Der Tag ... an dem ich dümmer aus der Wäsche schaute, als mein Sparbuch es je tat!

Erzählung zum Thema Behinderung

von  Thomas-Wiefelhaus

Leute, schaut her, ich hab Geld. Nicht all zu viel, aber ich hab Geld über! Ein seltener Fall, aber nun gilt es zu überlegen, was damit zu tun ist? Ich könnte! Ich könnte einen kleinen Urlaub machen, Freunde einladen, Essen gehen, mir ein neues schickes Fahrrad besorgen, mich von Kopf bis Fuß neu einkleiden! Vielleicht Spenden? Oder Roulette spielen? Oder besser doch nicht?

Ich gebe zu, die Geschichte ist schon eine Weile her. Seinerzeit wurde noch in harten D-Mark bezahlt! Es war also so ungefähr in der letzten Dekade des vergangenen Jahrtausends.
Damals war ich – in zugegebener Weise – wohl nicht galoppierend kreativ, was das Geld ausgeben betraf: ein neues Sparbuch musste her!

Also betrat ich eine kleine Sparkasse. Es roch nicht ungewöhnlich, jedenfalls hatte ich den Brand noch nicht gerochen. Hab auch kein Fluchtauto vor der Tür gesehen, oder ähnliche Dinge, irgendetwas Ungewöhnliches, was einen Sparkassen-Besuch unvergesslich machen könnte.
Aber, der junge Mann, der mich begrüßte und nach meinen Wünschen fragte, hatte kurze Arme. Sehr kurze Arme. Das fiel mir gleich auf. Contergan, nahm ich an.
Er fragte mich nach meinen Wünschen und holte eine Schreibmaschine ran. Keinen Computer, keine elektrische Maschine, eine stabile mechanische Schreibmaschine, wie sie heute kaum noch jemand kennt. Ich frage mich, ob jüngeren Zeitgenossen damit überhaupt noch umgehen könnten? Und ob sie noch im Ohr haben, wie sich die anhörten?

Ich sah auf die kurzen Arme und auf die Maschine, das könnte nie klappen! Wie sollte das zusammengehen? Wollte gerade fragen, ob ich helfen soll, mein eigenes Sparkassenbuch auszufüllen, da zog der junge Mann sich beide Schuhe aus. Er hatte Strümpfe an den Füßen, welche die Zehen frei ließen. Nahm das Sparkassenbuch mit dem linken Fuß, steckte es in die Maschine und drehte mit dem großen Onkel am rechten Fuß die Walze. Dann begann er im zwei Zehenmodus zu tippen. Klack, klack, klack, klack!

Mein Mund stand offen. Blieb offen stehen. Damals habe ich wohl nicht sehr intelligent aus der Wäsche geschaut?! Wie viele dumm dreinschauend Gesichter hatte der junge Mann bereits gesehen? Aber er tat so, als sehe er´s nicht. Er war ja auch beschäftigt! Klack, klack, klack, ratsch, ratsch, ratsch! Mit wie viel Gefühl sein rechter großer Onkel die Walze in die richtige Position drehte. Immer wieder ratsch, ratsch, Zahn für Zahn! Für das Drehen brauche ich zwei Finger. Er schaffte es mit einem Zeh! Nicht allein mein Mund, auch die Augen waren aufgerissen. Klack, klack, klack, klack, ratsch, ratsch, ratsch! Ring, Ring, Ring! Fertig!

Mit zwei dicken großen Onkels die Tasten treffen? Vollkommen Zielsicher? Schreibmaschinen haben keine Löschfunktion! Von daher war es gut und richtig, dass nicht ich mein eigenes Sparkassenbuch ausgefüllt habe. – Ich hätte gleich wieder einen Tippfehler fabriziert! Aber ich benutze die Finger!

Hab mal gehört, die Contergan-geschädigten Kinder aus meiner Stadt seien alle gemeinsam unterrichtet worden? Keine Inklusion, sondern eine Exklusion. Bin mir nicht ganz sicher, ob das stimmt, aber habe beobachtet, dass sie sehr selbstbewusst auftreten. Etwa bei zwei Schwestern aus der Nachbarschaft: die Contergan-geschädigte ist die selbst bewusstere. Demnach war die Exklusion hier nicht verkehrt.

Irgendwann kam ein anderer Tag. Der Tag, an dem mein Sparkassenbuch wieder leer war und entwertet wurde. Es wurde, klack, klack, klack, mit unschönen sternförmigen Löchern perforiert, die sagten, auf mich soll nie wieder Geld eingezahlt werden. Und das arme Buch schaute, an diesem Tag, reichlich dumm aus der Wäsche. Es sah mich vorwurfsvoll an. Stellte mir Fragen:
"Warum hat mein Besitzer mich nicht aufgehoben? Warum hat er nicht wenigstens ein kleinen Ehren-Euro auf mir stehen gelassen? Auch wenn das die Sparkasse ärgert! Warum hat er nicht erkannt, dass ich einen moralischen Wert habe und mich aufbewahrt?"

Ehrlich gesagt, es fällt mir schwer, heute diese Fragen zu beantworten! Aber die Erinnerung ist mir geblieben. Nicht die Erinnerung an den Tag, als mein mit den Füßen getipptes Sparkassenbuch starb, aber die Erinnerung an den Tag, als ich dümmer aus der Wäsche schaute, als es je ein noch so leeres oder sterbende Sparkassenbuch hätte tun können. – An den Tag, an dem es geboren wurde!


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Damals war es noch nicht wie heute! Heute sagen einem ja die Sparkassen-Angestellten, was man mit seinem Geld-Überschuss machen darf, und was nicht. Man kann nicht einfach so ein Sparbuch eröffnen und schon gar nicht zwei. Schließlich müssen die Kassen auf ihre Gewinne achten. Damals durfte man darüber noch allein entscheiden. Mitspracherecht nennt man das!

Draußen, denke ich heute, man hätte ja wenigstens eine Warntafel aufstellen können! Beispielsweise mit dem Hinweis: 

Warnung! Bitte vergessen Sie nicht, ihren Mund, beim Verlassen ihrer Sparkasse, wieder zu zuklappen!

Damit Ihnen keine dicke Hummeln in den Hals fliegen!

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (31.10.20)
Ich kann mir vorstellen, dass diese Erzählung Behinderten gefällt, denn sie kommt weder moralisierend noch mitleidheischend daher.
LG
Ekki
LG
Ekki

 Dieter_Rotmund (31.10.20)
Ich frage mich eher, was das Komma in der Überschrift soll?

 Willibald meinte dazu am 07.12.20:
Das fragt der Richtige.

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 07.12.20:
Danke. Ich bin gerne "der Richtige".
Al-Badri_Sigrun (61)
(01.11.20)
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 Thomas-Wiefelhaus schrieb daraufhin am 02.11.20:
Wie es für mich schon im Wort "Behinderung" verankert ist: Hindernisse überwinden!
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