Ein „Stübchen mit Extras“

Kurzgeschichte zum Thema Erwachsen werden

von  Thomas-Wiefelhaus

Am Nachmittag, einen Tag später, hockte Tomas wieder alleine, nur in Gesellschaft einer Matratze und eines Pinkeltopfes, mitten in der Zelle auf dem Fußboden und schaute die nackten Wände an, die immer noch so kahl waren, wie am ersten Tag, und ihre eintönige Farbe seit langem nicht verändert hatten.
Es kam plötzlich. Ohne Vorwarnung. Sein Kopf begann sich ohne seinen Willen zu bewegen. Einfach so.
Der Kopf, er tat es einfach und zog sich schmerzhaft weit nach hinten in den Nacken. Und jetzt, genau so plötzlich, stand der Kopf wieder gerade … war der Spuk vorbei.

Was ist das gewesen?

Nach ein, zwei Minuten zieht es den Kopf wieder nach hinten, tiefer als vorhin noch, doch dieses Mal zusätzlich schräg nach links verdreht. Die Spannung der Halsmuskulatur wächst über Sekunden an … bis sie ihr Maximum erreicht! Er stöhnt laut auf.
Darauf lässt die unwiderstehliche Kraft ihn überraschend los. Reflexartig rückt der Kopf wieder gerade, steht wieder so senkrecht auf den Schultern, wie Tomas es seinen Lebtag gewohnt war. – Eine halbe Minute, und die unheimlichen Erscheinungen starten erneut. Der Junge hat seinen eignen Kopf nicht mehr unter Kontrolle.
Tomas nimmt den Kopf zwischen die Hände, er hält, zerrt und drückt ihn in die Gegenrichtung, aber die mysteriöse Macht ist stärker als seine Arme, so dass sein Versuch, ihn festzuhalten, nur sehr mangelhaft gelingt. Der Kopf zieht sich bis tief tief tief in den Nacken hinein, – fast hat es den Anschein, dass er sich selber am Genick abbrechen möchte – dann lässt die unerklärliche Kraft ihn los … und fängt augenblicklich wieder an.

Diesmal will ES nicht aufhören!

Der Junge wirft sich auf die Matratze, er dreht sich zunächst auf die linke Seite, und stützt diesen Kopf, der ihm nicht mehr gehört! nicht mehr gehorcht! fest auf den Unterarm. Das hilft! Es lindert den Schmerz!
Doch jetzt wechseln die Krämpfe im Nacken plötzlich auf die Gegenseite. Sie zwingen den Kopf mit geheimnisvoller Gewalt unerbittlich nach rechts hinten, immer stärker, immer weiter, stärker und weiter; sie lassen ihn, wenn der Schmerz am größten ist, für Sekunden wieder los.
Tomas wirft sich herum, um die jetzt betroffene Seite abzustützen. Das Spiel beginnt, wieder und wieder, von vorn, wechselt mal weit nach links in den Nacken, dann nach rechts, wie es dem rätselhaften Zwang gerade so einfällt.
Der Junge versteht es nicht! Panik ergreift ihn: Ist er nun verrückt geworden? Oder gar von bösen Geistern besessen?
Erst klopft und dann tritt er wie wild gegen die Zellentür. Zehn Mal! Zwanzig Mal! Dreißig Mal! Wieder und wieder. Immer wieder. Doch niemand kommt.

Warum hört man ihn nicht?

Er tritt und klopft weiter, weiter, weiter. Die Schmerzen sind kaum zu ertragen. Die Nackenmuskulatur und auch der Rücken verkrampfen immer mehr. Er legt sich wieder hin, um den Kopf abzustützen, diesmal auf den Fußboden. Das schafft Erleichterung! Auf dem harten Boden gelingt das Abstützen besser, als auf der weichen Matratze.

Es dauerte lange, eine ganze lange Ewigkeit, so schien es ihm, aber in Wirklichkeit nur wenig mehr als eine halbe Stunde, bis sein Klopfen und Treten endlich gehört wurde.
Plötzliche Schritte. Geräuschvoll wurde die Tür aufgeschlossen. Draußen ein Pfleger.
„Was tun Sie da?“ fuhr er Tomas an.
„Bitte, helfen Sie mir!“
„Halten Sie den Kopf gerade!“ tadelte der Pfleger.
„Ich kann doch nicht anders!“ jammerte Tomas.
„Halten Sie ihren Kopf gerade! Ihre Mutter ist zu Besuch da; was soll die wohl denken?“
Also war der Pfleger doch nicht auf sein Klopfen hin gekommen! – Wie sollte er auch, die Stübchen lagen zu weit von der eigentlichen Station entfernt, und selbst das lauteste Klopfen war dort nicht zu hören …
… rein zufällig war er gekommen, nur weil seine Mutter auf Besuch da war. Wäre sie nicht gekommen, hätte er noch Stunden warten können.
Der Mann schimpfte immer energischer.
„Halten Sie endlich ihren Kopf gerade, das sieht ja widerwärtig aus! Richtig ekelhaft! – Als sei ihr Hals gebrochen! Schauderhaft!“ Er schüttelte sich. „Was soll denn wohl ihre Mutter denken, wenn sie Sie so sieht!?“
„Die möchte ich jetzt auch nicht sehen!“ erklärte Tomas.
Während der Mann weiterhin schimpfte „Lassen Sie das sein! Wie das nur aussieht?!“ und immer heftiger auf Tomas einredete; ohne dass der in seinen Augen kranke Patient, diesen gutgemeinten Ratschlägen nur im Mindesten gefolgt wäre; erschien im Türrahmen ein zweiter Pfleger. Er schaute kurz zu, dann winkte er seinen Kollegen auf den Flur hinaus. Tomas hörte die beiden vor der Zellentür miteinander reden.
Sie sprachen da draußen nicht mit, sondern über ihn!
Obwohl ihre Worte nicht für seine Ohren bestimmt waren, konnte Tomas manches aufschnappen: „… nein, er kann nichts dafür … die Tabletten …“
Die Medikamente waren also die Ursache für das, was gerade mit ihm passierte …

Während die beiden noch draußen lamentieren, und Tomas drinnen mit dem eigenen Kopf kämpft, kommt der schwarzhaarige Pfleger mit den langen Koteletten, den Tomas mittlerweile insgeheim „das Kotelett“ nennt, mit hastigen Schritten in die Zelle. Er erkennt, mit einem Blick, die Bescherung.
„Das kommt, weil Sie ihre Tabletten nicht nehmen!“ raunzt er Tomas an. Suchend blickt er auf dem Zellenboden umher und findet – richtig! – auch sofort ein paar der ausgespuckten weißen Tabletten. Er verlässt mit schnellen Schritten die Zelle, wechselt mit den beiden da draußen noch ein paar kurze, polternde, unverständliche Sätze, – um dann bald mit einem stählernen Pillenschälchen zurück zukommen. Zwei der weißen Tabletten liegen darin.
„Die müssen Sie jetzt nehmen!“ sagt ‚das Kotelett‘ barsch. „Das ist gegen den schiefen Hals!“
Mehr sagte der Pfleger nicht dazu.

Ein anderer Pfleger, mit ungleich mehr Verständnis, erklärte es Tomas später genauer: „Sie hatten Extras!“
„Extras?“
„Ja, so werden von den Kollegen diese Nebenwirkungen genannt. Eigentlich heißt es ja extrapyramidale Störungen, aber wir sagen immer ‚Extras‘ dazu. Weil das kürzer ist!“
„Extrapyramidale? Was heißt das?“
Der Pfleger erklärte es Tomas in etwa so (alle Mediziner bitte einmal weghören!): „Es gibt, irgendwo zwischen Gehirn und Wirbelsäule, eine Art Schaltzentrale, die man auch „die Pyramiden“ nennt. Durch die Medikamente können dort Signale fehlgeleitet werden. Das bedeutet, dass die unwillkürlichen Signale oder Befehle, die vielleicht die Darmbewegung steuern sollten, unter Umständen ganz woanders im Körper ankommen. Und dort verursachen sie wiederum unwillkürliche Bewegungen und Krämpfe. Meistens spüren es die Patienten zuerst im Hals oder im Nacken. Das nennen wir auch ‚Schiefhals‘. Die weißen Tabletten, die Sie bekommen, heißen Akineton und sind ein Mittel gegen diese Nebenwirkungen, damit Sie keine ‚Extras‘ bekommen.“
„Jetzt sitze ich hier in einem ‚Stübchen‘ und bekomme zusätzliche ‚Extras‘ serviert“, sagte Tomas. „Man könnte meinen, dass es mir richtig gut geht!“
Der Pfleger lachte.


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Hier wird wohl klar, warum ich keine Verniedlichungsformen und Verniedlichungen an falscher Stelle leiden mag!

Es sollten nicht die letzten "Extras" in ganz unterschiedlichen Formen bleiben.

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Kommentare zu diesem Text


 franky (25.10.20)
Hi lieber Thomas

Nichts für zartbesaitete Seelen, hier wird scharf geschossen.
Beeindruckende Bilder!

Grüße in den Sonntag von Franky
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