Die Tugend ist die Schwester der Krankheit*

Fabel zum Thema Verständnis(los)

von  EkkehartMittelberg

Ein Specht tauchte seinen Schnabel gern in Weinbrände und erzählte überall, wie gut sie ihm schmeckten. Es dauerte nicht lange und er galt als Alkoholiker, der als Schluckspecht  bezeichnet wurde.
Eine Elster konnte dem Drang nicht widerstehen, alles Glänzende zu stehlen und so war sie bald unter dem Namen „diebische Elster“ bekannt.
Die beiden litten unter ihren Spitznamen und sie wandten sich vertraulich an die weise Eule mit der Frage, was sie gegen ihren Trieb unternehmen könnten.
Die Eule prophezeite den lasterhaften Geschöpfen, dass sich ihr Problem bald von selbst erledigen würde. Und so kam es auch: Der Schluckspecht erkrankte an einem Leberleiden, so dass er notgedrungen auf den Alkohol verzichtete und die diebische Elster erblindete im Alter und konnte nichts Glänzendes mehr erblicken und stehlen.
Die Abstinenz der beiden Sünder, die sie mit frommen Sprüchen als Tugend verkauften, sprach sich bald herum und man vergaß ihre lasterhafte Vergangenheit.
Wenn die Eule manchmal ihren Spruch zitierte: „Die Tugend ist die Schwester der Krankheit“ kam sie nicht in den Ruf der üblen Nachrede; denn kein Schwein wusste, was sie damit meinte.
* Aphorismus von La Rochefoucauld (1613-1680): Maximen und Reflexionen

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 monalisa (09.10.20)
Hallo Ekki, deine Fabel empfinde ich als sehr anregend, weil sie viele Fragen aufwirft, La Rouchefoucaulds Zitat beispielhaft zu veranschaulichen sucht und mich sein Kernaussage nach allen Richtungen abklopfen lässt.
Was ist das für eine Tugend, wenn sie durch Krankheit erzwungen ist? Ist es schon Tugend, wenn man kein/e Dieb*in , Kein/e Alkoholiker*in ist? Ich habe das immer für den Normalzustand gehalten. Umgekehrt – sind Alkoholismus und Kleptomanie Untugenden/Laster? Heute sind beide Begriffe, Tugend und Laster, aus der Mode gekommen, ist man, speziell was Alkoholismus und Kleptomanie angeht, dazu übergegangen, diese als Suchtkrankheiten zu sehen, wodurch sich auch “Laster ist eine Schwester der Krankheit“ anböte, nicht wahr? Umso mehr, als z.B. jahrelanger Alkoholmissbrauch, körperliche Erkrankungen nach sich zieht …
Vielseitige Verwandtschaftsbeziehungen, wer da alles mit wem verschwestert ist!? Ich hoffe, du nimmst mir meine eher prüfende und abwägende Herangehensweise nicht übel 😊.
Liebe Grüße
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
Merci, Mona. Wieder einmal so ein attraktiv differenzierender Kommentar, den ich zum Teil damit beantworten möchte, was mich an dem Aphorismus von La Rochefoucauld fasziniert. Zum einen ist es die verschlüsselte Pointe, die intensiven Nachdenkens bedarf, verstanden zu werden, zum anderen die Tatasache, dass La Rochefoucauld den damals noch unproblematischen Begrriff der Tugen sehr früh leicht ironisierte, denn seine Aphorismen handeln von der Kehrseite der Tugenden.
So wie der französische Moralist habe ich mir auch erlaubt, eine ironische Fabel zu schreiben, in der der Begriff der Tugend nicht mehr so unantastbar ist wie noch bei den klassischen Philosophen und in der dem schillernden Begriff Tugend die ebenfalls leicht ironisierten Begriffe "Laster" und "Sünder" zugeordnet werden.
Der Aphorismus " Laster ist eine Schwester der Krankheit" macht auf jeden Fall Sinn, erscheint mir aber nicht so raffiniert wie der von La Rochefoucault.
Du verweist auf Suchtkrankheiten und ich gestehe gerne, dass ich in dieser Hinsicht meine Fabel naiv geschrieben habe,
Liebe Grüße
Ekki

 Didi.Costaire (09.10.20)
Wenn man kann, wie man will, heißt das Jugend.
Wird man älter und krank, kommt die Tugend...

Heute ist das ja teilweise anders, wie man liest, und die Alterseinsamkeit führt mitunter zum Griff zur Flasche und der Fernseher läuft ständig. Dennoch gut erzählt.

Beste Grüße,
Dirk

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 09.10.20:
Gracias, Didi, ich erinnere mich an das Sprichwort "Jugend hat keine Tugend". Diese wird zum Thema des Alters. Wenn wir den angekränkelten Begriff Tugend durch den moderneren "ethisches Verhalten" ersetzen, frage ich mich manchmal, ob unsere permissive (verzeihende) Gesellschaft heute für das Übertreten sittlicher Normen vielleicht zu viel Verständnis aufbringt. Aber vielleicht ist diese kritische Sicht typisch für mein Alter.
Beste Grüße
Ekki

 Didi.Costaire schrieb daraufhin am 09.10.20:
Manchmal frage ich mich das auch schon.

 harzgebirgler (09.10.20)
wo krankheit zum verzicht aufs saufen zwingt
und stehlen deucht's mich tugend nur bedingt.

lg
henning

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 09.10.20:
Danke, Henning, so ist es:
Tugend, durch Krankheit erzwungen,
ist fad und notgedrungen.
LG
Ekki

 Moja (09.10.20)
Fabelhafter Ekki, Bruder des Geschichtenerzählers!

Lieben Gruß,
Moja

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 09.10.20:
Grazie, Moja. Fabeln sollen unterhalten und belehren, Ich freue mich, dass du auch dem Aspekt der Unterhaltung gerecht wirst.
Liebe Grüße
Ekki

 Regina (09.10.20)
Gern gelesen, aber: So ganz schlüssig erscheint mir der Inhalt nicht. Zum einen trinkt ein echter Alkoholiker trotz Leberleiden weiter. Zum anderen würde er zunächst an Entzug leiden, Bevor er sich als tugendhaft bezeichnete.
LG Gina

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
Joa, danke, Regina, mag sein. Aber es gibt auch echte Alkoholiker , die es schaffen aufzuhören. Was den Entzug angeht, viele Menschen sind nicht so konsequent. Sie leiden zwar unter dem Entzug, bezeichnen sich aber deswegen als tugendhaft, weil sie heroisch dagegen kämpfen. Letzteres verschweigen sie teilweise.
LG
Ekki
Sätzer (77)
(09.10.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
Merci, Uwe, es geht dir nicht allein so. Ich zitiere den Aphorismus von L a Rochefoucauld öfter im Bekanntenkreis und stelle fest, dass mehrere so ehrlich reagieren wie du.
LG
Ekki

 AZU20 (09.10.20)
So ändern sich die Zeiten. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
Merci, Armin, ich vermute, dass du mit den sich ändernden Zeiten die veränderte Einstellung der Menschen zur Tugend in der Jugend und im Alter meinst.
LG
Ekki

 AZU20 meinte dazu am 09.10.20:
So ist es, mein Lieber. LG

 Graeculus (09.10.20)
Der Gedanke, daß Krankheit, Alter und Häßlichkeit der Tugend ungemein förderlich sind - und mehr noch dem Predigen von Tugend -, ist ja nicht neu und wird z.B. von Rochefoucauld mit beispielhafter Prägnanz formuliert; aber daraus eine Fabel zu entwickeln und damit dem Gedanken eine Prise Humor zuzufügen, das ist ein sehr schöner Einfall! Gut hast Du dabei gesehen, daß Specht und Elster sich dafür anbieten.

Rochefoucauld und Chamfort haben da vermutlich noch einigen Stoff zu bieten.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
hallo Graeculus,
aus dem Aphorismus eine Fabel zu machen, war nicht ganz einfach. Umso mehr freue ich mich über deine Anerkennung.

 AchterZwerg (09.10.20)
Lieber Ekki,
nicht nur der Schluckspecht und die diebische Elster bieten sich an, sondern auch die "fromme Helene", die allerdings eine ordentliche Fabel sprengt ...

Lächelnde Grüße
der8.Menschenzwerg

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
hallo Piccola, würde dir auch der Name Lilli gefallen, abgeleitet von Lilliputana"?
Merci, ehrlich, ich habe beim Schreiben der Fabel mehr als einmal an die fromme Helene gedacht. Mir ist leider kein Tierchen eingefallen, das ich für sie hätte einsetzen können.
Liebe Grüße
Ekki

 AchterZwerg meinte dazu am 10.10.20:
Vielleicht "Mistbiene?"

Lilli ginge in Ordnung. Erinnert mich an die schöne Lilith ...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.10.20:
Hallo Lilith, die fromme Helene als Mistbiene, det is ächt knorke.
wa Bash (47)
(09.10.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
Danke, das freut mich.
Al-Badri_Sigrun (61)
(09.10.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 09.10.20:
Vielen Dank, Sigi, es ist interessant, dass du entdeckt hast, dass Krankheiten sogar echte Tugenden hervorbingen. Das macht den Aphorismus von La Rochefoucauld noch glaubwürdiger.
Herzliche Grüße und auch dir ein heiteres Wochenende
Ekki

 TrekanBelluvitsh (10.10.20)
Sicher, dass die Eule keine Ratte war?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.10.20:
Hallo Trekan, wenn ich ihre Intelligenz in Betracht ziehe, binich mir nicht sicher.

 TassoTuwas (11.10.20)
Hallo Ekki,
das nenn ich mal raffiniert, die Tugend, als Verschleierung der nicht mehr praktikablen Unarten, vorzuschieben.
Wär ich nie drauf gekommen
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.10.20:
Merci, Tasso, das ist genau der Dreh von La Rochefoucauld.
Herzliche Grüße
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram