Místàí

Epos zum Thema Traum/ Träume

von  Terminator

1. Sonntags um 12

Ich muss da wieder runter. Nicht wie damals in Hannover: in einem ungesicherten Lift schlechter als Recht zum 99. Stock hochgefahren, dann die Kontaktperson im Café verloren, um mich in einer fremden Wohnung voller Süßigkeiten, Kuscheltieren und all dem Zeug wiederzufinden, in einer Art Trance, wie auf Entzug von Gott weiß welcher Droge.

Der Vierzigste. Runter. Runter. Ins Treppenhaus. Runter. Der Dreißigste. Angst. Das geht mir durch den Kopf. Es gibt kein Gebäude in Hannover mit 99 Stockwerken. Ich darf nicht dran denken. Runter. Der Zwanzigste. Runter. Runter. Da ist eine Absperrung, da komme ich nicht weiter. Eine nette junge Dame. Wonach fragt sie mich? Was will sie? Nein, diese Bescheinigung habe ich nicht. Nein, ich warte nicht hinter der Absperrung. Leihen Sie mir ihren Wagen, diese rotbraune Dreckskarre, damit ich an diesem gottverdammten Sonntag noch hier weg komme? Warum kann ich nicht weg? Natürlich kann ich weg. Ich kann... Bin...


2. Fleischwolf hinten im Puff

Sobald ich dran denke, verflüssigt es sich. Durchs Denken tu ich es verunwirklichen, ich muss weniger denken und mehr handeln. Da ist niemand in der Sporthalle. Die Klasse sitzt im Raum 315, ich finde den nicht. Dicht bepackter Schwimmbad, ich stehe am Rand des Beckens, lehne mich an eine Fensterbank.

Lacht über mich, ich bin nackt, ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht sprechen. Mit aller Kraft drücke ich die Luft aus den Lungen und kriege keine. Leise, fast unhörbar, würge ich aus mir, dass ich doch ein großer Fan von van Persie bin und von Holland überhaupt. Der Typ guckt so verlogen, so herablassend, ich fange an, Holland zu hassen. Aber es ist nur sein Trikot. Ich springe vom Zug. Mit den Füßen sauber die Wand angesprungen und dann runter. In den Laden rein. Da ist ein kleines Schwimmbecken, aber ohne Wasser. In der Sauna da ist es besetzt. Ich gehe wieder. Aber erst nach fünf Stunden.

Die Blackouts peinigen mich. Ich bin machtlos. Verloren. Wenn das Berlin ist, so muss es hier sein, direkt hinter diesem Haus. Ein brachliegendes Gelände im Zentrum der Stadt, ein altes sowjetisches Gebäude, ein russischer Markt. Die Korridore verengen sich. Ich fühle mich wie dort an der Christuskirche, als wir in den Puff gingen, wo im dunkelrotem Licht ein Gehweg ausgelegt war, immer gerade aus. Keine Seitengänge. Der Gehweg wurde immer enger, der grün-rote Teppich bewegte sich selbst, der ganze Boden bewegte sich, wir fuhren nach vorne, am Rand blieben nackte Menschenmassen in Akten verschiedener Art, ganz am Ende dann wurde es so eng, dass wir uns an die nackten verschwitzen Körper quietschten, um zu erfahren, dass der Weg in einem Fleischwolf endete. Wie wir da wieder raus kamen, weiß ich nicht. Blackout.


3. Lichthölle

Es sind immer dieselben Orte. Dieselben Dinge, die auffallen. Die mich wieder an diese Orte versetzen. Es sind die Kurilen. Ein Internat, ein rechteckiges Gehege, alles so sauber, so akkurat. Und eine kleine Eisenbahnstecke auf dem Gelände. Immer werde ich mit einem Kleinbus dahin gebracht. Diese Straße, sie verheißt mehr, doch bringt mich nie weiter als auf dieses Internatsgelände.

"Sind Sie ein naher Verwandter?" "Bin ich. Wie geht es ihr?" "Die Ärzte versuchen, sie zusammenzuflicken". In der Tat. Es ist ein Raum mit weißen blutverschmierten Kacheln, ein Raum voller Menschenfleisch, voller zerrissener Körperteile. Ein Schlachthof. Ärtze sortieren die Körperteile, wir sind gekommen, um bei der Identifikation behilflich zu sein. "Es wird alles gut, wenn wir es rechtzeitig schaffen, ihren Kopf ausfindig zu machen". In der Tat, das tröstet. Doch wo ist ihr Kopf? Die Lehrerin hat ihn. Und sie wartet, bis dieses Stück Fleisch nicht mehr lebt. Eine Sache von wenigen Minuten. Doch was hat all diese Körper so zerfetzt? Ein Unfall angeblich. Frontaler Zusammenstoß mit einem Riesenlaster. Eine Klassenfahrt, die in diesem Schlachthof endet.

Das Licht ist die wahre Dunkelheit. Sage. Schreibe. Protokolliere. Ich schwöre bei allein Göttern, es ist der millionste Stock. Nicht der Tausendste. Und damit bin ich direkt bei Gott und kann nicht runter. Die Ärzte operieren, meine Seele schleicht ins Treppenhaus, doch wird von der überdimensionalen Flurlampe geblendet. Ich krieche runter, es fällt schwerer als hochzusteigen. Der 999999-ste Stock. Das grelle weiße Licht paralysiert mich. Ich krieche weiter die Treppe runter. Es ist die Hölle.


4. Soul Loser

Die Erinnerungsfetzen sind zu widersprüchlich, es ergibt einfach kein Kontinuum. Mein Leben verläuft diskret. Da ist eine Ausstellung, nichts wie hin. Riesige Betonblöcke in Holzfarbe, sie ragen hoch in den Himmel. Ich komme mir zwischen ihnen so verloren vor. Mein Leben. Meine beruflichen Aussichten. Ein so langer Weg bis zum Ziel, ich schaffe es nicht. Der Himmel verdunkelt sich. Es wird nicht regnen. Es wird nur Nacht. Für immer.

Nein, das werden mir meine Sünden niemals verzeihen. Ich setze mich auf den Sockel des Denkmals, in den Nachthimmel ragt eine eherne Philosophengestalt. Es ist nicht Schopenhauer. "Es ist aus" sagt Leo. "Nein, es kann nicht". Aber ich fühle was er sagt. Eine so tiefe Schlucht zwischen mir und der Hoffnung, dass mir das Argumentieren vergeht. Der Professor starrt in den schwarz verhüllten Höllenhimmel. Ich stehe auf. "Kommt" sage ich. Sie folgen mir, sie sind wie ich alle im dritten Semester, aber nur drei haben Philosophie als Hauptfach.

Es ist ein Bankgebäude im Zentrum der Stadt. Wir gehen rein, ich dränge darauf, sofort in den zweiten Stock zu steigen und alle Aufgänge zu verriegeln. Es ist zu spät. Sie sind uns nachgefolgt. Hunderte Geisteskranke werfen mit Steinen nach uns, einige Wahnsinnige schießen mit Gewehren auf uns. Ich werde getroffen. Ich krieche. Ich will nicht aufgeben. Es hat doch gerade erst angefangen. "Wenn du einer von ihnen wirst, kann dich keiner mehr aufhalten" sagt ein Kollege und will mich mit einem Messer erstechen.

Zu unentschlossen, sein Pech, ich erledige ihn und erwürge sogleich seinen Freund. Leo eilt herbei und zieht mich in den Fahrstuhl... Die Wahnsinnigen haben die Herrschaft übernommen. Unsere Stadt wurde von der Hölle eingemeindet und die Höllenbürger strömen aus allen Ecken der Hölle hierher. Ganz oben, ab Stock 60 aufwärts, da besteht eine Chance, sich dauerhaft in Sicherheit zu bringen. Aber dieses Bankgebäude hat nur 18 Stockwerke. Runter. Runter und wieder hoch. Kommt mir irgendwie bekannt vor.


5. Abgeburt

Meine Sünden. Ich lasse meine verfaulenden Organe ständig ersetzen. Ich habe meiner Nichte die Leber aus dem Leib geschnitten, sonst geht es ihr gut. Im Fernsehen lief ein Bericht über einen schweren Unfall auf der A2. Klassenfahrt. Sie ist auf Klassenfahrt. Wo ist es passiert? Zwischen Braunschweig und Helmstedt? Ich guck auf die Uhr. Da müssten sie gerade vorbeigefahren sein...

Ich gehe über eine lange Hängebrücke und das Wasser unter mir will nicht enden. Es wird immer mehr, es steigt immer höher. Die Hängebrücke, sie hängt in der Luft. Sie ist endlos lang. Es ist aussichtslos. Der Ozean wird mich verschlingen.

Mülldeponie. Am Waldrand. Wir wenden. Leo ist ein guter Fahrer. Wir werfen die leeren Bierflaschen weg und verschwinden. Ein gelber Opel Tigra fährt in den Wald. Es müsste gleich in Strömen regnen. Die Dämme werden brechen, sagt Leo.

Wenn dem so ist, müssen wir das Mädchen holen. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich nenne sie Kleinika. Nach Regen sieht es nicht aus. Leo? Es ist kein Regen. Egal. Eine Nacht drüber schlafen schadet nicht. Das Monster in der Grube bei der Mülldeponie, es gräbt sich ein in den Waldboden, es ist halb Mensch halb Käfer, es frisst die Gliedmaßen ihres Kindes. Sie schält die Haut vom Schädel ihres Neugeborenen ab und knackt den Schädel wie eine Kokosnuss. Ich kenne sie irgendwoher, dieser Alptraum kommt mir bekannt vor.


6. Die Lichtfresser

Alles ist gut. Die Straße nach Göttingen wird gebaut. Fahrstuhl? Nein, ich nehme die Treppe. Ich renne hoch, so leichtfüßig, als würde ich fliegen. Ich bin nun da, und keiner außer mir. Hallo? Was ist das für ein Gebäude? Warum sieht es hier im siebzigsten Stock so aus wie in meiner alten Schule? Ich renne durch die Korridore, ich renne ins Lehrerzimmer. Die Sonne scheint so hell, doch es ist dunkel. Es ist tiefe Nacht dort draußen, die Schwärze dieser abgrundtiefen Nacht dringt durch die Fenster in den Raum ein, und trotzem scheint die Sonne.

Die Angst ist lähmend. Ich krieche unter den großen Tisch. Tage vergehen. Ich suche Licht. Vergleblich suche ich Licht. Kaum eingeschaltet, erlischen die Lampen. Ich schlafwandle durch alle Zimmer und mache an das Licht, doch das Licht ist so dunkel. Die Lichtfresser sind schon da, sie lauern, die kalte Angst frisst sich durch die Knochen. Was sagst du, Leo? Ein Unglück in der U-Bahn? Ich habe ein Metallrohr in der Birne? Mein Sehzentrum ist beschädigt? Leo? Da lacht der Teufel. Da ist kein Leo. Ich bilde mir den Leo nur ein. Und es nützt nichts, dass ich alles rationalisiere, zu dieser psychologischen Beruhigungspille greife, um nicht zu glauben, dass die Realität wirklich ist. Die Angst und der Zweifel. Es nützt nichts, für alles eine logische Erklärung zu finden. Sie muss auch wahr sein. Die Lichtfresser tragen mich fort in den Abgrund, und alles wird eins, die Gestalten und ihre Schatten.


7. Flasher

Und noch ein Blitz. Fürchte dich nicht, wir schaffen es, Kleinika. Der Himmel variiert von dunkelstahlblau zu pechschwarz. Unser alter Jeep fährt eine Gasse hoch. Vorsicht, da wo die Leitplanke war, da blitzt es wieder. Gesehen? Von Metall zu Metall, quer über die Straße. Das hätte unseren Jeep in Brand gesetzt.

Es ist heiß. Da steigt schwarzer Rauch auf. Dichter schwarzer Rauch, ein Blitz schlug da eben ein. Das Haus steht in Flammen. Ist das unser Haus? Kleinika, deine Großeltern sind tot. Wir müssen durchs Dorf fahren. Überall Menschen in Panik, die engen Straßen verperrt. Und noch ein Blitz. Eine Frau geht in Flammen auf. Kleinika, sieh nicht hin. Es wird noch viel schlimmer. Das Gefühl, dass es zwecklos ist, entkommen zu wollen, lässt selbst in dieser Hitze bis auf die Knochen frieren. Kannst du weiter fahren? Bist du ohnmächtig? Kleinika, er ist tot. Tür auf, Leiche raus. Komm her, setz dich nach vorne. Halt meine Hand. Meine Angst wird dich kühlen. Haben wir noch Benzin? Es riecht nach Benzin. Die Kanister. Unsere Lebensversicherung. Und unser Blitzableiter. Wollen wir es riskieren?

Da, wo wir hinfahren, von da strömen verbrannte Menschenmassen in unser Dorf. Gesichter leerer Hoffnung. Verkohlte Kinderleichen am Straßenrand. Sie. Diejenige, welche. Damals im Skycraper, im 18.Stock. Sie wollte die Polizei holen. Gestern hat sie mich nicht zu dir gelassen. Gestern im Schulgebäude, dort, wo wir einen Film sehen wollten, ich kann mich so bruchstückhaft daran erinnern, als wäre es Jahrzehnte her. Sie hat ihr Kind abgetrieben. In der Grube zwischen der Mülldeponie und dem Waldstück. Heute Vormittag sind Leo und ich dort vorbeigefahren. Der nackte Horror hat uns ergriffen. Ich glaube sogar, ich bin immer noch auf diesem Horrortrip - dieser frische gespaltene Kinderschädel, die Schädelknochen sauber getrennt - das tat sie als das Kind noch lebte -, das Hirn hat sie wahrscheinlich aufgegessen. Da fahren wir nun vorbei. Nichts als verbrannter Wald. Die Menschenmasse lichtet sich. Schöne, pechschwarze, frisch asphaltierte Straße. Vierspurig. Kein Gegenverkehr. Und wahrscheinlich auch keiner mehr hinter uns.

Wach auf, Kleinika, es ist endlich Wüste. Hier kann nichts mehr brennen. Lass uns die Kühltruhe aus dem Kofferraum holen und unser Abendbrot essen, bevor die Blitze hierherkommen und den Boden zerreißen, und Lava hochquillt, der Himmel, der eben noch graublau war, färbt sich wieder stählern und der ganze Horizont ist schon pechschwarz...


8. Invasion der Wesen

Die nächsten vier. Ich kam mit in die Kabine, die in einer Kreisbahn rund um den Schulkomplex nach unten fuhr. Ich stand neben diesem Mädchen, und es wahr vielmehr viel mehr. Die Fahrt war schnell zu Ende, ein Starfotograf verlangte 125 Euro pro Foto. Ich zückte das Portemonnaie, konnte die vielen Fünfziger von den Zehneuroscheinen nicht so recht unterscheiden. Ich gab ihm das Money, er zeigte mir das Foto. Wir standen nicht, wir saßen, und ich rieb mir die Augen auf dem Bild. Ich verlangte mein Geld zurück, der Fotograf protestierte. Ich nannte seine Kunst beschämend, doch schämen tat er sich nicht, denn er war ein Starfotograf.

Etwas später am Abend im Hauptgebäude der Schule: ich wartete, bis alle weg, bis unsere Leute kamen. Ich versteckte mich vor Suchern der Fremdlinge. Im vierten Stock dann, als es draußen dunkel wurde, konnte ich aufrecht gehen, ohne Umwege. - Aber ein Vorfall zu Hause. Ich ging kurz hin, da gruben mittelamerikanische Sicherheitskräfte ein sehr akkurates rechteckiges Loch in die feuchte Erde vor dem Haus. Im Fernsehen liefen immer wieder die Bilder von der Erschießung einer etwa einen Meter hohen, sehr dünnen und fast formlosen Gestalt von einem Soldaten. Dieses schwarze Etwas erinnerte nur vage an einen Menschen, ein Kind war es nicht, wie der Nachrichtensprecher meinte, aber auch kein Alien. Alle Kommentare meiner Verwandten und Bekannten und Unbekannten wies ich schroff ab. Unsinn. Es gibt sie nicht. Ich guckte aus dem Fenster ins akkurate Loch. Es geht um Drogen. Es geht um Waffen. Gestern ist eine Bombe auf dem Polizeirevier explodiert. Eine Jugendbande aus Honduras hatte sich in unserem Quartal breit gemacht. Die Dinge sind manchmal einfacher als sie sind.

In der Toilette oberhalb der Tür in der Ecke hing ein Spinnennetz. Dort bewegte sich ein formloses Etwas, ich hielt es zunächst für eine gewöhnliche Larve. Wie die dahinkam, war egal. Sie war nur ekelhaft und ich wollte einen Gegenstand holen, mit dem ich das Ding dort weg..., doch... es war jetzt größer. Formlos und pink. Eine Seite von dem Ding färbte sich immer wieder rot. Es war nunmehr nicht bloss ekelhaft, sondern noch bedrohlich dazu. Ich suchte nach einem Plastikbehälter mit Deckel, um das Ding da rein zu bekommen, fand aber nichts, und schaute mir das Ding immer wieder an. Es versuchte womöglich, mit mir zu kommunizieren, schneidete sehr primitive Grimmassen. Schließlich fand ich eine andere Lösung. In einen festen Buchumschlag rein, zuklappen, runterspülen. Ich hab zu tun. Die Aliens könnt ihr auf CNN zeigen, nicht bei mir zu Hause. Es war natürlich keins. Die Angst hat nur eine reichere Phantasie als die Vernunft. Da war noch so ein Ding. Schwarz, viel kleiner, hing an der Jalousie. Es nervte, denn ich musste langsam weg.

Alles wird gut, sagte ich. Die kleinen Dinger einfach erschlagen und runterspülen. Nicht warten, bis sie sich auswachsen. Auf dem Weg ins Hauptgebäude dachte ich, es hatte keinen Mund, aber diese Seite, die immer wieder rot wurde - vielleicht verschlang es andere Lebewesen auf zellularer Ebene, durch Kontakt. Es berührt dich, klebt sich an dir fest, und deine Zellen beginnen überzulaufen. Werden ein Teil von ihm, die DNA wird neu programmiert. Jetzt gehts aber hoch. Vor Fahrstühlen hab ich Angst, ich nehme die Treppe. Zwanzig Stockwerke hochrennen, dann sehen wir weiter...


9. Winderinnerung

Aus der Wirklichtraum, der Wecker achtet nullnull mit dem Ziel Kunsthochschulhochhaus. Ich lasse mir Zeit zum Abschlafen und beeile mich dann doch. Halb neun, die hohlen eisernen Skulpturen auf dem Hof. Kurz vor neun geh ich rein. Geträumt habe ich nur dass wir eine Wohnung im zehnten Stock hatten und im Fernsehen eine Orkanwarnung lief, es hiess, in der Stadt, von wo zu uns der Orkan, seien viele Wohnblöcke umgekippt. Aus dem Fenster, und es war zweiundzwanzig Uhr, sah ich, wie der Nachbarblock heftig schaukelte; der Zehnstöcker brach schliesslich zusammen. Die Wände schwankten, alle sassen am Tisch und der Fernseher lief weiter, und wir sagten uns nichts, und noch ein Nachbarblock fiel zur Seite, und der unsere schaukelte nun sehr heftig. Als ich die Worte, das wars nun, sprach, war ich erleichtert. Und aufgewacht.

Wie spät? Neun. Vierunddreissigster Stock. Ein privater Raum. Wo ist die Zeit geblieben? Was habe ich die dreizehn Stunden gemacht? Im Fenster leuchtet die Stadt, ganz unten, ich mache das Licht aus, und dieses Mädchen sitzt und sitzt nicht neben mir; sie ist da, Augen sehen, Ohren hören sie nicht, aber das Gefühl sagt, sie ist da, und ich mache behutsam das Licht aus und gehe aus ihrem Zimmer. Im Korridor bei den Fahrstühlen Wachpersonal mit vielen Schlüsseln und umgehängten Ketten, die Typen tragen interessante orangene Jacken, als wollten sie damit ins Wasser. Das Hochhaus wird evakuiert. Wo meine Fahrräder sind? Warum mehrere? Ich kann keine mehreren Fahrräder fahren. Es ist zehn Uhr am späten Abend, muss Winter sein. Die Fahrstühle funktionieren nicht, das Wachpersonal nahm eine Notleiter nach Unten. Wer noch oben ist, schalte den Fernseher ein.


10. Das letztlich Unvermeidliche

Links vom Haus muss die Querstrasse sein, aber da steht ein Haus und verweigert den Blick. Warum wir wieder dort wohnen, leuchtet mir nicht ein, wir müssten 5000 Kilometer westlicher sein. Im Haus sieht es nach die Eltern haben sich gestritten oder nach Umzug aus; die Nachbarn so verzweifelt, wie ich nie Gesichter gesehen habe, und von der Seite, die ihr Haus zustellt, schwimmen unnatürliche dunkle Wolken herbei. Thermonukleare Hitze ist in der Luft, doch es ist kühl. Hinter den Wolken formt sich jetzt ein Feuerball, bald wird das Feuer hier sein. Der Sohn der Nachbarin, der älteste, er ist 15, weint und heult, so traurig kann man unter 18 eigentlich nicht sein. Die jüngeren Kinder weinen ohne zu wissen warum, und die Oma sieht das Ende der Welt gekommen. Ich werfe meine ganze akademische Autorität in den Ring. Nein, das war keine Atomexplosion. Der Junge irrt. Dankende und ungläubige Blicke, ich scheuche dennoch die Meinen ins Haus, wie ein vorsichtiger Hirte. Geht in euer Haus, rufe ich zu den Nachbarn. Da leuchtet die ganze Seite des Himmels, die das Nachbarhaus verdeckt, hell auf. Das war deutlich näher als vorher. Wir gehen rein, gleich in den Keller. Jetzt war es eine Atomexplosion, sage ich mit ruhiger und fester Stimme.

Alle so apathisch. Wieso? Los, tragt die Matratzen in den Keller. Da sind noch Bonbons, Schokolade. Eine halbe Flasche Macallan habe ich noch irgendwo stehen - trinken wir den jetzt? Lange Gesichter, keiner fasst mit an. Nur ein verirrter Gedanke in mir scheint die Anderen zu verstehen - nicht noch so ein Blitz! Die Matratzen sind alle nass, im Keller ist Wasser. Alle Fenster offen, alle Türen auf, und keiner rührt sich. Auf wen fallen denn die Atombomben, auf euch oder auf mich, möchte man rügen. Ich gehe Kleinika holen, das muss gestern sein. Gestern ist in Richtung Hauptstrasse, der anderen Sonne entgegen.


11. Der Weg ist eine Neugier

Ein Ort zwei Fahrradstunden von Hannover, ein dreistöckiger Wohnblock, ein Keller. Nichts ahnend, gehe ich durch eine Tür, der Gang weist eine Neigung um fünf bis zehn Grad nach Unten auf, es geht noch weiter, viel weiter, ich folge dem Gang. Wie ich wieder zurückfinde, daran denke ich nicht, der Gang wird zum Labyrinth, und endet abrupt. Eine Schwimmhalle ohne Fenster und Türen, tief unter der Erde. Es ist voll. Mühsam erkämpfe ich mir einen Platz an der Wandbank hinten, ehe sich der Becken mit Blut fühlt und überquillt.

Sie war Anfang 20, du solltest mit ihr reden, sagt mir mein Ersatzgewissen, eine ständige Vertretung der Anderen in meinem Kopf. Ich sitze auf der Schaukel und sie etwas abseits, wartend, 15 oder 16. Sie hat sich fast vollständig wiederhergestellt, die helle Blondine. Wenn sie es so ernst meint, sollte ich tatsächlich mit ihr reden. Wir verstehen uns ohne Worte, tauschen Gedanken aus und sind zufrieden. Ich verzeihe ihr die Kollaboration. War nicht ihre Schuld, sie war damals erst 14.

Eine Schule dies, so wundere ich mich. Ein langer Gang einer Lagerhalle, doch ich komme dorthin zurück. Ich habe meine Erinnerung im Hochhaus gelassen, jetzt muss ich schnell den Zug nehmen. Der Zug fährt wohin er will, am Hauptbahnhof fehlt der Gang nach Unten zu den Gleisen, ich muss runterklettern. Den Zug erreiche ich noch, er ist aber voll. Ich zwänge mich durch die Wagen, ehe ich einen Platz finde. Auf der anderen Seite, auf dem Vierer parallel zu mir drei Miezen direkt aus dem Kosmetikstudio, wohl aus demselben. 28, 22 und 15, schätze ich. Sehen sehr verwöhnt aus. Ist das die Endhaltestelle oder wieso drängen alle Passagiere nach Vorn? Ich gehe mit, verliere die Jüngste nie aus den Augen. Der Gang, der eben noch im Zug war, wird zu einem Gang in ebenjener Schule. Ich gehe ruhig hinterher, bis sie sich in einem gemütlichen Klassenzimmer auf den Teppich setzt. Wäre eine Andere so dünn wie sie, wäre sie bestimmt magersüchtig. Und was ist noch weiter, wohin führt der Gang, wenn man ihn zu Ende geht? Nach Österreich, sagt ein Arbeiter, der einen Gabelstapler aus der Lagerhalle fährt. Ich gehe an den stillen Ort, um über die Neugier nachzudenken, die uns finden lässt was wir suchen, um es sogleich wieder zu verlieren.


12. Realität und Invasion

Die Kleinstadt, wo ich früher gewohnt. Der Schulweg. Am Rande der Südstrasse beginnt die Wildnis. Obwohl flache Gegend, bin ich schon mit dem Bus über eine 800 Meter hohe Klippe auf die Stadt gestürzt, oder in die Stadt reingefahren, mit dem Linienbus auf dem Strassenabschnitt mit einer Neigung von neunzig Prozent.

Aber das ist weit in den Osten gegriffen. Direkt südlich vom Schulweg, da ist ein Fluss, ich gehe runter durchs Gebüsch, und ich lege grossen Wert darauf, mich nicht zu versehen, aber versehe mich trotzdem - da sind nun Wände, es erinnert an die Sixtinische Kapelle, nur dunkler und grösser; es ist eine Schwimmhalle, ich gehe auf einer Wand, die zwei Becken trennt, die mit Grün fast zugewachsen sind, unten baden der Leute viele, oben beginnt die aus Erdreich und Pflanzen bestehende Wand zu bröckeln, bricht schliesslich ab, ich falle sanft ins Wasser.

Es geschieht nach demselben Muster - Aufbruch, Blitzstart, Steckenbleiben, Scheitern. Besonders oft, wenn ich eine Stadt, die wir früher einfach die Stadt nannten, mit dem Fahrrad erreichen will. Im Kontext, in dem ich losfahre ist es irrwitzig, mit dem Fahrrad so weit zu fahren, doch wenige Augenblicke vergehen und ich bin fast da, um an Kleinigkeiten zu scheitern; Pedanterie und Harndrang lassen mich nicht weiterfahren, bis ich die Fahrt aufgebe.

Wenn die Angst um sich greift, verstreuen sich die Panikeure in alle Richtungen, und ich bleibe ruhig und besinne mich auf eine Entscheidung. Sie haben die Erde angegriffen, fangen die Menschen und stecken sie in Käfige. Ihre Technologie ist der unseren um Zeitalter überlegen, der Widerstand zwecklos. Also steige ich in den Truck, dessen Räder so hoch wie ein dreistöckiges Haus sind, setze mich ans Steuer und fahre auf die Strasse. Der verängstigte Fahrer bemerkt die von mir plattgemachten Bäume, aber was soll ich tun, wenn der Truck breiter als die Strasse ist. Wen überfahren? Ob und wieviele, den Gedanken daran verdränge ich, und fahre langsam, und sehe aus der Vogelperspektive, wie die Aliens die letzten Flüchtigen jagen, fangen und in Käfige stecken.


13. Schul(d)strafe

Wer im Schlafe einschlief, versteht die Verschachtelung. Es gibt kein Entkommen, kein Aufwachen, der Realtraum verfolgt dich; aber sobald du die Realität fassen willst, entflieht sie, erweist sich als Illusion. Schreib es auf: Die Wahrheit der Realität ist die Illusion. Wenn der Akt des Aufschreibens real war, wird es jemand lesen können, der weder du ist noch von dir geträumt.

Dieses winterlich angezogene Rotkäppchen, das mit dem Betrachter Verstecken spielt, das ist nicht Kleinika. Da bin ich beruhigt. Morgen war Atomkrieg, heute sitze ich in der Schule, muss die letzten zwei Jahre wiederholen. Der Universitätsabschluss ist gültig, keine Frage. Aber ich muss in die Schule. Für zwei Jahre. Was wenn ich nicht hingehe? Welche Konsequenzen drohen? Daran denke ich nicht. Ich denke daran, dass ich einen Monat der Schule ferngeblieben bin und die Noten im Keller sind.

Untergangsstimmung im Mathematikunterricht. Humorlosigkeit bis in die einzelnen Zellen der Lehrkörper. Wo bin ich gelandet? Wie kann ich dich motivieren, fragt der Direktor. Wofür, frage ich? Für diese absurde Gefängnisstrafe? Es ist 14:30, ich treffe mich mit einem dem Wunsch nach Professor, der Wirklichkeit nach noch Doktor. Während er erzählt, sinkt er in die Decke auf seinem Sofa, bis nur noch der Kopf auf einer Schleimlache liegen bleibt und einschläft. In der halben Stunde, in der ich bei ihm war, haben sie im Eingangsbereich seiner Wohnung ein Café errichtet, eine freundliche Dame aus Osteuropa bietet mir Kuchen an. Ich esse keine Kuchen. Ich will den Direktor sprechen. Das Mädchen, das sich jetzt vor mir versteckt, ist zu alt, um Kleinika zu sein. Diese hier ist elf. Sie läuft unter die Treppe, dann in einen Minibus auf dem Schulgelände, springt auf der anderen Seite wieder raus, ich hinterher und fange sie. Wer bist du, dass ich gerade der bin, der ich hier und jetzt bin? Ich lasse sie los. Sie tropft nicht als vier Gramm schwarzen Ihya-Sekrets auf den Boden vor dem Ofen. Sie kehrt als die Fünfzehnjährige zurück, welche damals im Zug. Aber wann und wo, das muss ich erst finden. Hochhäuser können es sein, die Kindheit, die Jahre 1997 und 1998 sehr wahrscheinlich, aber auch die ferne Zukunft.


14. Autobahn

Die Radwege sind immer dieselben, Landschaften von beängstigender Schönheit tun sich auf, um spurlos zu verschwinden. Die vierspurige Autobahnbrücke bei Laatzen, dort von Hannover, wo eigentlich Altwarmbüchen ist. Weiter in den Süden - lange Autobahnen auf Brückenpfeilern, hoch über dem Land, und wo war nochmal Mars, auf oder unter den Bahnen? Auffahrt, und schon hat sich die Landschaft unten verändert - keine Städte, keine Autos, keine Menschen, nichts. Die abgehobenen Bahnen verbinden schwebende Städte, doch als Radfahrer ist es ein mieses Gefühl, weiterzufahren, man schleppt sein Fahrrad zurück, bevor was passiert - und schon erblickt man die gewohnten Landschaften wieder.

Es gibt Geheimwege; nutzt man diese, so präsentieren sich dem Blick herrliche Strassenschilder, die besagen, Stadt A 34 Kilomenter von hier entfernt, Stadt B 48, obwohl die beiden Städte mindestens 200 Kilometer voneinander entfernt sind, - so ein Schild steht auch hier, in der Eingangshalle vom Helmstedter Rathaus. Drinnen ist es Ende März, draussen Januar und viel Schnee. Aber man kann nicht stehen bleiben. So fahre ich zu Rade durch verschneite Strassen, erinnere mich, wie ich in Warschau auf einem LKW nicht bremsen konnte und in den Fluss fuhr, oder wie trist Los Angeles war, einzig die Autobahnen waren schön, aber am Schönsten sind Autobahnen in England - ich weiss nicht mehr welche Stadt, aber da gehst du vom Bahnhof links um die City rum, schon wird der Fussweg zur Hochgeschwindigkeitsautobahn und du beginnst mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit über die Bahn zu gleiten, falls dein Fahrzeug diese aus eigener Kraft nicht erreichen kann. Zurück zum Bahnhof geht es recht schnell, zehn Sekunden, egal wie weit du dich von der Stadt schon entfernt hast; schaut man über die immer glänzenden metallischen Fassaden, sofern man es schafft, bietet sich deinem vielleicht nicht aber umso meinem Auge eine bekannte Landschaft - die Landschaft, die man rechts und links der Strasse sieht, wenn man das westsibirische Dorf, in dem ich als Kleinkind lebte, in Richtung der Kreishauptstadt verlässt.

Einmal bog ich links ab und ging direkt in den Wasserturm, in dem gerade eine Hochzeit stattfand, was mich enttäuschte und betrübte, denn das Mädchen war jung und auch ich fand es schön. Ich ging weiter, ein Privatgrundstück, da fing auf einmal Deutschland an, herrliche Radwege auf dicht bewaldeten Hügeln, und ehe ich mich versah, war ich schon 96 Kilometer weiter gefahren und fand mich auf einer Kreuzung wieder, an der zwei asphaltierte Strassen in zwei Richtungen im 90-Grad-Winkel auseinandergingen; auf einem Rastplatz im Wald stand ein roter Kombi. Drinnen war dicke Luft, der Kofferraum so voll, dass der Deckel einfach mal entfernt wurde, und der ganze Schrott einfach hoch gestapelt. 300 Kilometer noch bis Hannover, so ein Strassenschild. Die andere Strasse lockte mit günstigeren Entfernungen, führte aber von der Hügelkette runter in eine langweilige Steppe.

Die Erinnerung hält mich fest, in ihr kann ich mich vor dem Einbruch der Öde verstecken, doch sie lauert. Schon im nächsten Augenblick könnte ich zum Warten verdammt sein oder akribisch und tagelang eine sinnlose Tätigkeit wiederholen; ich würde von ihr nicht ablassen können, - es könnte das Aufräumen des Zimmers sein, jegliche Arten von Erbsenzählerei, eine Suche nach etwas, was es nicht gibt in unübersichtlichen Archiven einer alten Bibliothek. Solange dieses Etwas, das mich dazu zwingt, sich hinter der von mir geglaubten Abstraktheit seines Wesens verstecken kann, werde ich nicht ausbrechen können.


15. Western Hell Stock Exchange

Mein Freitod war überfällig. Ich habe es nicht getan. Ich musste von da an eine Schmerzrendite von 28% erwirtschaften, um die Zinslast des Schmerzes zu tragen. Bei einem Einbruch brach ich nicht auf dem Boden zusammen, vielmehr mit dem Boden ein, ganz tief. Die Zenobiten gewährten mir einen Kredit mit 39% Zinsen. Ich war ein Wanderer, der dazu verdammt war, einen 75 Grad steilen Weg ohne Hilfsmittel zu gehen. Ein Fehler, und ich wäre tot und noch mehr: ich hätte noch hohe Schulden bei den Zenobiten. Der Tod wäre nicht das Ende gewesen.

Der Junge auf der Brücke sagte der blassen hellblonden Anika, deren langes Haar der Wind streichelte, er könnte nicht mit ansehen, wie sie sich selbst zerstörte - allein durch fortgesetztes Existieren. Er wollte nicht, dass sie aus Mitleid seine Freundin wäre. Er verspürte höllische Schmerzen, wenn er daran dachte, wie sich ihre Gesichtszüge mit der Zeit vergröbern würden. "Ich bin zu schwach. Ich kann die Konsequenzen meines Weiterlebens nicht tragen" sagte er und sprang. Ich hätte einen Kredit mit 11% für ihn ausgehandelt. Ich verstand mich gut mit den Zenobiten.

Ich bin in einer alten französischen Stadt, gehe unauffällig durch die steinernen Gassen, warte auf meine Hinrichtung. So sollte es sein, das Lebensgefühl, immer. Ich zahle meinen Kaffee und lächle das kleine Mädchen auf der Fensterbank an. Sie nimmt meine Hand und sagt, ich sollte keine Angst haben. Sie führt mich zum Schafott. Die Menschen unterhalten sich auf Französisch, amüsieren sich. Das Mädchen zeigt mir, wo ich meinen Kopf hintun soll. Ich verstehe, was sie von mir will, lasse sie aber an mir ziehen und mich zurechtrücken, genieße ihre Zuwendung. Sie küsst mich auf die Schläfe, es kitzelt, mein Herz tanzt. Die Enthauptung kann beginnen. Ein Franzose sagt irgendwas, ich höre nur den Namen heraus: Kleinique...

Ich erinnerte mich, als ich vor zehn Jahren in der Unterwelt aufwachte. Anstatt des Himmels begrenzte Gestein die hohen Räume. Viele Menschen waren versammelt. Sie lachten. Sie warfen mir einen Zettel, auf dem ein Gedicht von mir war. Ich weigerte mich zu lesen. Ein spöttisch dreinblickendes kurzhaariges etwas dickliches Mädchen aus meiner Klasse nahm den Zettel und las. Alle lachten und spotteten, spieen mich an, schlugen mich mit Stöcken, warfen mich auf eine flache eherne Plattform ohne Geländer, die mich runter zur Hölle fuhr.

Fallbeil fällt. Mein Hals wird nicht durchtrennt, es ist Papier oder Pappe. Ein Priester, festlich gekleidet, zieht mich hoch. Wir bekreuzigen uns. Ein ganz in Schwarz gekleideter Mönch überreicht mir ein Maschinengewehr mit unendlich viel Schuss Munition. Ich schieße, bis sie alle tot sind, das dauert. Das sind Millionen. Der Priester und der Mönch lassen Sklaven Leichen aufs Schafott tragen. Wir setzen uns bequem auf die Leichen und unterzeichnen neue Verträge. Der Knebelvertrag mit den Zenobiten ist nicht mehr gültig. Ich bedanke mich bei den Zenobiten. Ich war erst 15, als die Plattform mich in die Hölle fuhr. Seitdem habe ich mich fünfmal verlieben dürfen.


16. Lebend ist tot genug

"Du schriebst jedesmal eine Eins, nun eine Drei minus. Woran liegt das?" fragt der Biologielehrer. "Ich interessiere mich nicht mehr für das Sein, mehr für das Nichts" sage ich und gehe in den Mai. "I´m blue, what I did, I will die" erklingt es den ganzen Sommer.

Mich fasziniert die Straße. Der Weg an sich. Ich gehe, also bin ich. Fahrräder gehen kaputt. Autos funktionieren nicht. Zu Fuss geht es zu langsam voran. Hätte ein Sichzutodelangweilen den Tod unmittelbar  zur Folge, hätte kein Freddy Krueger der Welt so viele Träumer umbringen können, wie in mir gestorben wären.

Ich hatte Träume, die mehrere Wochen lang waren. Nach neun Stunden Schlaf war ich erschöpft wie nach drei Jahren Schwerstarbeit. Womit nicht gesagt ist, dass das Aufwachen mich in die Realität beamt. So einfach ist das nicht.

Die Gedanken tragen mich fort. Ohne meine Gedanken wäre ich verloren. Einer von ihnen heißt Kleinique und ist acht Jahre alt. Langes kastanienbraunes Haar, das Gesicht niedlich, als wäre sie halb so alt. Mit Kleinika lag ich gar nicht mal so daneben. Sie heißt tatsächlich Kleinika, nur eben auf Französisch.

Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Orten ist keine Linie, sondern ein Geheimweg. So geschah es mir oft, dass ich zwischen zwei Dörfern, die eigentlich 300 Kilometer voneinander entfernt waren, mit viertelstündigen Fussmärschen hin und her wanderte. Oft war es bloss eine Tür in der Wand, und ich war woanders.

Hinter dem Wald ist ein See, und der Strand sieht vom Wald aus flach aus. Kommt man näher, erkennt man die kilometerhohen Klippen. Viele Leute, darunter Verwandte, baden im See. Der Strand ist flach, da ich ihn vom Wald aus anschaue. Und sie können unbeschwert baden. Meine Tante ruft mich in den See, ich bin fünf oder sechs, aber mannhaft entschlossen, im Wald zu bleiben. Komme ich näher, stürzen sie alle die Klippen runter und sterben.

Eine Wiese, ich liege. Kleinique sitzt wie ein kleiner Buddha hinter meinem Kopf und tippt mit ihren kleinen Fingern auf meine geschlossenen Augen und meine Nasenspitze. Ich öffne die Augen, sie macht sie mir wieder zu. Ich hebe den Kopf und sehe über den Rand der Wiese - die Wiese schwimmt auf einer fliegenden Insel hoch in den Wolken. Kleinique ist weg. Ich wache in einem Industriegebiet auf. Schwarzer Rauch steigt über einer Eisenbahnbrücke, hinter ihr müsste etwas Stinkendes brennen. Ich klettere auf die Brücke und sehe runter: ein Scheiterhaufen, befeuert mit Plastik und Watte. Auf dem stählernen Pfahl in der Mitte sind viele Häken. Auf ihnen hängen Herzen. Ja, Menschen kommen vorbei und schmeißen irgendwelche Herzen auf den Scheiterhaufen. Meist bleiben diese Herzen auf irgendeinem Haken hängen und rauchen schwarz bis sie verglühen. Ein Penner fängt mit dem Blick ein Herz, das den Pfahl verfehlt, nimmt es, legt es sich an die Brust und zieht den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch. In Eile verdrückt er sich, unbemerkt von den Anderen.


17. Pfirsichschnee

Die Schwermut drückt mich mit mehreren Tonnen nieder, als ich die Haustreppe hochgehe und mein altes Zimmer betrete. Es ist ein zugemülltes Kinderbett dort, das Zimmer völlig zugestellt mit unnützem Zeug, irgendwo der Computer. Und die Zeit - ich fahre zu Rad Kreise in einem Internatsgelände, von dem eine interne Eisenbahn direkt nach Leipzig führt, aber auch in einen Vergnügungspark, und ist das nicht ein hohes Krankenhausgebäude, das fünf Jahre lang meine Schule war, nur ohne die oberen 20 Stockwerke? Es hat keine 23, sondern nur drei, es ist ein Altenheim, ich wohne auf dem Dachboden in einem kleinen Zimmer. Ich gehe rein, es hat keine Tür. Die Grenze zwischen Pfleger und Gepflegtem scheint zu verschwinden, und so verschwinde ich noch schneller, nehme eine Abkürzung, sie führt in geheime Heizräume des Krankenhochhauses, in denen nichts Geheimes ist, außer dass ich heimlich wieder hinausgegangen bin - in einen Park, in dem ich in das Tagebuch der Schwermut unter Zwang von Innen sinnlose Sätze eintrage, und die Zeit vom Ende Juli bis Ende August in quälender Melancholie in wenigen Stunden vergeht.

Ich gehe nach Hause, direkt aus meinem Zimmer gelange ich auf einen Balkon ohne Absperrung und wundere mich, warum noch niemand runtergefallen ist. Ich bemerke, dass zwischen meinem Zimmer und der Nachbarwohnung nur eine symbolische Absperrung aufgestellt ist, die Neugier zwingt mich hinein, die alte Frau ist weg oder tot, die Sachen in ihrer Wohnung gehören mir. Ich sehe mir alles an, kann aber nur Vergangenheit in den Sachen entdecken. Mich lockt der Balkon, von dem ich fast runterfalle, aber da ist schon dieses trockene Flussbett, das in Sekundenschnelle geflutet wird. Am Ufer dieses Hotel, unten ein Durchgang. Ein Eis? Ein guter Vorwand, um hochzuklettern. Ich wandere über den Platz, die Sicherheitskräfte rauchen, ich falle nicht auf, gehe in die Promenade unter dem Hotel, dann über eine Absperrung und die Treppen hoch. Da beginnt die Zukunft, ungefähr ab dem fünften oder achten Stock. Sehe ich nun durch die Fenster, offenbart sich mir eine tote Stadt. Ich muss noch höher steigen, auch wenn Angst und Gewissen mich runterziehen.

Höher gehts nicht. Es sieht aus wie in meiner alten Schule. Die Bibliothek ist überfüllt mit unbekannten interessanten Büchern, ich greife gierig zu, besinne mich aber und gehe in die andere Richtung. Dort wird es den Korridor entlang immer heller. Das Licht ist gutartig, statt Angst verspüre ich immer mehr Freiheit, wovon auch immer. Die letzte Tür links? Nein. Die Tür ganz am Ende des Weges, bei dem metallenen Stern. Der Raum gehört gar nicht in dieses Gebäude. Das ist ein Penthaus. Ich schließe die Tür, hinter der es sofort dunkel wird. Und draußen ebenso. Nun erkunde ich das Panorama, setze mich in einen Luxussessel, mache mir einen Tee. Es duftet nach Pfirsichen. Ich bin nicht allein.


18. Die Kristei

Ich hörte Pfirsichschnee, so war ihr Name. Nein, Persephone. Sie war der personifizierte Luxus und ist es immer noch. Es ist kein Klartraum mehr, es ist wieder Gegenwart. Und sie ist angezogen, als wäre heute der Winterball. Was für ein Ball? Dort wo sie herkommt ist der Winterball die wichtigste kulturelle Veranstaltung überhaupt. Auf mich hat sie nicht gewartet, oder etwa? Der Blick in den Spiegel lässt mich an meiner Unerwünschtheit erheblich zweifeln. Ich bin 15, makellos schön, so frisch wie drei, so zart wie ungeboren. Ich werde mich transformieren müssen, falls ich hinaus will. Und das muss ich wollen, der Wille lässt mir keine Wahl. Stillstand ist Tod. Ich muss weitergehen. Persephone ist 12, etwas dunkelhaariger als hellblond, das Haar gerade und sehr lang. Wir tanzen, sie schmiegt sich an mich, immer wieder, sagt mir, ich soll nur ihr und der Vernunft vertrauen, nicht den Sinnen, nicht den Gefühlen. Der Ausgang führt mich auf ein riesiges Flachdach, hoch über der Stadt. Ich bin wieder der Alte, roh und zäh. Nun beginnt die Jagd.

Ein verlassenes Schloss - es hat von einigen Freaks den Namen Kristei bekommen. Auf keinen Fall hinein gehen, denn man kommt nie wieder raus. Ich klettere die lange Feuerwehrleiter hinunter, passiere gedankenverloren die Mauern des Schlosses. Ein Foyer. Dort drei Schulmädchen, sie wurden hierher entführt. Ich schlage vor, hinauszugehen, dort vorn ist doch gleich die Eingangstür. Die Mädchen gehen zur Tür, bleiben da stehen, sie ist gar offen, aber die Mädchen klopfen verzweifelt auf das Nichts und gehen wieder zurück ins Foyer. Da bekomme ich Angst, die Mädchen bemerken dies und verhalten sich nun wie Quanten. In verschränken Zuständen verteilen sie sich über die Kristei. Neunzig Meter ist der Korridor lang. Ich habe zweihundert Schritte gezählt - ein Ende ist nicht in Sicht. Ich gehe weiter, immer weiter, werde müde und setze mich hin. Das ist ein Ort ohne Widerkehr. Und wer im Traum hierher gelangt, wird an diesem Ort aufwachen.

Ich gehe eine Seitentreppe hoch, finde ein Zimmer, in dem eine menschenänhliche Gestalt mit Tentakeln anstelle von Armen und Beinen auf einer Blutlache tanzt. Das Monster ist blau. Es schaut mich an, aber nicht wie ein gieriges Monster, vielmehr wie ein beim Onanieren gestörter Freak. Ich gehe woanders hin. Draußen steht ein Schulbus. Ich springe aus dem zweien Stock, lande weich auf einem Beet, gehe zum Busfahrer. Er weiß nichts von Schulmädchen. Er will Kokain abholen. Ich sage, er soll die Mädchen mitnehmen. Er nimmt wortlos die mit Kokain gefüllten Reissäcke und fährt los. Ich gehe wieder ins Foyer. Die drei Mädchen sitzen auf einem breiten Divan und sehen fern. Wurden sie überhaupt entführt? Die Zweifel werden immer begründeter. Ich gehe hinaus, die Straßen entlang, es beginnt zu regnen.

Meine Haut ist eine braungebackene Kruste. Ich sitze in der grünen Garage und mir ist heiß, ich will mir die Haut abziehen. Tu ich das, wird sich die Unterhaut entzünden und ich sterbe hier im Dreck. Ich habe hier ein Gerät, das mir zeigt, dass bei dieser Radioaktivität ich keine mehreren Tage mehr zu leben habe, vielleicht nur den Heutigen zu Ende. Du hast hohes Fieber, flüstert mir die Stimme der Vernunft, und lässt mich in der Baumkrone eines Eukalyptus aufwachen. Es ist angenehm frisch. Wo ich bin - keine Ahnung, aber es gehört zur Aufmerksamkeitsökonomie, es auch nicht wissen zu wollen.


19. Shady State

Wiederhole ich mich, wenn ich erzähle, wie ich einmal nach Hause ging, von zwei Geheimpolizisten angehalten wurde, Formulare ausfüllen musste, dann zufriedengelassen ins Wohnhaus ging, in den elften Stock? Jedenfalls gab es im selben Wohnsilo einen Radiosender, der regierungskritisch war. Genau unter mir, im siebenten oder neunten Stock. Nun sah ich mit Freunden fern - sie waren im selben Wohnsilo, nur in ihren eigenen Wohnungen - wir kommunizierten telefonisch und kommentierten die Radiosendung, die gerade im Fernsehen lief. Ein Standbild und eine ketzerische Stimme. Als Hubschrauber über den Wohnsilos ihre Kreise drehten, scherzten wir fröhlich. Aber dann blieben sie genau gegenüber unserem Wohnsilo in der Luft stehen und feuerten Raketen ab. Die Radiosendung war damit beendet, dichter Rauch quoll zu meinem Fenster hoch. Sie schossen wieder. Es waren die Wohnungen der beiden Freunde, die getroffen wurden, und nun standen die Hubschrauber direkt vor meinem Fenster und schossen auf mich.

Etwas später passiere Ähnliches: ich war in einem ähnlichen Wohnsilo, als ein kleines Flugzeug in die Wohnung drei Stockwerke rechts und etwas oben hineinflog und explodierte. Ich sah im Fernsehen gerade den Bericht, da flog schon ein Flugzeug direkt auf mich zu. Ich rannte zur Ausgangstür meiner Wohnung und sah noch den abgefackelten Piloten. Glücklicherweise war ein Krankenhaus direkt im Wohnsilo, so dass der Pilot noch vom Rettungsdienst geborgen werden konnte. Mich aber beschäftigte die Frage, wie zwei so ähnliche und so ähnlich unwahrscheinliche Begebenheiten innerhalb kürzester Zeit mir und wieder mir passierten.

Der Lehrer, der von der Shady-State-Hypothese sprach, war kein Astronom. Ich kannte mich mit Urknällen definitiv besser aus als er. In einem Haus, in dem viele Menschen auf den Treppen versammelt waren, fand ich mich wieder, als Bomben auf die Stadt fielen. Bewaffnete türkische Paramilitärs stürzten hinein und verlangten Ausweise. "Du studierst Philosophie? Respekt!" Warum finden Leute es so ungewöhnlich, dass jemand nichts Beliebiges, sondern etwas Konkretes von der Welt wissen will? Wissenschaft schafft Wissen. Was mit Arbeit ist? Keine Sorge, ich finde eine Arbeit, und wenn es auch die sein wird, dich in deinem Wohnsilo aus einem Hubschrauber abzuknallen.


20. 12.02.2009

An jenem Donnerstag kommt der Film "The Priest" in die Kinos. Für einen Místàí wird der Wiedererkennungswert so hoch sein, wie wenn ein Jugendlicher mit Asperger-Syndrom "Ben X" im Kino guckt. "Ist Lynch ein Místàí?" fragt mich ein Tierschutzaktivist. "Aber nein, bloss ein phantasiebegabter Regisseur". Wir sind viele in diesem Gebäude für kulturelle Veranstaltungen, in einem der Räume mit Piano und Bar ist es eng, alle feiern, ein Neonazi soll angeblich ins Gebäude eingedrungen sein, die Polizisten sind los. Im Nebenraum wird geschossen. Erst spekulieren alle, der Neonazi wäre von den Polizisten überwältigt worden. Weit gefehlt. Es sind mehrere Schüsse zu hören, immer näher scheint der Schütze zu sein. Panik bricht aus. Alle rennen. Ich laufe einen Korridor entlang in ein Foyer, eine labile Treppe führt mich auf eine sensible Plattform über dem Foyer; die Plastiktür lehnte ich nur an, der Schütze wird es leicht haben, einzudringen. Einige schaffen es zu mir auf die Plattform. Es ist ein Amokläufer. Er ballert auf die, die er treffen kann. Bald unten keiner da. Es wird eng auf der Plattorm, die Konstruktion ist sehr labil, die Leute sehr nervös. Ich schaffe es zum Notausgang und bin auf einer verregneten Strasse, ganz anderswo in der Stadt.

Er ist in einem Supermarkt, als plötzlich Panik ausbricht. Die Menschen werden gefangen und in Plastiktüten verpackt, vorher noch gerupft und etwas gegrillt. Alles sekundenschnell und mit höchster Professionalität. Als er eine Plastiktüte anschaut, in der nun eine halbtote Frau eingepackt ist, da schreit ein Häuptling aus einer anderen Plastiktüte: "Das alles sind meine Frauen!!" Die anderen Plastiktüten erbeben in Furcht vor seiner Stimme. Nur wird er nichts mehr ausrichten können, er wird wie alle Eingepackten in ein Labor wandern.
Der Beobachter, ganz in Schwarz gekleidet, spürt hauptberuflich für die Inquisition Terroristen auf, die genau das tun, was er eben in seinem Traum - dem Vorspann zum Film - erlebte. Er ist ein Místài, ein Seher, der in die Gedanken der Leute sieht und noch tiefer. Er wird sich über die bestialischen Verhörmethoden seiner Kollegen beklagen, die Diktatur der Inquisition im Land bemängeln. Doch er wird wissen, dass der Terror, der damit verhindert wird, noch mehr Unfreiheit bedeuten würde. Totale Bewusstseinskontrolle. Terroristische Sekten, die im Begriff sind, einen künstlichen Místàí, einen sogenannten Minder, zu erfinden.

Ich werde mir den Film ansehen. So realitätsfern ist es ja nicht. Und die Realität ist keine lineare Abfolge von Ereignissen, sie ist ein inkonsistenter Zeitschaum. Die Stadt ist sowohl zerbombt als auch nicht zerbombt, ich gehe ja durch die Strassen, es regnet, alles ist noch trist, grau und da. Und dennoch juckt die Haut, wenn sie sich an sich selbst als braungebrannte Kruste erinnert. Auf dem Messegelände finde ich diese hohen dünnen Stelen, diese Betonblöcke, sie ragen schwarz in den gleichfarbigen Himmel. Im höchsten Gebäude der Stadt werden die Überlebenden versammelt sein, und zwar die, die sowohl überlebt haben als auch überlebt hätten.


21. Whitein

Der Blackout hat sich als ein Schutzmechanismus erwiesen: wenn der Verstand die Inkonsistenz der Realität nicht verkraften kann, setzt er kurz aus und fängt woanders neu an. Diese Sprünge sind nicht mehr nötig, ich weiß dass es Leo sowohl gibt als auch nicht gibt. Leo reißt eine Kiosktür auf, wir kaufen Ginger Beer. Das Wetter ändert sich von kühl auf spätsommerheiß. "Eine totalitäre Gesellschaft" sagt Leo, "in der in der Arbeit die einzige Lebensberechtigung überhaupt besteht. Der Zustand der Hände ist der beste Arbeitsnachweis, wer Handschuhe trägt, gilt als dekadent. Da kommt dieses Mädchen. Kein Erwachsener darf ihre Hände sehen, sie versteckt sie. Sie sehen aus wie die deiner mysteriösen Freundin". "Und was ist aus ihr geworden?" "Du hast sie von dort entführt und strenger Prüfung unterzogen, ob sie jemals Dreck oder ähnliches berührte". "Das war diese steinerne Stadt, nicht wahr?" "Ja. Und da ist schon unser Wolkenkratzer"...

Ein Kratzer, und es wäre vorbei gewesen. Aber ich konnte keinen finden, wahrscheinlich weil keiner da war. Ich traf mich mit ihr auf einer Burg, die steinerne Stadt war voller solcher Burgen. Als ich bemerkte, wie zart ihre Haut war, fasste sie es zunächst als Drohung auf. Ich packte sie am Arm; hätte sie mir die Hand gegeben, mir, einem damals noch Unbekannten, hätte ich sie dort gelassen. Ich muss sehr jung gewesen sein, und da war noch ein neunjähriger Junge. Er musste viel leiden, war zerbrechlich, hatte feminine Züge. Ich trug ihn nachts auf meinen Schultern aus dieser Stadt der Arbeitsbarbaren, versteckte ihn in einem Bunker und zündete die Bombe fern. Und die Stadt ward mit einem Schlage vernichtet. Wer nahm das Mädchen damals mit? Die Antwort wird im Wolkenkratzer zu finden sein.

Diese kleinen braunen Punke auf der Haut, die immer mehr werden, bemängelte ich, als ich die Kehlen der Wachen durchschnitt. Und dass die Haare überall wachsen, selbst auf den Handrücken, fluchte ich, als ich einer Geheimpolizistin ins Ohr schoss. Wir stiegen die Treppen hoch, bis hierher. Nun sind wir hier im neunundvierzigsten Stock und die Tür ist versperrt. Massiver Stahl. Man muss einen Code eingeben. Aber welchen? Ich gehe runter, reinige meinen Körper von all dem Blut und Staub des Tages, komme im Bademantel zurück. Wir sitzen auf der Treppe und trinken Ginger Beer, mal sehen, vielleicht will ja einer raus.


22. Caigh

"Die Firma geht pleite, und die Beiden verkaufen ihr Haus samt Kinder heimlich an Banditen, kassieren eine Million in Bar und verlassen das Land. Mann und Frau Mitte 40, die Tochter 16, sehr hübsch, Kükenfrisur, der Sohn 9, ein sensibles Jüngelchen", erinnert sich Leo an den Film. "Die Kinder werden vergewaltigt und misshandelt, wehren sich, erschießen die Banditen, sterben zusammen an ihren Verletzungen". "Was wurde aus den Eltern?" "Nichts. Nach dem Deal wurde nicht mehr thematisiert, wie es den Eltern ergangen ist. Das war ja das Nihilistische an dem Film". Die Tür geht auf. Ich nehme einen alten bärtigen Mann als Geisel. "Wer seid ihr?" fragt Leo. "Wir haben überlebt. Was wollt ihr?" Wir gehen durch die Korridore, steigen die Treppen hoch, sind schon im vierundsiebzigsten Stock, als der Mann sagt, es gäbe keinen außer ihm im Gebäude. Wir bringen ihn in eine Kantine, fesseln unter einem Tisch, geben ihm einen Sixpack Mineralwasser und Haferflocken, Brot, eine Stange Wurst sogar - wer weiß, wie lange er da sitzen muss. "Das war der Hunderste" sagt Leo. "Und?" "Du siehst doch. Nichts". "Lass uns eine Kantine finden. Ich habe großen Durst". Leo folgt mir, ich rieche Trinkbares, wenn ich Durst habe. "Der andere Film, in dem ein Fünfzehnjähriger unglücklich auf den Rücken fällt und sich die Wirbelsäule bricht. Da schafft er, bevor die Bombe neben ihm hochgeht, mit Willenskraft, dass sich die Wirbel wieder zurechtrücken... Warum erinnern wir uns an Filme, die wir nie gesehen haben, aber so, als ob wir sie im Kino gesehen hätten?" "Du bist immer noch im tertium non datur verhaftet" sage ich und merke, dass Leo verschwunden ist.

Ich gehe allein hoch, es muss inzwischen der hundertachzigste Stock sein, da taucht Leo wieder auf. Es ist so eklig warm; ich erinnere mich, als ich in meinem Zimmer aufwachte und überall diese Nacktschnecken waren, so groß wie ein Feuerzeug, überall, auf mir, sogar unter dem Pyjama. Ich riss sie von meinem Körper, ging in die Küche, da waren andere Nachtschnecken, bügeleisengroß, und auch viele kleinere; im Wohnzimmer krochen Viecher so groß wie ein Hund, und zu guter Letzt sah ich die beiden Superstars hinter dem Divan, jeweils zwei Meter lang. Als ich dann nackt das Haus verließ, kamen mir die bügeleisengroßen Nacktviecher sogar niedlich vor. "Ich muss duschen" sage ich und schreite vom Treppenhaus in den langen Korridor. Es kommt noch besser: wir finden eine Schwimmhalle. Aus einem Becken schwimmen wir in ein anderes, das an der frischen Luft ist - es ist auf einer Dachterasse zweihundert Stockwerke über dem Boden. Und es beginnt zu regnen.


23. Mordverhalten

Fünfhundert, sagt Leo. So hoch ist kein Gebäude. Wenn wir auf dem fünfhundertersten Stockwerk sind, dann ist das Gebäude fast zwei Kilometer hoch. Das ist unmöglich. Aber unmöglicher als das mit der Bande, die Falschgeld über die Grenze beförderte, sich als Polizeibeamte verkleidete und diesen Lastwagen voller albanischer Flüchtlinge aufhielt, aus dem eine sehr alte Frau aus ihrem zahnlosen Mund mit hässlicher Stimme sang: Amerika, Amerika? Wir taten alles richtig, kamen am Treffpunkt an und warteten. Keiner war uns gefolgt. Nun aber sah ich, wie jemand aus dem Hinterhalt meine Partner einen nach dem Anderen abschoss, und mich letztlich auch in den Rücken traf. Ich lag auf dem Kartoffelfeld, als ein kleines Mädchen mit Schulranzen ihr Fahrrad auf dem Feldweg schob. Ich fragte, ob es im Dorf, wo sie gerade her, ein Krankenhaus gäbe. Sie bejahte und fuhr weiter. Ich ging in die Hütte, legte einen noch lebenden Mafioso auf eine Liege, da schoss jemand seine Frau ab. Ich legte die Frau auf eine Liege, deckte sie zu, und spürte auf einmal, dass hinter mir jemand war. Im Schrank. Ich riss dir Tür auf und rammte ein großes Messer in die alte Frau vom Lastwagen, die aber nicht blutete. Aus der Hütte war eine Villa geworden und die alte Frau mit durchgeschnittener Kehle kam auf mich zu und wollte mich erwürgen. Ich nahm einen massiven Stock und schlug mehrmals gegen ihren unkaputtbaren Kopf. Sie war tot, ein Bankier begrüsste mich, gratulierte mich zu getaner Arbeit; draußen vor der Villa war ein herrlicher Pool, ein ganzer See aus Wasser und Marmor. Die Untote löschte die ganze Bande aus, ich blieb leicht verletzt, der Mafioso und seine Frau starben und wurden neben der Villa beigesetzt. Ich ging mehrmals zum Pool, schaute mir die vielen Menschen an, sie waren ausnahmsweise interessant. Nur hatte ich keine Zeit für Konversationen, es gab einen neuen Mordauftrag für mich.

Sechshundert, sagt Leo. Das ist hoch. Wenn wir aus dem Fenster springen, fallen wir auf die Wolken. Aber es geht noch höher, und so gehen wir. 648. Hier hört die Treppe auf, aber etwas ist immer noch über uns. Wir finden einen Raum, in dem eine ausfahrbare Leiter in der Decke befestigt ist. Wir steigen hoch, ein Korridor wie alle Korridore vor ihm. Nur sind hier auf einmal viele Menschen, Kinder, es ist eine Schule. Die Mädchen sind alle schön. Die anderen, redundanteren menschlichen Wesen sehen ebenfalls angenehm aus. Wir gehen in die Bibliothek und warten, sind müde. Ob sich auf diesem Stockwerk ein Pool finden lässt?

Die Hölle - die eine Hölle, in der sich erstmal alle treffen - ist Halbwüste bis Wüste, Sand, verbranntes Gestein, Langeweile und verdammt viel Zeit. Ein ewiges Sterben ohne Tod. Keiner bleibt da länger als eine Woche. Jeder lässt sich einen Vertrag aufschwatzen, muss Aufträge in verschiedenen Welten ausführen, verpfändet sein Schmerzvermögen. Milliarden wurden allein zur Sicherung dieses Hochhauses angeheuert, welches unsichtbar in den Wolken wurzelt. Wir sind durch ein Loch in der krummgefalteten Raumzeit hineingekommen, töteten keine zehn Wachen. Entweder spielt die Realität uns etwas vor, oder es wird sich gleich eine Luke öffnen und wir fallen fürs Erste 1000 Stockwerke tief. Dass nichts dergleichen geschieht, macht mich nervös; Leo löst sich immer wieder in der Luft auf, die Titel der Bücher in den Regalen der Bibliothek wechseln sich mit jedem Blick und mein Verstand versucht aufzuwachen, als ob das alles ein Traum wäre.


24. Entropie

Fünf dürre Gestalten, in Schwarz verhüllt, führen mich in ein Büro. Dort empfängt mich ein Mädchen Ende 15, zunächst erinnert sie mich an das Mädchen damals im Zug - die Jüngste der drei -, aber etwas ist anders. Die dürren Gestalten gehen und schließen die Tür von Außen ab. Das Mädchen setzt sich auf den Tisch und starrt mir in die Augen, ich sinke in den Chefsessel hinein. "Man sieht es mir wirklich nicht an?" fragt er und lacht, "ich bin ein Zenobit, alles was du siehst, ist künstlich. Ginge es nach dem Gesetz der Verwesung, wäre ich 202. Ich sehe aber aus, als wäre ich noch keine 16... Wie hast du es hierher geschafft?" "Wir.." "Nicht wir. Du bist allein gekommen. Wissen die anderen Zenobiten, dass ich hier bin? Weiß irgendjemand irgendwas? Ich meine, jemand muss etwas wissen, ich bin so paranoid, das zu glauben. Und schließlich bist du ja hier, also hat irgendjemand irgendwas wissen müssen". "Ich bin nicht im Auftrag irgendeines Teufels hier" sage ich und gehe zum Fenster. "Bist du auf der Flucht wie ich?" zwitschert der Zenobit mit der zarten Stimme. "Auf der Flucht? Vielleicht. Aber nicht vor etwas. Nach etwas. Ist die Suche auch eine Flucht?" Der Zenobit, ungeduldig, kommt zum Geschäftlichen: "Persephone ist im 880. Stock. Du kannst dich im 714. Stock transformieren, dich bis auf 16 verjüngen, selbstverständlich makellos schön. Ich nehme an, du willst ein Junge bleiben". "13" erwidere ich kalt. "Die Schmerzgrenze liegt bei 15. Ich muss dann auf einen Schlag fast ein Jahr älter werden". "Einverstanden. Eins möchte ich noch wissen. Wofür werde ich nun bestochen?" "Kein Wort zu niemandem. Keine Andeutung. Keiner darf wissen, dass ich hier bin. Kein Kontakt zu Geheimpolizei oder Zenobiten". "Und wenn sie mich fangen?" "Dazu darf es nicht kommen. Du bist immerhin hier drin, und das ist schon unmöglich genug. Geh zu Persephone, sie wird sich freuen".

Dann hoch gehts. In den 714. Stock. Bin gespannt. Im Aufzug kleine Mädchen, die gibt es hier überall. Es gibt hier nichts Anderes. Wie viele sind künstlich verjüngt? War das der einzige Zenobit oder glaubt er das nur? Vielleicht redet er sich das ein, immer wieder, weiß aber, dass alle hier genauso unecht sind wie sie... er... Ist das ein geheimer Zufluchtsort der Entropiemilliardäre, die auf Kosten der Zersetzung Anderer jung und schön werden? Wo ist der Energieumwandler? Ich komme an, da ist ein Pool mit schäumendem Wasser. Ein Gerät für den Endverbraucher. Ich springe also hinein und komme als frischer Fünfzehnjähriger auf der anderen Seite wieder raus. Und wenn nicht? Und wenn das Ding mich einfach tötet? Ich habe noch nie so ein Ding benutzt.

Ich warte am Pool, kann mich nicht entscheiden. Ich werde zum Komplizen der schwerstmöglichen Verbrecher, wenn ich das hier durchziehe. Und Persephone? Ist sie echt? Oder ein umgewandelter alter Physiklehrer? Wer weiß das schon? Das Ganze hier erinnert mich an ein Gerät, das sich mit dem Hirn in Verbindung setzt und eine künstliche Kopfwelt erschafft, nach den Wünschen des Kunden. Was, wenn ein bösartiger Programmierer auf einmal die Kontrolle übernimmt und den bezahlten Himmel in die Hölle verwandelt? Und ich würde auf seinem Seziertisch liegen und mich nicht wehren können. Springen werde ich, aber nicht in den Pool, sondern aus dem Fenster.


25. Fliegende Kühe

Ich wache neben einer Leiche auf. Das war meine eingeschlafene Hand, die mir auf die Fresse gefallen ist. Ein Monster, eine Bestie erwartet zarten Besuch. Ein menschenähnliches Wesen, das nachts durch Städte spaziert und Passanten ausweidet. Ich bin nachts auf einer menschenleeren Straße und es kommt auf mich zu. Wohin soll ich laufen? Es ist schneller, stärker, wahrscheinlich auch klüger. Aber kaum versehe ich mich, merke ich, dass ich dieses Wesen bin. Fröhlich töte ich Menschen und weide sie aus.

Es flog ein Bettlaken über dem Park, es war sehr windig. Ich hielt das Bettlaken fest, es hob mich in die Luft. Kaum sah ich nach Unten, schon war ich mindestens 50 Meter in der Luft. Ich konnte das Ding nicht loslassen, ich wäre sofort wie ein Stein zu Boden gefallen. Oder etwa nicht? Als es mir irgendwann zu hoch wurde, ließ ich los. Sanft glitt ich runter, fiel aber nicht, und lernte beim Gleiten, wie ich durch sprungähnliche Bewegungen wieder an Höhe gewinnen konnte. Ich habe also fliegen gelernt. Seitdem fliege ich oft. Auch diesmal werde ich fliegen, wenn ich aus dem Fenster springe. Wie doch ein einziger Gedanke ein ganzes ewiges Glück vergiftet. Das schönste Mädchen im Universum ist nicht mit dem schönstmöglichen Körper gleichzusetzen. Glück bedeutet nicht, sich mit Schönheit wie mit H zuzudröhnen. Das ist der Grund, warum ich hinter dem mysteriösen Mädchen aus dem Zug her bin, obschon ich weiß, dass sie nicht perfekt ist. Ich fliege über einen See hinweg, über Wälder, Häuser, lande sanft auf einer Wiese. Ich gehe einen schmalen Weg entlang in ein Dorf, das ich früher einmal im Jahr besuchte, immer im Sommer.

Angekommen, sehe ich ein Loch im Boden, als ob die Raumzeit an diesem Ort am Verfaulen wäre. Das Loch wird immer größer, das Dorf versinkt im Nichts. Das Fliegen ist mir vergangen. Aus letzter Kraft rette ich mich vor dem Loch, um mich auf einer Klippe über einem Flussbett wiederzufinden. Ein Mädchen, im November 1998 war es 14, stößt mich die Klippe runter, das Flussbett füllt sich mit Wasser. Ich rolle zum Wasser, Oben und Unten geraten durcheinander. Nun beginne ich zu ertrinken. Überall ist Wasser. Ich schwimme an die Oberfläche, sehe aber nur Wasser, und eine hohe Welle rast auf mich zu.

Ich bin höchstens fünf, sehe einen Schwarm fliegender Kühe am Himmel und gehe ins Haus. Ich schließe alle Fenster, endlich die Tür, aber da rammt sich schon ein Kuhkopf durch die Tür ins Haus, eine andere fliegende Kuh zwingt ihren Kopf durch ein kleines Fenster hinein. Fliegende Kühe fressen kleine Kinder... Schade, dass ich damals nicht fliegen konnte.


26. Wahrheit und Kontrolle

Ich muss immer pissen, wenn mich Rotkäppchen besucht. Es dauert immer so lange, bis Rotkäppchen nicht mehr da ist. Es ist unmöglich, Rotkäppchen einzufangen. Allein unmöglich. Ein siebenjähriges Mädchen fing es für mich, ich sah Rotkäppchen in die Augen, und seitdem belästigt es mich nicht mehr. Ich bin nicht 30 oder 31 oder wie alt ich auf dem Weg, einen Einsiedler namens Jacques zu töten, nun bin. Ich bin auch der der ich vor zehn Jahren war, auch der verzweifelte Teenager, auch der kleine Junge, und auch der ganz kleine Junge, der nicht in den Kindergarten gehen wollte. Für all diese Mädchen bin ich daher immer ein Gleichaltriger, egal ob ich im Sand spiele oder im schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte unterwegs bin, jemanden zu ermorden.

Das Haus über einem trockenen Flussbett erwartet meinen Besuch; der befestigte Weg, den ich oft zu Fuss oder zu Rad benutzte, ist gesperrt. Ich gehe direkt über das zugemüllte Flussbett in dieses Haus mit zerbrochenen Wanduhren; das Haus scheint zunächst nur eine Fassade zu sein, aber hinter den Außenwänden, die man zunächst sieht, steht ein anderes Haus. Ich gehe da rein, es ist angenehm sauber und viel Platz. Wohnt Jacques hier allein? Ich gehe in den zweiten Stock, dort steht ein Schreibtisch direkt unter einem offenen Fenster; die Äste eines Apfelbaums reichen ins Haus, hängen über dem Schreibtisch. Es ist so frühherbstlich schön; am Schreibtisch sitzt ein sehr feiner fünfzehnjähriger Junge und schreibt.

Wir sitzen im Gästezimmer und trinken Tee. Er will wissen, ob ich weiß, was ein Selbstzweck ist. Abstrakt weiß ich es, doch seine Frage ist konkret. Ich bin es, sagt der Junge. Der ganze lebende Luxus der Welt ist für mich da. Ohne mich verliert es seinen Sinn und wird dekadent, die Körper spucken ihre Seelen aus und sind Zweck für Anderes, konkret Puppen, in die jeder hineinschlüpfen kann, der die entsprechende Technologie besitzt. Ich frage ihn, ob er Jacques ist. Er sagt, es sei meine Entscheidung, ob er Jacques ist. "Meine Geliebte hast du ja schon kennengelernt. War es schön, ich zu sein?" "Wir haben nur getanzt" versichterte ich. "Aber ich weiß doch. Du hast nur das mitgetan, was ich getan habe. Ich hatte die Kontrolle, du ihre Illusion. Aber solange man nicht weiß, dass man es nicht selbst ist, glaubt man, sein eigenes Leben zu leben. Doch du lebstest für kurze Zeit meins". "Habe ich jetzt die Kontrolle? Ist es meine Entscheidung, ob ich dich töte oder am Leben lasse?" "Du fällst wieder einmal hinter Erkanntes zurück. Ein entweder-oder gibt es nur in deinem Kopf".

Als ich gehe, verschwindet das Haus hinter der Fassade. Da ist nur Asche. Habe ich Jacques getötet? Wahrheitsfaktor 0,22. Keine Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis, das in Wahrheit entweder eintrifft oder ausbleibt, 0,22 ist die Wahrheit. Ein Umzug in der Stadt, ich setze mich in eine fahrende Yacht. Es ist eng und voll, Klassenkameraden aus vielen Schulen sind da, feiern, trinken. Die Yacht wird an einer Kreuzung angehalten, ist zu hoch für den Stadtverkehr. Vorbei die Party. Ich will in dieses alte Dorf zurück, in dem die fliegenden Kühe mich verfolgten. Angekommen, finde ich das alte Haus leer vor. Es ist fast ganz zugeschneit, im Kühlschrank viele unbekannte Süßigkeiten, die Namen der Eise und Schokoladen noch nirgendwo gesehen. Ich mache mir einen Tee und warte. Eine vergiftete Melancholie greift um sich. Ich will dringendst nicht gestört werden, aber spüre sozialen Atem im Nacken. Und bin im nächsten Augenblick woanders, an einem Bahnhof 300 Kilometer östlicher, steige in einen Zug. Der Vater rügt mich, ich hätte in das Haus des Großvaters nicht hineingehen sollen. Ich fahre absichtlich mit dem falschen Zug zurück. Das alte Haus ist nun abgerissen, ich versuche, irgendwo im Dorf unterzukommen, keiner kennt mich. Der Weg zwischen dem Einkaufszentrum und der alten Sporthalle ist neu asphaltiert, eine Einkaufsstraße wird errichtet, mitten in diesem westsibirischen Dorf. Um die Baustelle herum ist Mai, während im Dorf selbst später Januar wütet.


27. Und des Heiligen Geistes

Im Linienbus ganz hinten sitzt sie auf einem bis zur Luxuriösität bequemen Sitz. Im Laufe der Fahrt wird der Linienbus zum Reisebus, sie erkennt mich von Anfang an, langsam mache ich mich auf den Weg zu ihr durch die ganze Länge des Busses. Sie ist 18, ein zartes Schneeflöckchen auf dem kalten Hauch der Zeit. Ihr Lächeln, ganz leicht angedeutet, vielleicht nur mit den Augen, ist mein Navigationssystem. Der hintere Sitz des nunmehr Reisebusses wird zu einem Sessel im Fahrstuhl, als ich mich neben ihr hinsetze. Sie nimmt
meine Hand und ich spüre Stromschläge am ganzen Körper, ein verjüngendes Kaltbrennen, als verlöre ich mehr Masse als meine nukleare Zusammensetzung an Energie bereitstellen könnte. In ihrem Penthouse hoch über den Wolken liegen gestapelte Chloroplasten, der Balkon führt zu riesigen Stoffpilzen, die oberen Oberflächen sind perfekte Wolkenbetten. Ich springe und fliege umher bis ich in einer überdimensionalen Blüte Kleinique begegne. Ich fange ihr feinperliges Lachen, sie streicht durch mein Haar. Es passieren kitschige Dinge, aber es ist kein Literaturkritiker weit und breit zu sehen. Zartes Luxusglück bleibt von Neid und Häme unbefleckt. Aber zurück zur unmittelbaren Existenz.

Der Sund, der Graben schließt sich, und es ist kein Geringerer als Tano Cariddi, der meine dunklen Jahrunderte beendet. Ich staple Dokumente und Disketten, prüfe Bilanzen, als er klingelt und ins Haus hineinspaziert. Gott ist ein Zyniker, sein Zynismus muss zynisch verstanden werden; dem Spiegel, der das Nirwana darstellt, muss ein Spiegel direkt gegenübergestellt werden, damit das Andere des Nichts seine Bühne bekommt. "Unterschreib die Vertragsauflösung" sagt der Besucher und zieht eine lange Pistole. "Was machst du wenn ich unterschreibe" sage ich und halte mein Lächeln mit aller Kraft zurück. "Ich nehme das Dokument und fahre sofort zu den Zenobiten". "Schwörst du es?" frage ich und werfe einen letzten Blick auf die unzähligen Grafiken, Tabellen, Charts, Ranglisten. "Ich schwöre". Ich unterschreibe. Er nimmt das Papier und schießt: "Ein Gruss vom Vater... einer vom Sohn... und einer vom Heiligen Geist". Ich falle und sterbe.
Ich liebe diese Szene seit meiner Kindheit. Danke, dass ich so sterben durfte.

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (30.05.23, 08:56)
!mein lieber herr gesangsverein!
mehr fällt mir, staunend, nicht zu ein... :D
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