Was ist denn heut bei Findigs los? - oder mein persönlicher Lenin

Geschichte zum Thema Erinnerung

von  Jedermann

Es ist fünf vor sieben, mein älterer Bruder und ich sitzen am Tisch. Zum Frühstück essen wir Haferflocken und trinken Muckefuck. Das Radio ist eingeschaltet, schließlich gibt es wie an jedem morgendlichen Schultag fünf Minuten Spannendes, Lehrreiches und auch Witziges von der Familie Findig. Heute habe ich Geburtstag. Ich weiß am Nachmittag wird mir mein Onkel Khalil einen Matchbox-Oldtimer schenken. Bis dahin wird die Zeit sehr, sehr langsam vergehen.
Die Sendung beginnt! Die Rede ist von Wladimir Iljitsch Lenin. Der große Führer der sozialistischen Revolution wäre heute 100 Jahre alt geworden, berichtet Vater Findig. Vater und Mutter Findig erklären ihren Kindern wie wichtig der Sturz des Zaren, der Aufbau der Räterepublik und die Übernahme der Macht durch die Bolschewiki für die einfachen Menschen in Russland waren. Im Übrigen hieß Lenin mit richtigem Namen Uljanow . . . Nach 4:50 Minuten Exkurs in die Geschichte der Russischen Revolution bestellte Mutter Findig Geburtstagsgrüße; Glückwünsche an die beiden Pioniere Michael S. und Michael F., die heute 10 Jahre alt wurden. Ich war überrascht und riesig stolz, zum Geburtstag durch die Familie Findig in meiner Lieblingssendung beglückwünscht zu werden. Auf dem Schulweg, ich holte wie immer den anderen Michael von zu Hause ab, redeten wir natürlich nur über die Sendung. Aber für ihn war die Überraschung nicht so vollkommen, denn seine Mutter, eine Pionierleiterin, hatte mit dem Redakteur der Sendung im Berliner Rundfunk telefoniert. Sie mußte wohl von der Themensetzung der Sendung am 100. Geburtstag Lenins gewusst haben und schlug daher die Geburtstagsgrüße vor. In der Schule habe ich tatsächlich immer nur daran gedacht, dass uns nachher Onkel Khalil besucht und ich den Oldtimer bekommen werde, und die Schulstunden zogen sich zäh in die Länge!
Vielleicht hätte ich nie erfahren, mich nie darum gekümmert, dass Lenin am gleichen Tag wie ich geboren wurde. Aber durch die Sendung vom 22.04.1970 „Was ist denn heut bei Findigs los?“ grub sich diese Information tief in mein Gehirn.
Die Geschichte seines Lebens ist gut aufgearbeitet und den meisten bekannt. Episoden, in denen erzählt wird, dass eigentlich die Deutschen Schuld an der Oktoberrevolution tragen, weil sie Lenin in einem versiegelten Zugabteil durch Deutschland nach Schweden transportierten, treffen natürlicherweise auf starkes Interesse. So sind auch seine Warnungen bezüglich des machtbesessenen Stalin gut bekannt. Dass er selber Machtmensch und Realpolitiker war, wird meist nur untergeordnet wahrgenommen. Das Lenin vom russischen Volk geliebt wurde, beschreibt Konstantin Paustowskij in seiner Erzählung Grimmige Kälte sehr eindringlich. An seinem Todestag brach für viele russische Menschen eine Welt zusammen, obwohl er seit längerer Zeit aufgrund seines sehr schlechten Gesundheitszustands nicht mehr öffentlich in Erscheinung trat. Er wurde verehrt wie früher das Väterchen Zar. Gelernt ist gelernt!
Im Sommer 1974 wurde ich aufgrund meiner guten Noten für den Freundschaftszug vorgeschlagen. Ich durfte in den Ferien mit in einer Delegation nach Moskau fahren. Wir verbrachten zwei volle Tage im Zug, mit Spurwechsel in Brest-Litowsk und russischem Samowar im Abteil des Schaffners. In Moskau wurden wir in einer Schule einquartiert. Die sowjetischen Schüler veranstalteten zunächst einmal eine Begrüßungsdisco. Auf einem Vierspurtonband wurden die Stones abgespielt und es wurde wild getanzt.
Die Gastgeber bereiteten uns ein Kulturprogramm, das es in sich hatte und schleiften uns an alle denkbaren kulturellen Orte. Die 14 Tage Programm wurden für mich als vierzehnjähriger zur Tortur. Gebt mir heute die Gelegenheit die Tretjakow-Galerie zu besuchen! Damals litt ich häufig unter Kopfschmerzen und Übelkeit überkam mich in der Hitze des kontinentalen Sommers. Natürlich besuchten wir das Lenin-Mausoleum und wir mussten uns nicht in die endlose Schlange der Wartenden einreihen, als Ausländer genossen wir das Privileg des sofortigen Eintritts. Da lag er, gelb wächsern, einer Puppe ähnlich und entlang seiner Leiche zogen täglich die Tausenden ehrfürchtig schweigend vorbei.
Der Aufenthalt in Moskau endete mit einer ausgewachsenen Verstopfung durch den ständigen Verzehr von Buchweizengrütze und hart gekochten Eiern zum Frühstück. Und auf der Rückfahrt brach ich mir den Arm, als ich im Schlaf im Zugabteil vom oberen Bett fiel.
Im Sommer 1991, ich hatte gerade nach längerer Suche und persönlichen Umbrüchen in der Umbruchzeit eine Arbeitsstelle gefunden, da wurde das für und wider des Abrisses des Lenindenkmals am Leninplatz in Friedrichshain in der Presse behandelt. In dieser Zeit stand natürlich das Veto für ein für im Vordergrund, schließlich wollten die meisten nicht mehr in den alten Zeiten der miefig piefigen DDR verweilen. Wir lehnten Lenins These ab, dass die Freiheit eine bürgerliche Illusion sei! Wir glaubten an die freie Handlung des Individuums. Wir wollten Teilhaben mit unserer Individualität am Erfolg, trotz aller in uns liegenden Hemmnisse, der Unsicherheit und dem Gefühl der Unterlegenheit. Der Lenin kam weg, das Denkmal, welches gerade zum 100. Geburtstag dort unter pompöser Zeremonie eingeweiht wurde. Im Übrigen haben die Lenindenkmäler nirgendwo auf dem Gebiet der ehemaligen DDR überdauert. Sie lagern heute in Sandgruben, auf Schrottplätzen oder landeten einfach im Müll.
Im Sommer 2017 ergab sich für mich die Möglichkeit nach Spitzbergen zu reisen. Selbstverständlich bereitete ich mich auf den Aufenthalt vor. Voller Interesse las ich über den besonderen Status des Gebietes und die Aktivitäten der Russen in puncto Kohlebergbau. Während des Aufenthalts konnte ich mir den Wunsch erfüllen und die aufgelassene Bergbausiedlung Pyramiden besuchen. Die Siedlung strahlt in der Weite der kargen Landschaft Schwermut aus. Die technischen Anlagen verfallen langsam, die Häuser werden von Vögeln bewohnt. Nur ein Haus ist von Menschen bewohnt und bietet Unterkunft für Touristen. Im oberen Bereich der Siedlung, vor dem für die Bergarbeiter errichteten Sportkomplex, steht das nördlichste Lenindenkmal der Welt. Selbstverständlich habe ich mich dort fotografieren lassen.
Ob ich später noch einmal Berührung mit Lenins Spuren haben werde, das wird sich zeigen! Die Sendung vom 22.04.1970 jedoch, wurde nicht aufgezeichnet. Es gibt somit keinen Beweis!

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Kommentare zu diesem Text


 tueichler (13.09.20)
Hallo Jedermann, Dein Erzählstil gefällt mir gut. Mal abgesehen davon, dass auch ich mich an Findigs erinnere 😉

 Jedermann meinte dazu am 14.09.20:
Ich freue mich, dass Dir dieser Text gefällt und bedanke mich für die Empfehlung.
Findigs aus dem Röhrenradio, Muckefuck und Haferflocken - später auch Filinchen - , das stand in den ersten Schuljahren am Beginn fast jeden Schultages.
Gruß Jedermann

Antwort geändert am 14.09.2020 um 14:00 Uhr
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