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Trias 

Trans

Erzählung zum Thema Verliebtheit

von  Terminator

Ich hatte nie ein Musikinstrument spielen gelernt, doch seit ich in Bianca verknallt war, wollte ich nur noch eins: sie mit einem Klavierkonzert beeindrucken. Ich würde als Letzter beim Schulkonzert auftreten und ein romantisches Stück für Bianca spielen. Also lernte ich wie verrückt Klavier, vergass alles andere, und konzentrierte mich nur noch auf diesen Tag im Mai 2001. Ende Dezember 2000 war ich bereits drei Monate lang in die elfenhafte Albinomaus verknallt, und zwölf Wochen waren vergangen, seitdem ich sie vom Schulhof aus beim nachmittäglichen Klavierkreis gesehen hatte. Sie wusste vermutlich noch nichts von meinen Gefühlen, aber eine nette Freundin aus meiner Klasse hatte meine sehnsüchtigen Blicke beobachtet und fragte: "Warum sprichst du sie nicht an, ihr spielt doch beide Klavier?" "Nein", sagte ich, "ich werde sie erst ansprechen, wenn ich es gut genug kann". "Was ist gut genug?" "Perfekt". Sie wunderte sich: "Du verzehrst dich so nach ihr und wartest bis du perfekt Klavier spielen kannst, bevor du sie ansprichst? Und was, wenn sie in der Zwischenzeit die Freundin eines anderen Jungen wird, oder sogar was Schlimmes passiert, und du dann mit 70 noch bereust, dass du es ihr damals nicht gesagt hast?" Wir waren beide Romantiker, diese gute Freundin und ich. Sie überredete mich, zum Auftritt des Schulchors bei einem Weihnachtskonzert mitzukommen. Ich starrte aus der Tiefe des Raums Bianca an, und dann kam ihre Clique auf unsere Pianistengruppe zu, und es wurde viel geredet. Ich war schon immer ein schüchterner Mensch, also ging ich nach Hause, ohne ein Wort mit Bianca zu wechseln, und kaufte nach einer langen Diskussion mit meinen Eltern für all mein Erspartes ein leidliches Klavier. Ich übte wie verrückt, und als es März war, konnte ich es einigermaßen gut. Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet das Stück "Greensleeves" war, das ich wie kein anderes intuitiv mit Bianca in Verbindung brachte, aber da beschloss ich endgültig, dieses Stück zum Schluss zu spielen. Mitte April veranstalteten wir einen Wettbewerb, bei dem ich das Vorrecht gewann, als Letzter aufzutreten, aber spielte da natürlich ein anderes Stück. Ich bemerkte früh genug, dass Bianca sich in den Raum schlich, mit ihrem langen wunderschönen blonden Haar spielte, und bei den anderen guten Pianisten der Schule nachfragte, wer den Wettbewerb soeben gewonnen hatte. Ich stieg durchs offene Fenster unbemerkt auf den Schulhof und raste mit meinem Fahrrad nach Hause.

Am Vorabend dieses einen Tages im Mai war ich so aufgeregt, dass ich die Nacht auf dem Fahrrad verbrachte: ich raste durch die leeren Straßen von Hannover, bis der Morgen dämmerte, wonach ich zurück in die Kleinstadt fuhr, in der ich wohnte, schnell duschte, und ohne Frühstuck zur Schule radelte. In der großen Pause kippte ich um, weil ich so viel Energie verbraucht und nichts gegessen hatte, aber es war nur ein Sekundenblackout und ich war zum Glück bereits an eine Wand gelehnt, die ich einfach nur runtersackte, anstatt von allen bemerkt hinzufallen. Geschichte schwänzte ich, und aß stattdessen üppig zu Mittag, wonach ich in den restlichen drei Stunden im Kopf penibel das Stück immer wieder durchging. Ich merkte gar nichts von einer durchgemachten Nacht, was auch sicherlich an meinem Alter lag, ich war ja erst 18. Aber ich merkte die Spannung, denn alles stand an diesem Abend auf dem Spiel, und würde ich nur den kleinsten Fehler machen, wäre all das umsonst gewesen. Ich hatte noch nie unter wirklich großem Druck gespielt, und es ging mir auf der Heimfahrt immer wieder durch den Kopf, dass ich ein halbes Jahr meines Lebens und mein ganzes Geld dafür gegeben habe, für ein Mädchen, mit dem ich kein einziges Wort gewechselt hatte, Klavier zu lernen. Ich nahm am Abend ein Taxi zurück zur Schule, denn ich hatte meinen einzigen Herrenanzug an und wollte nicht nach 5km Fahrradweg riechen. Zweimal spielte ich für eine Sängerin aus der 7. Klasse, ein niedliches und sehr sympathisches Mädchen, und im Gegensatz zu mir bei Musikinstrumenten und Gesang wirklich talentiert. Doch wo ein Wille ist, ist schließlich ein Weg, und ich hatte den Wettbewerb der Schulpianisten ja auch ohne Talent gewonnen. Fünf Stunden jeden Tag üben, und der Rest ist Glück. Nun war ich an der Reihe mit dem letzten Stück, und es wurde sehr still im vollen Saal, - nicht weil ich gleich spielen würde, sondern weil sie alle wussten, dass jetzt der Sieger auftreten und für den Höhepunkt des Abends sorgen wird. Bei meinem dritten Aufgang zur Bühne - diesmal ganz allein - hörte ich die Schüler und Eltern in der ersten Reihe einander fragen, wer ich sei. Man kannte sich untereinander, und alle, die ein Musikinstrument spielten, spielten es seit der Grundschule. Die Spannung war kaum zu ertragen, aber ich ließ mir nichts anmerken, und stolzierte elegant zum Klavier.

Das Peinlichste wäre jetzt, einfach umzukippen, und davor fürchtete ich mich nun noch mehr als vor einem Fehler oder dem Stottern bei meiner Ansage, denn ich stotterte nicht nur wenn ich aufgeregt war, sondern manchmal auch bei normaler Konversation. Für eitle Menschen ist dieser Sprachfehler ein Lebenstrauma, und wie eitel muss jemand sein, der alles andere im Leben für ein halbes Jahr vernachlässigt, nur um ein Mädchen mit einem Klavierstück zu beeindrucken! Die Sekunden dehnten sich, doch mit dem Blick auf die Armbanduhr sah ich, dass ich keineswegs zu lange auf die Ansage warten ließ. Was Wissenschaft und Technik doch schon alles getan haben, um unser Leben zu verbessern, o ja, besonders denke ich dabei an die moderne Medizin, die Hygiene, die neuen Möglichkeiten der Mädchen, ihre Schönheit vollkommen zu entfalten. Bianca war zwar schön, aber in meinen Augen ein Rohdiamant, - es ist durchaus möglich, aus diesem Körper noch mehr Beauty herauszuholen, und ein Mädchen könnte sich noch eleganter kleiden. Ich sagte mit leiser aber fester Stimme: "Bianca, dieses Stück ist nur für Dich", und sah kurz in die hinteren Reihen, wo die neunten Klassen ihre Sitzplätze bezogen hatten.

Ich spielte los, und es war ein unvergleichlicher Flow, ich übertreibe nicht, es klang viel schöner und zarter und erhebender als zu Hause auf der CD. Ich ahnte schon, dass ich alle Erwartungen übertroffen hatte. Ich verzog mich unauffällig hinter die Bühne, nahm Gratulationen von anderen Spielern entgegen, und ging nach einer Weile weiter zum Bankett. Unsere Blicke trafen sich, wie an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal sah, doch diesmal schaute ich nicht nach unten und ging weg, sondern schritt mit festem Blick auf sie zu, sah ihr direkt in die Augen, nahm ihre Hand und küsste sie. Ich hatte nie zuvor ein glücklicheres Mädchen gesehen. Vor ihr stand der Prinz, von dem jedes Mädchen seit der Kindheit träumt. Ich hatte also tatsächlich mit diesem Stück ihr Herz erobert, also waren all das Geklimpere und all diese vor Langeweile und Wiederholungen des Immergleichen fast unerträglichen Tage nicht umsonst. Ich vermute, sie wollte tanzen, und war sehr überrascht, als ich mich bei ihr distanziert und formal in einem kurzen Satz für ihre Existenz bedankte, und das Schulgebäude verließ. "Willst du deinen Triumph allein genießen?" fragte mich mit vorwurfsvollem Blick ein moralinsäurespeiender Klassenkamerad. "Er ist so schüchtern", entzückte sich die gute Freundin, und rief mir noch zu, ich sollte nach dem gedankenordnenden Spaziergang zum Bankett zurückkommen. Meine Gedanken waren einfach: es ist der andere Mensch, den wir im Leben brauchen, um glücklich zu sein, - man denkt, man sucht nach einer Idee, einer Entdeckung, nach Gott, doch im Grunde sucht jeder von uns nach einem Menschen. Ich gab eine Zahlenkombination auf meiner Armbanduhr ein, und schloss die Augen.

Der andere Mensch, der echte, noch natürliche Mensch, das Lieblingsspielzeug des Transhumanisten. Es kam der schmerzhafteste Teil des Abends, ja, an den stechenden Schmerz, der mir immer in die Glieder fährt, wenn ich mich durch die Zeit teleportiere, kann ich mich auch nach dem 27-sten Mal noch nicht gewöhnen, - aber nach langer Übung muss man wenigstens keine Todesängste mehr durchstehen. Ich erwachte wieder in meinem Raumschiff, der den Jupitermond Europa umkreiste, und setzte mich gleich an den Computer, um zu sehen, zu welchem Lebensabschnitt ich als nächstes zurückreisen wollte. Ich hatte fünf alternative Kindheiten schon durchlebt, war zehnmal zwischen 1997 und 1999 unterwegs, hatte jeweils Physik, Mathematik, Biologie und Psychologie studiert, musste einige Reisen mit einem Suizid abbrechen, weil es keinen Spaß mehr machte, und starb viermal eines gewaltsamen Todes: als Freiwilliger im Krieg, als Amokläufer, als Bankräuber und bei illegalen Straßenkämpfen. Nun befinde ich mich auf einer Reise, die jetzt schon die bisher längste ist. Sie hat am 21.2.1998 angefangen und dauert mittlerweile 16 Jahre. Es ist nicht die aufregendste Reise, aber eine durchaus schöne, denn ich lasse mir diesmal jede Menge Zeit, um etwas nachzuholen, was ich in meinem echten Leben und all den Lebenssequenzen danach durch meine bislang ausschließlich hedonistischen Prioritäten versäumt hatte: das Dichten und das Denken. Ich bin leider ein miserabler Dichter, aber Philosophie zu studieren hat viel mehr Freude bereitet, als angenommen. Ich bleibe noch eine Weile, und wenn ich keine neuen Erkenntnisse gewinnen kann, starte ich wieder von vorn sagen wir mal am 24.8.2000, dem Tag meines letzten Schulwechsels, und verliebe mich diesmal in ein anderes Mädchen, - ein noch unerreichbareres, am besten eins, in das ich mich nach gesellschaftlichen Konventionen im Jahr 2000 nicht verlieben darf, in ein viel zu junges, oder in eins, das mich das herzzeißendste Liebesdrama erleben lässt, eins, das aus medizinischen Gründen bald sterben muss, oder ich erobere eine Frau, und spiele ihr ein unheilbares Krebsleiden vor, ach, die Möglichkeiten sind unbegrenzt...


Anmerkung von Terminator:

9.2014

2017 Großer Knall der Globalen Romantik-Gesellschaft

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