Der nächtliche Besuch

Kurzgeschichte zum Thema Hoffnung/Hoffnungslosigkeit

von  Feliks Gershon Bokser

Eins war klar: ich musste da raus! Die beiden Gäste wurden mit der Zeit drei und schienen meine Gastfreundschaft nicht zu verstehen. Wir haben im Altbau zwar viel Raum, aber nicht für alle Platz. Und ich fand auch, dass wenn sie vom freundlich angebotenen Wasser in der schwülen Sommernacht nichts brauchten, dann brauchten sie eben nichts. Also schloss ich die Zimmertür hinter mir zu und eilte davon.
Hinaus in die offenen Arme der Nachtstille. Rein in die Straße, vorbei an den alten, hübschen Häusern, die den Eindruck erschaffen wollten, als befinde man sich in Wien oder mindestens Berlin. Es war so ungewöhnlich still, dass mich überraschend für mich selbst seltsame Gedanken besuchten. War das früher jetzt auch schon so provinziell hier in der Enge der Straße oder war hier auch mal mehr oder weniger mehr los? Das aggressive Summen meiner nächtlichen Gäste stand bedrohlich noch immer mir im Nacken. Trotz der schwülen Stille hatte ich das Gefühl, dass die Viecher überall in der Luft herumschwirren. Während ich das hier schreibe, belagern sie die LED-Lampe, als wären sie Motten oder so. Sie werden bald sterben und dann wohl als Nachtfalter wiedergeboren, ich werde als ein Angsthase wiedergeboren. Denn sie machen mir gehörig den Rücken scharf mit ihrem Gesumme und Geschweife. Wieso hat der Vormieter überhaupt eine LED-Lampe an der Decke! Ich glaube, meine Gäste finden das Licht total faszinierend: dabei hat man vor bereits etwa einem Jahr selbst die Straßenlaternen mit LED-Licht ausgestattet. Ich glaube, seitdem sind die ganzen fliegenden und krabbelnden Viecher los. Vielleicht sind das aber auch schon wiedergeborene LED-Nutzer aus anderen Bereichen.
Auf der Straße ging es zur Tanke. Einige alte Straßen entlang, Berg hinunter, das Gesumme im Nacken. Da kratzte es unvermittelt klopfend an einer Fensterscheibe, davon waren ja einige noch halbdunkel erleuchtet, bestimmt hatten die Leute auch Besuch: Denn wo Licht ist, ist auch Besuch da! Vielleicht war ja heute die Nacht des letzten Wespenangriffs. Kurz vorm Abkratzen ging es dann an den Endgegner. Ich schaue also in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Im dunklen Schimmer sah ich nach langem angestrengtem Hinstarren, dass da ein Kind an die Fensterscheibe lehnte und mit seinen Fingernägeln an die Fensterscheibe schlug. Hatte der Junge etwa auch Besuch, schmunzelte es sich mir vor mich hin. Bei der Nacht kann man sich alles vorstellen. Ich hätte jedenfalls Angst. Vielleicht war es dann auch ein gläserner Hilfeschrei. In der Maske konnte ich an seinem Gesicht nicht viel ablesen. Nur seine recht ruhigen, ja fast gelangweilten Augen verrieten eine Gleichgültigkeit, die ich selbst durch die Stille der Nacht dank dem scharfgestochenen LED-Licht der Altstraßenstraßenlaternen nicht mit einer Wespenangst verwechseln würde. Als einem wachen Nachbarn und rücksichtsvollen Bürger fiel mir jedoch bei dem angestrengten Versuch mich der medizinischen Schutzmaske wegen des eigentlichen Geschlechts des Kindes zu vergewissern auf, dass sich die braunen Vorhänge hinter dem Kind rhythmisch hin und her bewegten. Ich meine sogar im Wegdrehen ein erwachsenes Gesicht hinter dem Vorhang erblickt zu haben. Aber ich kann mich täuschen. Was nicht alles für Annahmen man aus Mangel an Informationen anstellen kann! Ich bin doch kein Spinner, dachte ich und ging.

Den Fluss überquerend blieb ich noch etwas lauschend stehen. Es war immer noch so still wie vorher, nur der Fluss rauschte dahin. An der Tanke bestellte ich mir viele Flaschen Billigbier. Aber kalt. Der Verkäufer hinter der Glasscheibe hinkte und so verwickelte ich ihn in ein Gespräch. „Machst du Sport, du gehst so, als wärst du ein Läufer“, sagte ich zu ihm. „Du trittst auf den Vorderfuß“. Wie es sich dann herausstellte, hatte er mal eine Sportverletzung, einen Sehnenriss, der dann nicht verheilt ist. Mensch, dachte ich, mein Therapeut hatte sich auch eine Sportverletzung zugezogen und ist seitdem etwas krank. Also was soll das mit dem Sport immer, wenn das die Leute so verletzt und kränkt. Dann doch lieber Bier oder Tablett. Oder beides, mit Netflix im Flixbus. Ab und davon. Das tat ich. Da ging dann am nahegelegenen Autoverkaufsplast der Alarm los. Er heulte wie im Krieg. Das hat mir noch gefehlt. Der Therapeut ist übrigens ein Physiotherapeut, nicht der andere, an den du gedacht hast. Ich hab halt wie ganz Deutschland Rücken. Alle haben wir Rücken, nur manche haben Kinder. Viele tragen Masken, einigen schmeckt Billigbier. Aber wer bricht schon in so einen Autotempel ein! Das musste ein Fehlalarm sein, ausgelöst durch Wespen, die sich vom LED-Licht dort eingeladen gefühlt haben. Langsamen Schrittes ging ich da also wieder vorbei, denn ich musste ja nach Hause. Die Diebe laufen mir entgegen, schnappen sich mich und kidnappen. Stellte ich mir vor, aber ging weiter. In der Stille der Nacht erklang der Alarm sehr unpassend. Heute sollte ich mich besaufen.
Da holte mich dann von hinten ein Wagen ein. Die Diebe. Dachte ich. Die Polizei aber wars. „Oh, ihr seid aber schnell da“, rutschte mir aus. Sie stiegen aus, die dunklen Gestalten. Wir alle unmaskiert. „Warum ohne Maske“, rief mir einer von den dreien zu. „Na, um nicht in Verdacht zu geraten, ich hätte hier mit dem Alarm etwas zu tun“, war meine Antwort. Demaskierter Dinge umstellten sie mich. Das hatten wir doch schon vorhin im Zimmer so ähnlich, ging mir durch den Sinn. Wie gut, dass ich während des potenziellen Einbruchs mir durch meinen Billigbierverkäufer ein Alibi verschafft hatte! Und auch die rhythmischen Eltern hinter dem Vorhang werden sich sicher noch meiner erinnern. Ich wurde trotzdem mit auf die Station gebracht. Naturgemäß wurde ich dann dort für eine Nacht gehalten. Jetzt werden meine nächtlichen Gäste zuhause aber sauer, wo ich denn so lange bliebe. Ich hatte nämlich sowohl das Fenster als auch die Tür geschlossen.
Die Nacht in der Zelle verlief ruhig: Ich habe gut geschlafen, denn dort gab es keine Wespen und keine gleichgültigen Kinder hinter dem Vorhang. Am nächsten Morgen wurde ich als Erstes gefragt, was ich denn da in der Gegend nachts überhaupt zu suchen gehabt hatte. Nichts, so gab ich zu Protokoll. Wollte nur dem Wespenangriff entfliehen. Warum ich denn hier gehalten worden sei, lautete meine Rückfrage. Ich hätte keine Maske angehabt und mich so des terroristischen Einbruchs in die systemrelevante Automobilproduktion verdächtig gemacht. Aber ich war einfach nur sauer, gab ich zurück. Wie, sauer? Na, sauer. Supersauer. Mehr als sauer. Todtraurig. Am Tag hätte ich gekündigt. Aha. Ja, gekündigt. Und? Ich wollte mich besaufen. Ohne Maske. Ja, ohne Maske. Hinter dem Vorhang, vor dem Vorhang, egal. Na und? Ja, sie haben ja einen sicheren systemrelevanten Job. Und sie. Ich hatte einen miesen Scheißjob, wissen Sie. Ich war an einer Gesamtschule als Vertretungslehrer eingesprungen, ganz plötzlich, ganz große Schule im Süden, hinter dem Berg. Da war die Sekretärin echt mies. Aha. Die hat drei Schülerinnen zur Sau gemacht, weil die sich für eine Klassenkameradin einsetzen wollten, die urplötzlich ihre Tage bekam und sich schämte, na verstehen Sie? Und die wurden dann an den Schulleiter verwiesen, den sie dann auch gerne zu Rate gezogen hätten. Denn sie hatten sichtlich Verständnis dafür, wie ihre Freundin sich da gerade fühlte unter den 15jährigen Jugendlichen mit Smartphones in der Tasche. Aha. Ja, nicht so systemrelevant, ich weiß. Die Frau war echt giftig. Und ich konnte mir das nicht mit ansehen. Und mich einmischen als Fremdling, sonn Dazugekommener, schon gar nicht. Ich ging dann ins Lehrerzimmer und weinte. Aha. Ja. Und dann kam plötzlich eine Durchsage des Schulleiters. Jetzt kommts, dachte ich. Wir wurden dann zu einer Schweigeminute für die Opfer der rechtsradikalen Gewalttat von Murnau aufgerufen. Ja. Das war dann offensichtlich systemrelevant. Und? Ich bekam einen Wutanfall. Ich stellte mir vor, wie gerade 1000 Schülerinneninnen maskiert und befleckt da sitzen und eine Minute lang wegen jemandem irgendwo in Südosteuropa oder so schweigen müssen, vom Schulleiter verordnet, während diese Schülerin sich gerade auf dem Heimweg macht, um sich dann aufzuhängen. Hä. Ja. Die hat sich aufgehängt, erfuhren wir dann etwas später. Oder hat sich vor den Zug geworfen. Die Ess-Bahn fuhr dann jedenfalls ganzen Nachmittag nicht mehr. Und abends bekam ich Besuch. Von Wespen. Und ging dann los. Wie gut, dass ich mein Fenster und die Tür geschlossen habe.

Wupatal, 25.08.20

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (25.08.20)
Das ist spannend geschrieben, aber schwer zu lesen - wegen fehlender Absätze.
(ich ahne es: bei allen Absatzverzichtern ist das immer beabsichtigtes Stilmittel, doch die Augen, die Augen, sie träänen ...

LG
L.

 Feliks Gershon Bokser meinte dazu am 25.08.20:
Danke, Lothar, Sie haben recht mit den Absätzen! Danke für den Hinweis und für das Urteil!
Sätzer (77)
(25.08.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Feliks Gershon Bokser antwortete darauf am 27.08.20:
Thnx

 Dieter Wal (27.08.20)
"Die beiden Gäste wurden mit der Zeit drei und schienen meine Gastfreundschaft nicht zu verstehen."

Die beiden Besucher wurden mit der Zeit drei und schienen meine Gastfreundschaft nicht zu verstehen.

Das halte ich für die deutlich bessere Variante, da "Gäste" im Satz viel zu weitläufig interpretabel ist. Dadurch entsteht beim Leser bereits im dritten etwas längeren Satz eine Unklarheit, durch die der Satz den Charakter eines "Aussteigers" annehmen kann bei Lesern, die besonders prägnante Formulierungen tendenziell verwaschenen bevorzugen. "Gäste" gefällt mir durchaus, weil ich Kafkas Metaphorik umwerfend finde. Doch an dieser Stelle halte ich zumindest bei den von dir bis dahin gewählten Worten absolute Klarheit für zielführend. Denn Du willst bestimmt, dass möglichst alle Leser Deine einfühlsame Erzählung auf einmal zuende lesen.

Sehr schön, wieder etwas von Dir zu lesen. Ich kommentiere den ganzen Text innerhalb der nächsten Tage, spätestens Montag, komplett.

Der Texteinstieg ist übrigens bis dahin ansonsten 1 A.

 Feliks Gershon Bokser schrieb daraufhin am 30.09.20:
Danke für Deine Mühe und Deinen Kommentar!!!! Große Freude für mich!!
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram