10 - In einem richtigen Leben

Erzählung zum Thema Beziehung

von  Moja

Elke war noch keine vierundzwanzig Stunden zuhause, als Tariq sie am Telefon bedrängte. Sie erzählte einsilbig von der Reise, fragte, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Sie bat ihn um eine Auszeit, sie bräuchte eine Weile, um über ihre Beziehung nachzudenken. „Schon gut, ich lasse dich in Ruhe“, sagte er beleidigt und schickte ihr von unterwegs eine SMS: 1 + 1 =1!

Danach sahen sie sich einige Zeit nicht. Bis Tariq sie um Hilfe bat beim Ausfüllen von Anträgen, es würde nur zehn Minuten dauern, versprach er. Ein Vorwand, vermutete Elke, aber als sie die Tür öffnete und sein strahlendes Lächeln sah, fühlte sie sich gleich zu ihm hingezogen. Irritiert wandte sie sich ab. Als sie dann aber bemerkte, wie misstrauisch er sich in ihrer Wohnung umsah und fragte, ob sie einen neuen Freund hätte, bot sie ihm verärgert einen Kaffee an, und forderte ihn auf zum Thema zu kommen. Tariq stellte eine große Tüte auf den Tisch. Er nahm einen Stapel mit Formularen heraus und reichte ihn ihr. Dann packte er das Essen von einem arabischen Imbiss aus. Er hatte Hunger. Die Speisen dufteten köstlich. Eigentlich hatte sie bereits gegessen, aber dann deckte sie schnell den Tisch und setzte sich zu ihm.

Mit spitzen Fingern griff Tariq nach einem imaginären Haar, zog es vom Teller und streckte es Elke vorwurfsvoll entgegen. „Weißt du, was Männer machen, wenn sie ein Haar im Essen finden?“ Elke legte den Löffel ab und schaute auf, sie bemerkte ein seltsames Leuchten in seinen Augen. „Ich habe Haare von dir in meiner Wohnung gefunden“, sagte er leise. Elke fühlte einen leichten Schauder. „Die Frau wird rot, lässt ihr Essen stehen und läuft weg. Aber was soll das?“, sagte er kopfschüttelnd und lächelte. In der eingetretenen Stille schwang etwas Unausgesprochenes mit. „Man kann das Haar wegnehmen, die Frau hat es nicht mit Absicht getan“, sagte er, ohne Elke aus den Augen zu lassen. Sie rührte sich nicht. „Es war der Wind“, sagte er mit gesenkter Stimme und verstummte. Sein linkes Auge war weit geöffnet, das andere halb geschlossen. Ein sonderbarer Ausdruck von Süße und Melancholie stand in seinem Gesicht. „Weißt du, was ich mit deinem Haar gemacht habe?“ Er hielt noch immer ihren Blick fest. Elke war wie elektrisiert, ihr Rücken versteifte sich, sie schluckte. Wie in Zeitlupe griff Tariq mit Daumen und Zeigefinger nach einem unsichtbaren Haar. Seine Augen lagen halb verschattet unter den dichten Wimpern, er wendete nicht den Blick von ihr. Elke durchfuhr ein Kribbeln, das ihr den Atem nahm. Tariq führte mit seinen schlanken Fingern anmutig das imaginäre Haar zu seinem leicht geöffneten Mund. Unendlich langsam, so schien es ihr, zog er das Haar zwischen seinen feuchten weichen Lippen entlang. Seine Augen waren nun weit geöffnet. Elke wurde von einem Schwindel ergriffen, der ihren Körper durchströmte. Sein Blick umfasste sie und hielt sie in der Schwebe. Allmählich ließ Tariq das Haar zu Boden gleiten. Als sie sich wieder gefasst hatte, stand sie auf und ging zum Kühlschrank, um Mineralwasser zu holen. Ihr Blick fiel auf die Unmenge an Essen, die Tariq hineingestopft hatte. Sie verlor die Beherrschung und schrie ihn an. Was er sich denke, warum er immer so viel mitbrächte, wer sollte das alles essen? Er fing an zu stottern, redete sich heraus, während er das Geschirr abräumte. Auf einmal fühlte sie sich erschöpft. Sie lehnte sich gegen die Wand. Sie war müde, sie wollte das alles nicht mehr. Sie wünschte, dass er aufstünde und ginge, sie allein ließe. Behutsam trat er näher. Sie schloss die Augen. „Hilfst du mir bei den Anträgen?“, fragte er zaghaft.

Sie füllte die Formulare für ihn aus, versuchte ihm einiges zu erklären, während er wieder begann über seine Probleme zu reden. Als sie fertig war, schob sie ihm den Stoß Papiere hin. Er machte keine Anstalten zu gehen. Vor Müdigkeit rieb sie sich die Augen, der Schmerz hämmerte in ihrem Kopf. Sie unterbrach ihn, stand auf und bat ihn entschieden, zu gehen. Doch er hörte nicht auf, unentwegt beteuerte er ihr seine Liebe und sah sie erwartungsvoll an. Endlich sagte sie langsam und tonlos: „Ich habe nachgedacht, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.“ – „Nein, das bist nicht du, Elke!“, rief er erschrocken. Gekränkt packte er seine Sachen zusammen und verließ wortlos die Wohnung.

(Auszug) - Fortsetzung folgt -

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Al-Badri_Sigrun (61)
(08.10.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Moja meinte dazu am 09.10.20:
Keine Angst, ich bin ja auch noch da, liebe Sigrun!

Grüße herzlich zurück,
Moja

 AchterZwerg (09.10.20)
Das "Haar in der Suppe", erfährt hier eine ganz neue Bedeutung.
:)
Und eine hochinteressante Auslegung.

Liebe Grüße
der8.

 Moja antwortete darauf am 09.10.20:
Mal sehen, wohin ich die Geschichte weitertreibe

Dankeschön & lieben Gruß,
Moja

 Regina (09.10.20)
Eine anstrengende Beziehungserfahrung, aus der man hoffentlich einigermaßen unbeschadet herauskommt. Die Emotionen und Einstellungen sind punktgenau beschrieben.

 Moja schrieb daraufhin am 11.10.20:
Danke für Deine Einschätzung, liebe Regina. Zwei Teile werden wohl noch folgen.

Liebe Grüße,
Moja

 harzgebirgler (12.10.20)
es drückt sie mehr als sie's erbaut
zumal sie ihm ganz kaum noch traut.

lg
harzgebirgler

 Moja äußerte darauf am 13.10.20:
Noch nicht mal halb,
der Mann wird zu einem Alp...

danke*schön, Harzgebirgler!
Moja

 TassoTuwas (13.10.20)
Ich finde kein Gleichgewicht in der Beziehung!
Mit Raffinesse hat Tariq Elke längst in eine Abhängigkeit manövriert, aus der sie auch mit halbherzigen Reisen nicht lösen kann.
Liebe Grüße
TT

 Moja ergänzte dazu am 14.10.20:
Doro wäre das nicht passiert, lieber Tasso!

Das Ende der Geschichte habe ich eben eingestellt.

Danke Dir & lieben Gruß,
Moja

 TassoTuwas meinte dazu am 14.10.20:
Doro dankt
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram