09 - Am Kamin

Erzählung zum Thema Aufwachen

von  TassoTuwas

Dieser Text ist Teil der Serie  Ferne Lichter so nah.
"Wir haben eine Nachricht für Sie...", sagte der Nachtportier, "...es ist mehrfach nach Ihnen gefragt worden". Er schob Robert den Zimmerschlüssel und einen Briefumschlag über den Tisch. Mit einer unguten Ahnung riss Robert noch im Fahrstuhl das Kuvert auf, überflog den kurzen Text. Auf dem Zimmer hörte er die Mailbox ab, die seine Befürchtung bestätigte. Ein überraschend von der Geschäftsleitung angesetztes Meeting erforderte seine Anwesenheit. Er überschlug im Kopf die Rückfahrtzeit. Um pünktlich in der Firma zu sein, musste er spätestens um sieben im Wagen sitzen.
Die ganze darauf folgende Woche jagten sich Termine, mussten Erkundigungen eingeholt und Daten abgeglichen werden, alte mit neuen Verträgen verglichen und in stundenlangen Beratungen ein Lösungskonzept zu Papier gebracht werden. Am sechsten Tag saß Robert mit zwei weiteren Mitarbeitern aus der Chefetage und einem Übersetzer im Flieger nach Panama-City. Es folgten drei harte Verhandlungstage, dann unterschrieb der Kunde. Einige kleinere Änderungen, die nicht ins Gewicht fielen und einkalkuliert waren, ließ man sich abringen. Im Flieger knallten die Champagnerkorken, das Millionengeschäft war unter Dach und Fach. Und immer dabei begleitete ihn ein Schatten.
Wieder im eigenen Bett wachte er auf, nachdem er über zwanzig Stunden geschlafen hatte.  Beim Blick auf den Kalender stellte er fest, dass seit Messeende fast zwei Wochen vergangen waren und, es regte sich plötzlich die Frage, ob die Begegnung mit Dorothee, von ihrer Seite aus, nur ein kleiner Flirt, so ein bisschen Abwechslung von der Standhektik gewesen war, also ohne jede Bedeutung. Es war doch möglich, und in der Zwischenzeit hatte auch ihr Alltag wieder seinen Lauf genommen und er war in ihrer Erinnerung verblasst . Er, der es gewohnt war, komplexe Probleme zu lösen, wusste keine Antwort.
Am nächste Tag fuhr er an der Wäscherei vorbei, die Textilien abzuholen, die er vor dem Abflug noch schnell zur Reinigung gegeben hatte. Die Dame schob ihm das Paket entgegen, dann griff sie in eine Schublade und legte noch etwas oben auf.
"Das haben wir in der Jackentasche gefunden!", sie musterte ihn neugierig.
Es war ein Bierdeckel, mit den Strichen auf der Vorderseite, auf der Rückseite stand eine Telefonnummer.

Er lachte glucksend, Doro wusste immer was sie wollte und jetzt war sie weg und Pascha mit ihr. Der wusste auch was er wollte, der kleine miese Verräter.
Nein, nein er wollt nicht ungerecht sein, sie beide hatten eine gute Zeit miteinander, und er verdankte ihm einiges. Immerhin hatte Pascha ihn vor Schlimmem bewahrt. Vor Julias täglichem Müslifrühstück, der fleischlosen Küche mit der gesundheitsfördernden Kalorienzählerei, vor Silvias Räucherstäbchenabenden im Schneidersitz, untermalt von tibetanischen Mönchsgesängen und der Invasion hunderter Duftkerzen, vor Manuelas selbst verfassten Weltverbesserungs- flugblättern, die Samstags in der Fußgängerzone verteilt werden mussten, mitsamt den dazu gehörenden Grundsatzdebatten, spontanen Demos und Sitins. Das Pascha sich Doro angeschlossen hatte, sprach nur für ihn, nein besser noch, für ihrer beider guten Geschmack.
Mit Doros Einzug, war seine Welt eine andere geworden.
"Prost, ihr zwei...", er machte eine Pause um die Worte zu sortieren, "..auf die Zukunft, eure, ohne mich!".
Er warf den Korken der Whiskyflasche ins Kaminfeuer. So hatten sie es immer gehalten, damals, während der zwei Semester in Edinburgh, als es so jung war, wie Doro heute. Das war auch eine gute Zeit.
Jedes Wochenende zog es ihn in die Highlands. Mit dem klapprigen Überlandbus bis Pitlochry oder Aviemore und von dort zu Fuß über die Berge und durch die Täler. Einmal glaubte er sich heillos in der Einsamkeit verirrt zu haben, als er auf eine halb verfallene Hütte gestoßen war, vor der ein abenteuerlich aussehender Kerl saß. Völlig überrascht  starrten sie sich gegenseitig an, bis der Alte schallend lachte.
Als sie sich am nächsten Morgen verabschiedeten, besaß er keinen Penny mehr, hatte dafür hervorragend geschlafen, gut gefrühstückt und in seinem Rucksack befand sich eine Flasche, von der der alte Schotte am Abend zuvor noch hoch und heilig behauptet hatte, so wahr, wie er das Ungeheuer von Loch Ness mit eigenen Augen gesehen hatte, er würde sich nie und nimmer von ihr trennen.
Die halbe Nacht hatte der Alte erzählt, von Robert the Bruce und Bonnie Prince Charles, von den blutigen Gemetzeln in den Schluchten, von listenreichen Fallen, vom ehrlosen Verrat der Lowländer, und erst als auch Robert gegen die verdammten feigen Engländer zu wettern begann, rückte der Alte näher und gegen Morgen wechselte die Flasche den Besitzer.
Und da stand sie auf dem Tisch vor ihm, "Old Glen Rose", zu zwei Drittel leer. Gegen Trennung gab es keine Garantie, passte das nicht alles zusammen. Er lachte abgehackt glucksend und füllte sein Glas auf.

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Kommentare zu diesem Text


 ViktorVanHynthersin (22.09.20)
Es ist gerade 7.48 Uhr und ich lese etwas von "Old Glen Rose". Es wird ein harter Arbeitstag
Herzlichst
Viktor
P.S. Ach ja, weiter so mit der Geschichte!

 TassoTuwas meinte dazu am 22.09.20:
Hier ist es jetzt 8.17 Uhr. Es mag bessere Literatur geben, um den Tag zu beginnen, aber kein besseres Getränk!

Herzliche Grüße
TT

 AchterZwerg antwortete darauf am 22.09.20:
11:58: Zeit für Tee mit Honig,
i h r Abhängigen! :(

 TassoTuwas schrieb daraufhin am 24.09.20:
Du meinst Tee mit Rum.
Ja, wir hängen tatsächlich ab und zu rum

 AchterZwerg (22.09.20)
Hier empfiehlt sich das glucksende Lachen in jeder Hinsicht!
"Old Glen Rose" muss ich googeln ... hat die was mit Glen(n) Miller zu tun? Ist sie gar sein ältliches Fräulein Braut?

Grübelgrüße
der8.Ledige

 TassoTuwas äußerte darauf am 22.09.20:
Wie ich deinen reizenden Zeilen entnehme, bist du noch nicht in der High-Society angekommen!
Freu dich, da gibt es nämlich nichts zu lachen.

Glaub einem Insider
Liebe Grüße
TT
Al-Badri_Sigrun (61)
(22.09.20)
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 TassoTuwas ergänzte dazu am 22.09.20:
Hallo Sigrun,

im Vorwort steht geschrieben, "Eine Geschichte, die davon handelt, dass drei nicht immer einer zu viel ist".
Hab ich mich da möglicherweise vertan?
Wir nähern uns langsam dem Ende

Liebe Grüße
TT
Al-Badri_Sigrun (61) meinte dazu am 22.09.20:
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 TassoTuwas meinte dazu am 22.09.20:
Sigrun, du hast nichts falsch gemacht!
Der Verwirr-Schussel bin ich

Liebe Grüße
TT

 TassoTuwas meinte dazu am 22.09.20:
Sigrun, du hast nichts falsch gemacht!
Der Verwirr-Schussel bin ich

Liebe Grüße
TT
Al-Badri_Sigrun (61) meinte dazu am 22.09.20:
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 TrekanBelluvitsh (22.09.20)
Hier greifen Gegenwart und Vergangenheit(en) gekonnt ineinander.

 TassoTuwas meinte dazu am 22.09.20:
Das zeitliche Herumgespringe hält den Leser davon ab, einzuschlafen
Hofft der Autor
TT

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 22.09.20:
Du meinst, so als ob man einen früheren Bericht in eine Geschichte einfügt, die bereits beendet scheint, damit der Leser sich fragt: "Was soll denn das jetzt schon wieder?"

:D

 TassoTuwas meinte dazu am 22.09.20:
Hab ich woanders auch schon gesehen

 AZU20 (23.09.20)
Gern gelesen. Werde auch gern weiterlesen. LG

 TassoTuwas meinte dazu am 23.09.20:
Freut mich!

LG TT

 plotzn (23.09.20)
"Das zeitliche Herumgespringe hält den Leser davon ab, einzuschlafen"
Kann sein, Tasso, aber so schaffe ich es kaum zu folgen. Dabei fing der Titel "Am Kamin" so gemütlich und vielversprechend an...
Und jetzt sitze ich hier, hellwach, ohne "Old Glen Rose" und verzweifelt, weil die Fortsetzung dauert.

Na herzlichen Dank!
Stefan

 TassoTuwas meinte dazu am 24.09.20:
Stefan,
du hast es doch längst bemerkt!
Ich schreib doch nicht zum Vergnügen.
Weder für meines, noch für das der Leser

Also herzliches Bitteschön
TT

 Teichhüpfer (23.09.20)
Also, Erich Honecker lebt nicht mehr, und die Regierung wechselt beliebig.

 TassoTuwas meinte dazu am 23.09.20:
Jens, du auf meiner Seite!
Ist denn schon Weihnachten

Antwort geändert am 23.09.2020 um 23:51 Uhr

 Teichhüpfer (24.09.20)
tassowillwas - Yo, da ist noch Kontakt mit den Leuten.

 TassoTuwas meinte dazu am 24.09.20:
Der Erich ist ja nicht mehr so kontaktfreudig

 Teichhüpfer meinte dazu am 24.09.20:
Da bin ich mir nicht sicher bei dem Erich.

 AvaLiam (09.11.20)
Ich habe - nach ein paar Tagen Pause, die ich außerhalb meiner heimischen Ruhe verbrachte - mir gestern in der Wanne die Fortsetzungen, die mir noch fehlten gegönnt.
Eigentlich wollte ich schon viel früher aus der Wanne - doch es kam nie so der Zeitpunkt auf, an dem ich das Handy weglegen konnte/wollte, um aus der Wanne zu steigen.

Am Ende war das Wasser ganz schön kalt. Dafür das Herz dann wieder warm.

Herzlich - Ava

 TassoTuwas meinte dazu am 09.11.20:
Ach Ava,
jetzt fällt mir ein Riesenstein vom Herzen.

Ich weiß gar nicht wie, sich die Straftat nennt, die ein Autor begeht, wenn ein Leser seines Werkes vor Langeweile in der Badewanne einschläft, und dann...
Puh, ist ja noch mal gutgegangen

Liebe Grüße
TT

 TassoTuwas meinte dazu am 09.11.20:
Ach Ava,
jetzt fällt mir ein Riesenstein vom Herzen.

Ich weiß gar nicht wie, sich die Straftat nennt, die ein Autor begeht, wenn ein Leser seines Werkes vor Langeweile in der Badewanne einschläft, und dann...
Puh, ist ja noch mal gutgegangen

Liebe Grüße
TT

 harzgebirgler (21.11.20)
zu 'träumereien an französischen kaminen'
machen die schotten eher gleichgültige mienen.

lg
harzgebirgler

 TassoTuwas meinte dazu am 22.11.20:
Heute kommt ein Herr vom Umweltschutz
sagt, der Kamin bleibt aus, der macht nur Schmutz!

LG TT

 Enni (30.11.20)
Bei all den Erinnerungen bleibt nur der "Old Glen Rose". Das glucksende Lachen scheint leicht bitter.

Mit Robert fühle ich mit, doch die ganze Zeit überlege ich, wie es Doro und Pascha gehen mag und das Warum drängt sich immer stärker auf. Warum mussten sie gehen?
Abendgruß
Enni

 TassoTuwas meinte dazu am 30.11.20:
Hallo Enya,

ich kann soviel sagen, den Beiden geht es mit jeder Minute besser.
Aber warum wohl?

Du kommst nicht drauf!

Herzliche Grüße
TT
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