rechtfertigen und seinen Fall zu erläutern. Und jeder von ihnen meinte, man müsse ihn unbedingt in die Stadt lassen, jeder versicherte, er sei kerngesund und habe nichts mit der Cholera - möge sie fernblieben! -  dahinten irgendwo in Sarajewo zu tun. (…)
..und während sie so in einem Abstand von ein paar Schritten sprechen, schreien sie alle und winken mit den Händen. Die Soldaten schreien schon deshalb, weil sie den ganzen Tag auf der Brücke sitzen, Raki trinken und Knoblauch essen; ihr Dienst gibt ihnen das Recht dazu, denn es heißt, dass diese beiden Dinge gut gegen die Seuche sind; und sie machen von diesem Recht ausgiebig Gebrauch.“ (a.a.O. S. 95,96)

Wer wissen will, ob es gewitzt Reisende schafften, trotz Seuche in die Stadt Wischegrad zu gelangen - und wenn ja, wie – dem sei dieses faszinierende Chronik sehr empfohlen. Aber nicht nur wegen des vergleichsweise kurzen Exkurses, der hier voran gestellt ist, sondern wegen einer fantastischen Mischung aus Heldengesängen, aus grauenhaften Riten, zarten Liebesgeschichten und tiefsinnigem Humor. „Die Brücke über die Drina“  führt einen zurück an die alte Nahtstelle zwischen Orient und Okzident. Auch wenn diese Brücke 1914 zerstört wird – da bleibt dank Ivo Andric sehr, sehr viel lebendig, bis heute. Und wer verstehen will, was auf dem Balkan zur Zeit wieder Spannungsgeladenes passiert, der kriegt Hintergründe.


Anmerkung von eiskimo:

Im Original erschien diese Chronik 1945, der Literaturnobelpreis für Andric kam 1961

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (26.07.20)
Dsas Buch werde ich mir besorgen. Danke. LG

 Jedermann (27.07.20)
Interessanter Buchtipp, werde ich auf jeden Fall reinlesen.
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