Da war kein guter Gott bei dem in Wien

Sonett zum Thema Terror

von  Walther

Da war kein guter Gott bei dem in Wien

Die Frage kennt nur noch ihr Widerhallen:
Ob Gott ein Gott ist, der die Mörder ruft.
Ob Gott ein Gott ist, der mit lautem Knallen
Von Karabinern beten lässt. Ein Schuft

Wär dieser Gott, kein Herr der Welt, kein Zeichen
Von Menschenliebe, Schöpfungsliebe: Nein,
Er würde nur den schlimmsten Teufeln gleichen.
Kein Engel würde mit und um ihn sein,

Und keine Jungfrau würde ihn erwarten.
Das Paradies wär nicht und auch kein Eden;
Die Liebe würde blank zum Hass entarten,
Und alle hassten sich und jeder jeden.

Da war kein guter Gott bei dem in Wien,
Weil alle guten Geister Mörder fliehn.

02.11.2020


Anmerkung von Walther:

Englisches Sonnet

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Terminator (11.11.20)
Dieses Sonett zeigt, dass Gedankengedichte auch schön geschrieben sein können. Eigentlich das erste schön geschriebene Gedankengedicht, das ich auf dieser Internetspielwiese entdecke. Besonders gefällt mir:

"Kein Engel würde mit und um ihn sein,

Und keine Jungfrau würde ihn erwarten."

Das zeigt die verstandene Tiefe der ursprünglichsten Verbindung des Schönen mit dem Guten.

 Walther meinte dazu am 11.11.20:
lb Terminator/in,

der bescheidene sonnet-dilettant dankt sehr herzlich für die empfehlungen - auch für die von AZU2O, Lotta Manguetti und blackdove.

gedankengedicht - und dann diese vielen komplimente. puh. da mußte ich mich erstmal setzen, geistig, physisch saß ich schon. OK. das sonnet (kontinental: sonett) ist eine diskursive gedichtform. sie bietet sich also für das wälzen schwerer gedanken (und gefühle, auch: glaubensfragen) regelrecht an. es ist also für alle welterklärungs- und verbesserungsversuche geradezu eine permanente einladung. ich habe versucht, diese einladung anzunehmen und mich ihr würdig zu erweisen.

in der tat ist das schöne und das gute eng verknüpft. mord ist nie schön. daraus kann nicht geschlossen werden, daß er auch nicht gut sei. schönheit kann täuschen. Gutsein und Güte, wenn sie ehrlich sind, nie.

das paradoxon des glaubenskriegs, der selbstmordattentäter habe den schlüssel zum paradies, zum kulminationspunkt von schön und gut, ist derart verrückt, daß es einen sprachlos machte, hätte man nicht gerade die rettung zur hand: das sonnet/sonett, das schönste und perfekteste und größte, was die europäische formlyrik erschaffen hat - und das wir in seiner englischen form dem genie und menschendurchschauer William Shakespeare wesentlich verdanken. Thank you, William.

ich danke dir, daß du diesen text einen kurzen moment vorm absturz ins internettische vergessen bewahrt hast. gedruckt wird es nie werden, weil die zeit für solche texte in deutschland nicht ist.

lg W.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram