Entschleunigung

Erzählung zum Thema Aggression

von  Mondscheinsonate

Mein Arzt hat mich krankgeschrieben, ohne mich zu einem Coronatest zu schicken, was ich gut finde, das ist überhaupt ein guter Arzt, weil er mir mein Leben gerettet hat, aber das ist eine andere Geschichte, also, hat er nicht, weil ich meinte, ich habe in erster Linie Schnupfen, einen heftigen Schnupfen und fühle mich matt, da lachte er und meinte, es gäbe ein russisches Sprichwort, so bekommen junge Damen bei einem freizügigen Dekolletee einen Mann und alte Damen einen Schnupfen, ich lachte, wahrlich, meinte, das stimmt schon. Dennoch habe ich mich selbst in Quarantäne begeben, weil ich niemanden mit einem Schnupfen anstecken möchte, so passierte mir am Freitag in der Straßenbahn, dass ich niesen musste, ich nieste in mein Taschentuch, und ein mir unbekannter Mann schrie mich an, dass ich sterben soll, ich verseuchte Sau, das sagte er, ich erstarrte. Wohl holte 2020 das Beste aus den Menschen und ich sah mir am Samstag die Neuverfilmung, mittlerweile schon älter, von "Die Welle" an und erstarrte noch mehr, mich schauderte es, aber mich schauderte es schon, als ich es mit 13 in der Schule lesen musste.
Nun, man kann also konstatieren, dass es auch noch andere Krankheiten gibt, selbst 2020 und ich habe eben Schnupfen und Kopfweh, eigentlich fühle ich mich komplett matt und habe auf nichts Lust, dennoch sitze ich beim Schreibtisch und lerne das Römische Recht, sehe mir eine langweilige Vorlesung an, also, man muss schon dazu sagen, dass der Professor sehr nett ist und für den Stoff lebt, das merkt man, aber wir Studentinnen und Studenten eben nicht so ganz, das passt nicht zusammen, somit ist es stinklangweilig und wenn ich auf die Uhr sehe, so hört dieses Repetitorium nie wieder auf, kurz Rep, also das Rep dauert schon zwei Stunden und ich habe noch zwölf vor mir, so schlief selbst der Kater neben mir sofort ein, verfiel in einen komatösen Schlaf, eben seit zwei Stunden und ich beneide ihn.
So beschimpfte mich der fremde Mann und ich schwieg, wurde kleiner in meiner Sitzhaltung, wollte einfach nur verschwinden, hatte Furcht, dass dieser Mann mir etwas antun würde, so aggressiv schrie er mich an und weil er schrie, drehten sich einige um und eine Dame, schräg gegenüber sitzend meinte, er sollte sich zusammenreißen, das arme Pupperl ist doch ganz blaß und krank, das sieht doch ein Blinder, da wurde der Mann noch aggressiver und schrie die Dame an, dass sie, ich zitiere "die Gosch'n halten soll, weil das ist ja der Grund, warum er sich so aufregt!" Da hielt die Frau die Gosch'n, also ihren Mund. 
Man darf 2020 also nicht krank sein, nein, nicht  in der Öffentlichkeit, aber, manchmal sucht man es sich nicht aus, denn ich war in der Arbeit und fühlte mich noch gut und plötzlich, von einer Sekunde auf die Nächste bekam ich alle Zustände, das kam plötzlich, aber so musste ich nachhause, es nütze nichts und eigentlich, so denke ich, während ich schreibe, geht das niemanden etwas an, aber nicht so 2020.
So reichte mir heute meine Schwester ein Brot über den Gartenzaun, ich bin in Isolation mit Kopfweh, es war noch ganz warm.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Jedermann (14.09.20)
Ein bedrückender Text. Du arbeitest sehr gut das Irrrationale in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation heraus. Ich habe den Text mit Interesse gelesen! Danke! Gruß Jedermann

 Mondscheinsonate meinte dazu am 14.09.20:
Dankeschön!

 AchterZwerg (15.09.20)
Mir gefällt der Text, weil ich mir auch an die eigene Zwergennase fassen kann.
Tatsächlich steigt das Aggressionspotential, wenn man gefühlte hundert Mal ausgewichen ist - selbst auf die Straße - um nicht anzustecken oder angesteckt zu werden. Diese Haltung wird leider nicht von vielen geteilt.
Ertönt nun ein keuchender Husten, fällt mir kaum noch was Freundliches ein.
Der Unterschied liegt in meinem Schweigen.

;-)
der8.

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 15.09.20:
Man hat nicht aggressiv zu sein, ganz einfach. Man kennt nie die Umstände.

 Ralf_Renkking schrieb daraufhin am 15.09.20:
Aggressivität ist m. M. n. ein Ausdruck der Unsicherheit, ebenso wie der Gebrauch des Indefinitpronomens 'man', beides als Automatismus oder sogar Prägung zu bezeichnen, dürfte kein Trugschluss sein; das Gefühl der Unsicherheit jemandem verbieten zu wollen, führt jedoch zu noch mehr Unsicherheit, die Lösung allerdings besteht sowohl in der Aufklärung als auch in der Hilfestellung zur Selbstreflektion, das wiederum erfordert starke Nerven aller Beteiligten und wer hat die heutzutage schon noch? Gegenseitiges Verständnis ist also, wie immer, zuviel verlangt. 🤔

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 15.09.20:
Reden wir bitte weiter, wenn du aggressiv zusammengeschissen wurdest, weil du in ein Taschentuch geniest hast. Ich glaube, da kann man sich dann besser über 2020 unterhalten. Ich habe dafür kein Verständnis mehr und möchte auch keines mehr haben.

 Ralf_Renkking ergänzte dazu am 16.09.20:
Zweifellos hat der Typ sich megabeschissen verhalten, das ist aber noch lange kein Grund, dem Zwerg (und anschließend mir) die Möhren um die Öhren zu hauen. Man, man, man, mit wem hatte ich kürzlich noch über Differenzierung parliert? 😂

 AchterZwerg meinte dazu am 16.09.20:
Aggressivität ist dem Menschen angeboren. Und hat u. a. zur Weiterentwicklung seiner Intelligenz geführt.
Sie sollte allerdings angemessen kanalisiert werden. Auch von dir.


 Mondscheinsonate meinte dazu am 16.09.20:
Niemand war aggressiv, schon gar nicht zu Zwerg. Eher dich habe ich ein wenig angebissen, weil mich Psychologisierungen langsam ein bisserl nerven. Zwerg, sorry, wenn es bös rüberkam.

 idioma (15.09.20)
Offensichtlich war Dieter Rotmund noch nicht hier,
denn das RepEtitorium ist noch nicht angemahnt......
Unfähig, mich derart kurz zu fassen möcht ich noch sagen :
Endlich wieder ein Mondscheintext !!!
Ein Text, der die tagelange entschleunigte Stille erklärt, aber nun dennoch neu mit ungebrochner intensiver wirklich mitreißender Strömung fließt..... Gleich mit dem ersten Satz setzt der typische Sprachfluss ein und gibt es so ne typische Stromschnelle ",also,hat er nicht," über einen drohenden Mäander hinweg zurück bzw. weiter im Erzählstrom : "Mein Arzt hat mich krankgeschrieben, ohne mich zu einem Coronatest zu schicken, was ich gut finde, das ist überhaupt ein guter Arzt, weil er mir mein Leben gerettet hat, aber das ist eine andere Geschichte, also, hat er nicht,
(( also d.h. er hat mich nicht zum Test geschickt )) weil ich meinte, ich habe in erster Linie Schnupfen, einen heftigen Schnupfen und fühle mich matt, da lachte er und meinte, es gäbe ein russisches Sprichwort, so bekommen junge Damen bei einem freizügigen Dekolletee einen Mann und alte Damen einen Schnupfen, ich lachte, wahrlich, meinte, das stimmt schon."..... und natürlich auch so ne typische betonende und variierende Wiederholung :
"habe in erster Linie Schnupfen, einen heftigen Schnupfen,..."
Dabei ist mir klar geworden, dass "Mondschein" im Grunde keine geschriebene Prosa ist, sondern dass eigentlich mündlich erzählt wird, quasi life, was die Sprache von den üblichen Schreibregeln befreit - hier in diesem ganzen Text - nur um ein konkretes Beispiel zu nennen - befreit von der Frage, ob das Wörtchen "so" grammatikalisch immer wirklich perfekt passt....
Damit will ich aber überhaupt nicht sagen, dass ich anstatt der lesbaren Monscheintexte lieber "Hörtexte" anklicken würde ! Obwohl ich mir solche Hörbeispiele mit original wienerischem Tonfall zusätzlich natürlich sehr wünsche, würde ich dennoch niemals darauf verzichten, die Texte zu lesen, denn es funktioniert so, dass gerade diese Stilmittel der mündlichen Erzählweise mit ihren angedeuteten Freiheiten und Eigenheiten diese geschriebene Prosa so typisch beschleunigt sprudeln lassen und ungemein lebendig und authentisch machen ! Deshalb ist es einfach absolut müßig mit irgendwelchen Satzbau-Feinheiten aufzuwarten, es würde quasi negativ entschleunigen...
nein weiter immer weiter so.....
bitte.....
idi

Kommentar geändert am 15.09.2020 um 14:03 Uhr

 idioma meinte dazu am 15.09.20:
PS : natürlich bewirkt das eine gewisse Gratwanderung der Art : Wieviel sprudelnde Stromschnellen und Regelsprengungen wirken fördernd, wie weit geht´s
oder wo oder wann ist´s ne Prise zu viel.....
eben das ist die insgeheime Kunst der scheinbar natürlichen Kunstlosigkeit............
idi

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.09.20:
That's me... :) Dankeschön für deine feine Analyse! *hatschie*

 idioma meinte dazu am 15.09.20:
Gesundheit ! und Gute Besserung !

Ach ja : Die Stellen von direkter Rede meist -nicht stur immer- nahtlos in den Text zu weben und auf brave Anführungszeichen meist zu pfeifen, das ist auch so ne beschleunigende Freiheit deiner einzigartigen gesprochen-geschriebenen Prosa..........
Hoffentlich war das nu wirklich der letzte Satz meiner Lobsonate !
idi

 idioma meinte dazu am 15.09.20:
sorry !
nochmals so ein ungeduldiger Doppelklick.....

Antwort geändert am 15.09.2020 um 17:24 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.09.20:
Ich bin ein Freigeist

 Ralf_Renkking meinte dazu am 15.09.20:
... wenn das doch für Deine Gefühle auch gelten würde!!! 😂😂
P.S.: Freifühler, das wäre wohl eher ein anderer Begriff für eine Nacktschnecke, wie komme ich jetzt bloß aus dieser Nummer wieder raus? Ach so, vielleicht solltest Du Dich einfach mal wärmer anziehen und im übrigen: "Gesundheit!!!" 🤗

 Mondscheinsonate meinte dazu am 15.09.20:
Ähmmmm....😂😂😂
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram