Curriculum

Erzählung zum Thema Kultur

von  Harry

„Kunst ist Erkenntnis im begriffsfreien Raum ,,,”, begann Z. zu dozieren; kaum, dass er ans Pult getreten war, „ ... und das Kunstwerk ihre Manifestation”, fuhr er fort und erntete nur verständnislose Blicke. Ganz so, als hätte er gesagt: „Sie alle, wie Sie hier im Hörsaal sitzen, Sie alle sind kleineArschlöcher!“ 

„Haben Sie etwa noch  nie  …“, fuhr Z. mit seinem Vorspiel zur eigentlichen Vorlesung fort, …etwas vom kulinarischen Imperativ gehört, der uns heißt, alles Gelbe immer mit Gelbem, Orangenes ausschließlich mit Orangenem zuzubereiten und das Gericht dann ausnahmslos auf gelben Stühlen und an einer gelben Tafel sitzend zu sich zu nehmen, damit das Mahl nicht zu einem geschmacklichen Desaster gerät? Und ist Ihnen nicht klar, dass etwa der medizinische Fortschritt im Wissen um das Nicht-Befolgen dieses schlichten Gebots eines Tages als Quantensprung gefeiert werden wird? 

Wenn Ihnen das nicht bekannt ist, dann sind Sie hier, bei mir, ohnehin fehl am Platz.“
 
Blanke Entrüstung jetzt unter den gut&gerne 150 Studenten, die jeweils montags und mittwochs, 12 Uhr, c.t., Z.s Vorlesungen gerade zu stürmten, um sich freiwillig Z.s Verbalejakulationen auszusetzen, die über alle Fakultätsgrenzen hinaus längst Legende waren. Doch so etwas, so etwas „Abgedrehtes“, hatten sie selbst von Z. bisher noch nicht zu hören bekommen. 

Und es sollte noch massiver kommen: Spätestens mit jener Phase seiner einführenden Worte, als er damit begann, über die Lüge als „eine Option der Wahrheit“ zu schwadronieren (ohne freilich mit keinem Wort Friedrich Nietzsche zitiert zu haben), machte sich im Hörsaal deutlich Unmut breit.
„Ich merke, dass ich diese Aussage präzisieren sollte und Sie - wie es inzwischen ebenso hässlich wie begrifflich unzutreffend heißt - dort ‚abholen’ sollte, wo Sie es sich gerade so gemütlich eingerichtet haben: nämlich im bemitleidenswerten Zustand der alles paralysierenden Ignoranz!“
Einigen Studenten ging diese heutige Tirade dann doch zu weit. Aus Unmut wurde offener Protest. Manche von ihnen sprangen auf, dass die Sperrholzsitze, die an spartanische Kinobestuhlung erinnerten, lautstark nach hinten knallten; andere flohen das Gestühl, als hätte sich ein Teufel des Chorraums bemächtigt. Und einer der Studenten,  wahrhaft ein sehr kleiner, pfiff gar durch die Zähne. 

„Bravo! Genau so mag ich Euch, Ihr erbärmlichen Wichser! So lieb‘ ich Euch!“, triumphierte Z. ins Mikrophon, beugte sich über das Katheder und brachte seinen schmächtigen Körper kunstsinnig in Position, als wolle er sogleich die Lösung des letzten Menschheitsrätsels verkünden. 
Aber nichts dergleichen geschah. Z. sagte nur: „Arschlöcher! Wohlgemerkt: Ich meine diejenigen unter Ihnen, die jetzt immer noch auf ebenihrem  sitzen.“ 

Noch immer tief hinterm Pult versunken, die Lippen dicht am Mikrophon, zischte er jetzt in den Saal:
 
„Weil ich mich erwiesenermaßen nicht als ein solches betrachte, liebe ich Arschlöcher! Ich denke, ich sollte nun mit meinen Ausführungen fortfahren dürfen.“ 

Die Z.-Gemeinde war mittlerweile auf eine Hand voll erschrocken Unerschreckbarer zusammengeschmolzen. 
„Rücken Sie doch näher“, sagte Z., „damit wir uns besser in die Schweinsäuglein sehen können! Endlich sind wir ja ganz unter uns!“ 
Ein Erstsemester, ein Mädchen, noch stark gezeichnet von den an ihr begangenen Demütigungen der Schulzeit, zeigte zögerlich auf. 
“Wenn Sie Wasser lassen müssen, dann gehen Sie doch einfach raus!“, fuhr Z. sie an. „Wir sind doch hier nicht beim BDM.“ 

Die Studentin behielt Platz, rutschte mit dem Po nach vorn bis zur Stuhlkante, zog den Reissverschluss iher Hose auf, zog Hose & Slip über die Knie und pisste einen reichlich gelben Strahl in Richtung des Lehrenden. 
„So verstehen wir uns!“, sagte er erleichtert und setzte die Lesebrille wieder auf. 


Z. begriff sich als Gesamtkunstwerk. Nicht so sehr in seiner äußeren Erscheinung, (er kleidete sich stets akkurat wie ein Vertreter der alten Schule, ließ sich regelmäßig die schütteren, grauen Haare schneiden und polierte die Schuhe, bevor er den Hörsaal betrat). Auf diese Akribie an- gesprochen, pflegte er zu antworten: „Ich mache das aus Respekt gegenüber meinen Schülerinnen rsp. Schülern.“ 

Z.s Lehre war zu Sprache geronnener Zynismus.

„Kunst ist Erkenntnis im begriffsfreien Raum“, hatte ich zu Beginn dieser Vorlesung so richtig betont. Jetzt, da wir so zu sagen unter uns sind, füge ich hinzu: Kunst ist das Medium, das Dem Künftigen (denn so will ich Zukunft künftig nennen), im Heute Form annehmen lässt;. Sie ist, wenn Sie so wollen,  ein reaktiver Prozessbeschleuniger. 

Vergessen Sie das Geschwafel von Kunst als Seismogramm und dem Künstler als dessen Protokollanten. 

Kunst ahnt nichts voraus; sagt nichts voraus; Kunst ist allem voraus. Eine Kunst, die nicht Zukunft in der Gegenwart ist, ist nicht Kunst, sondern Dekor und nur Apologese der Gegenwart. “ 

Der kleine Kreis von Studenten, der sich um Z.s Katheder geschart hatte, verfiel in tiefes Nachdenken, bis ein junger Mann, den Z. in seiner Veranstaltungen noch nie zuvor gesehen hatte, sich artig erhob und sagte: 
„Vorausgesetzt, Sie stehen auch heute noch zu dem, was Sie uns in der vergangenen Woche referiert haben, dass Kunst, wie Sie damals noch sagten, Erkenntnis im begriffslosen Raum sei und das Kunstwerk ihr Medium, wie kann es dann sein, dass die so genannte begriffslose Erkenntnis der Zukunft - wie Sie heute sagen - in der Gegenwart Gestalt anzunehmen vermag? Das Kunstwerk besitzt doch immer Gestalt im Sinne von Gehalt - ob nun in Form von Wörtern, Stein, Papier oder Tönen.”

Z. schluckte über die Saallautsprecher deutlich vernehmbar, obwohl Körpergeräusche naturgemäß nicht zu seinem Stil gehörten.
 
Doch es war dies nicht das Schlucken eines Nachdenkenden. Es war das Schlucken dessen, der sich ertappt fühlt. Des betroffen Betretenen. Des um seine Autorität Gebrachten. Und bevor er sich noch eine rhetorisch möglichst galante Rechtfertigung zurechtgelegt hatte, fuhr der junge Mann fort: 

„Wie passt es dann zusammen, dass sich Kunst - Ihrer Auffassung nach - als Kondensat des Zukünftigen in der Gegenwart manifestieren, andererseits aber Ausdruck einer begriffslosen Erkenntnis sein sollte? Sie selbst haben doch Wittgenstein zitiert, der sagt, dass begrifflich nicht gefasste Phänomene sich jeder Wahrnehmung, beharrlich entziehe? Anders ausgedrückt: dass das, was keinen Namen hat, für uns Sterbliche schlicht nicht existiert?“
 
Diesmal war Z. auf eine Antwort vorbereitet. Und die für ihn einzig denkbare Antwort sollte er selbst sein. Er, der doctus narcissus.

Er hatte gespürt, dass es sich bei demStudenten um keinen leichten Gegner handeln würde. Und dass er Gegner war, darin bestand für Z. inzwischen kein Zweifel mehr. 

„Sie haben soeben ein Paradoxon formuliert“, sagte Z.”, „ein Paradoxon freilich, das sich angesichts des allseits verbreiteten Kausaldenkens nur deshalb als solches zu erkennen gibt, weil uns eine ganz einfache Methode fehlt, es zu aufzulösen.“ 

Z. glaubte, den lästigen Kritikaster damit erledigt zu haben. „Schlichtes Kausaldenken okzidentaler Provenienz“ war ein beliebtes, ein sog. Z.‘sches Totalschlagargument, das seine Wirkung bislang noch nie verfehlt hatte. 
Das sollte sich an diesem Mittwochmittag grundlegend ändern:
 
„Ich ahne, worauf Sie hinauswollen: auf die in der Unendlichkeit sich schneidenden Parallelen nämlich. Habe ich recht?, fragte der junge Mann - Z. provozierend angrinsend. 

„Stimmt!“, antwortete Z. und holte Luft. „Schließlich sind wir ja hier, Methoden und Theorien zu diskutieren, die uns in die Lage versetzen sollen, Widersprüche aufzulösen.
 
„Ich verstehe“, sagte der junge Mann. „Etwa nach dem Schema: „ Die Lüge ist nur eine Option der Wahrheit". 

Lachen im Saal. 

„Stopp“, sagte Z. „Stopp! Mit Gelächter kommen Sie hier, bei mir, nicht weiter. Und überhaupt: Was ist Lachen schon anderes als eine dumme, eine prä-intellektuelle Übersprungshandlung? Im besten Fall noch Verlegenheit, wenn Sie so wollen. Und verlegen sein, das will doch schließlich keiner von uns. Der Herr hier hat übrigens völlig Recht: Es gibt in der Tat eine Methode, ein Instrument, dieses Paradoxon aufzulösen ... Hat jemand von Ihnen eine Idee?“ 

Z. sprach den jungen Mann jetzt direkt an: 

„Fühlen Sie sich von mir ausnahmsweise mal nicht angesprochen!“ 
Ratloses Schweigen, bis die Studentin, die Z. eben noch ans Bein gepinkelt hatte, sich ein Herz fasste und die von Z. suggerierte Antwort buchstäblich aus sich herausplatzen ließ: 

„Die Kunst selber!“ 
„Voilà, sagte Z., was soll ich dann noch hier? Sie haben doch ohnehin schon alles verstanden. “ 

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (16.10.20)
Das große Lalula eines Professors, dem allein sein Leben nicht ausreichend erscheint. Er muss sich durch die Hörsäle provozieren.
Ein gut erzähltes Abbild von einem, der sich und seine Meinung zum Gesetz erhebt und einigen wenigen, die sich davon inspiriert fühlen (wollen).

(Ich hoffe, du verstehst meine Süffisanz)

Aber: Wirklich gut erzählt! Nur leider auch nicht unrealistisch ...

Lotta

 tueichler (18.10.20)
Klasse erzählt und sehr gern gelesen! Herzlich willkommen im KV!

😎

 Harry meinte dazu am 18.10.20:
Freut mich sehr!

Bis demnächst!
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