Von Schafen und Schäfern

Bericht zum Thema Mensch und Tier

von  HerrBertie

Von Schafen und Schäfern

Auf der großen Wiese, auch bekannt als die Gleueler Wiese, weidete an jenem Nachmittag eine große Schafherde, etwas Friedlicheres gibt es kaum. Hin und wieder hörte man ein Blöken und Mähen und sonst nur das beharrliche, gleichmäßige Kauen von Gras. Manchmal unterbrachen welche auch ihr Grasen, blickten auf und schauten uns an: ob sie dachten, wir sind auch Schafe? ob sie überhaupt irgendetwas dachten?, zu gerne hätte man gewusst, was da in ihnen vorging. Die Schäferin stand etwa 150 Meter weit weg, gestützt auf einen Stock, und wir änderten unsere Richtung so, dass wir auf sie trafen. Einer von ihren beiden Hunden hieß Whisky. Er wäre aber keine große Hilfe, meinte sie. Sie war, genau wie wir, sehr traurig darüber, dass diese Wiese bald schon den Ausbauplänen des benachbarten Fußballclubs zum Opfer fallen sollte. Sie käme sehr gerne hierher. Ihre Herde umfasste 600 Tiere, wie sie uns stolz berichtete, aber eigentlich gehörte sie ihr gar nicht. Sie war nur eingesprungen für den Schäfer. Der war vielleicht in Urlaub, aber wir vergaßen danach zu fragen. Der Tag war heiß und sie war froh, dass wir ihren Hunden etwas Wasser anbieten konnten. Gierig tranken sie die Schale komplett leer. Dann gingen wir weiter und bemerkten bald, wie sich die ganze Herde in Bewegung setzte, und als wir uns umschauten, sahen wir, dass die Schäferin sich Richtung Gleueler Straße bewegte, die aber noch ein ganzes Stück entfernt war. Die Tiere wussten genau, zu wem sie gehörten, auch wenn es nur eine Vertretung war. Das war schön zu sehen und die Hunde mussten gar nichts tun. Auf einmal, wir hatten schon gar nicht mehr an die Schafe gedacht, wurden wir eines lauten, ängstlichen Blökens gewahr, etwa 50 Meter links von uns. Es kam von dort, wo sich die Herde vorher aufgehalten hatte. Ein einzelnes Lamm hatte offenbar nicht mitbekommen, dass seine Herde weggegangen war, und war, seiner Neugier folgend, bei einer Familie mit kleinen Kindern stehengeblieben. Verpeilt, könnte man sagen. Jetzt tänzelte es aufgeregt hin und her und man spürte die Verzweiflung, der das Kleine ausgesetzt war. Es hatte keine Ahnung, wo seine Artgenossen geblieben waren, und weil das Gras an dieser Stelle zu hoch stand, konnte es sie auch nicht sehen. So muss es sein, wenn man mutterseelenallein ist, dachten wir. Doch dann vernahmen wir ein lautes Blöken aus ganz anderer Richtung und wie wir den Blick dorthin wandten, sahen wir, dass sich ein erwachsenes Tier aus der Herde gelöst hatte und je mehr es sich dem Lämmchen näherte, desto mehr beschleunigte es seinen Schritt, immer weiter blökend, so dass auch das Kleine sich endlich in die richtige Richtung bewegte. Bald schon begegneten sich die beiden, beschnupperten sich kurz, rieben ihre Näschen aneinander, das Lamm knickte seine Vorderbeinchen ein und schon hing es an den Zitzen der anderen, welche anscheinend seine Mutter war. Die aber hatte schon beigedreht, zurück zur Herde, und das mit dem Trinken musste jetzt warten. Sie hatte den Schutz und die Sicherheit ihrer Herde aufgeben müssen, um ihren Nachwuchs wiederzufinden, und jener hatte für eine kurze Zeit unter der Trennung gelitten, natürlich selbst verschuldet. Jetzt aber waren die beiden wieder vereint und kurz darauf auch wieder mit der Herde. Wir spürten, wie uns das froh machte und das Gefühl etwas Besonderes erlebt zu haben, hatte danach noch eine ganze Weile angehalten.

  Vielleicht ein, zwei Wochen vorher war ich im Grüngürtel unterwegs gewesen, meinen Hund im Fahrradkorb. Am Ende des Decksteiner Weihers fanden wir einen schattigen Platz unter einem großen Baum, wo ich meine Decke ausbreitete. Es war ein ruhiges Fleckchen Erde. Bertie konnte herumstreunen, so wie er es liebte, doch einmal geriet er aus meinem Blickfeld und ich musste ihm hinterher und leinte ihn dann bei der Decke an. Gut so, denn kurz darauf kam plötzlich Lärm und Bewegung in die Idylle. Von links, vielleicht 30 Meter entfernt, brachen Schafe aus dem Waldstück hervor, in strengem Galopp und aufgeregt blökend, und liefen Richtung Weiher, das wollte nicht aufhören und es waren bestimmt so an die 100 Tiere. Fast eine Stampede, aber diese Tiere flohen ja nicht, sie waren verloren gegangen. Spaziergänger blieben stehen, ratlos, was zu tun war, denn ein Schäfer kam nicht in Sicht, und alsbald war von den Tieren nichts mehr zu sehen. Wie ein Spuk war das gewesen. Die Spaziergänger spazierten weiter, ich vertiefte mich wieder in meine Zeitung, jedoch nicht lange, dann ging das Ganze von vorne los, diesmal in umgekehrter Richtung. Vorneweg ein paar Leittiere, die aber ihr Tempo immer wieder drosselten und nach links und rechts schauten, so als hätten sie die Orientierung verloren oder als suchten sie etwas; dahinter die große Masse, die auf keinen Fall den Anschluss verpassen wollte, und endlich, da war von jenen fast schon nichts mehr zu sehen, noch ein paar Nachzügler. Sie hatten die Ruhe weg, trödelten herum bei den Bäumen, wo sie sich am frischen Blattwerk gütlich taten. So war selbst das Schaf mitunter kein Herdentier, dachte ich noch, und sah wie schon zuvor Spaziergänger, denen selbst auf diese Entfernung die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben stand. Es machte ja auch keinen Sinn, einzelne Tiere festzuhalten, vielmehr musste man wohl den Dingen ihren Lauf lassen. Und es fügte sich alles. Tatsächlich traten jetzt der Schäfer und sein Hund aus dem Wald hervor mitsamt seiner Herde, zu welcher, wie zu vermuten war, auch die Ausreißer zurück gefunden hatten. Er erteilte seinem Hund leise Befehle, die nicht zu verstehen waren, aber es schien, dass jener sich in der Nähe seines Herrn aufhalten sollte. Und dann marschierte der ganze Trupp Richtung See, aber durchaus geordnet; Schon bald sah man sie nicht mehr, nur gelegentlich war noch ein Blöken zu vernehmen, aber nur kurz und es klang auch nicht mehr aufgeregt oder ängstlich, sondern zufrieden.
  So war alles gut.

  In seinem Roman „Sein eigener Herr“ erzählt der Isländer Halldór Laxness von Bjartur Jonsson, einem Schafzüchter. Der stellt seine Tiere über alles, und als ihm eines verloren geht, macht er sich auf den Weg, trotz Winter und Schneesturm, und kann es doch nicht retten und sich selber nur ganz knapp. Oder unsere Weihnachtskrippe früher: nie durften die Schäfchen fehlen, sie wurden fein im weichen Moos verteilt und es gab einen Hirten, der trug eines auf seinen beiden Schultern. Daran muss ich denken, wenn ich solche Episoden erlebe und erzähle, und dass die Beziehung zwischen Schaf und Mensch schon etwas sehr Besonderes ist.

  Doch wie es aussieht, ist sie in Gefahr geraten. Eine TV-Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks, vor kurzem ausgestrahlt, macht einen traurig. Sie hat eine Schäferin über Wochen begleitet und gewährt dem Zuschauer einen guten Einblick in diese besondere Arbeit. Viel Zeit verbringt sie draußen bei den Tieren, ein halbes Tausend umfasst ihre Herde wohl, treibt sie von Weideplatz zu Weideplatz, muss den Zaun immer wieder auf- und abbauen. Manchmal ist der Boden sehr hart und sie muss mit einer Maschine vorbohren, ehe sie den Pflock einbringen kann. Einmal im Jahr ist Schur, dann kommt eine professionelle Schafschererin, eine Deutsche, die aber den größten Teil des Jahres in Australien oder Neuseeland verbringt. Dort lohne sich der Verkauf der Wolle noch, berichtet sie, während hier in Deutschland die Wolle meist gleich in den Müll wandert. Man will es nicht glauben, dass dieser kostbare Rohstoff hierzulande wertlos geworden ist. Auch die Stimme der Schäferin klingt ganz schwermütig, als das Gespräch darauf kommt. Überhaupt, eine Schäferei zu betreiben rechne sich nicht mehr und es sei kein Wunder, dass in den letzten 15/20 Jahren die Zahl der Herden in Deutschland von über 3000 auf unter 1000 zurückgegangen sei. Ihr Einkommen bestünde zu 50.000 € aus Fördermitteln der Europäischen Union, dazu erziele sie 14.000 € aus dem Verkauf von Lammfleisch. Dies aufs Jahr gerechnet und das klingt doch gar nicht schlecht.  Aber sie muss den Schlachter bezahlen, die Schur, den Veterinär, den Unterhalt für ihre Stallungen, das Futter, denn die Tiere können nicht das ganze Jahr über draußen sein, natürlich nicht, dazu Versicherungen, die Kosten für ihre beiden Hunde und vieles mehr. So blieben ihr ca. 14.000 € als Bruttojahresverdienst, wovon noch Steuern und die Beiträge zur Sozialversicherung abgingen. Das Fernsehteam hat nachgerechnet und kommt bei dieser Frau auf einen Stundenlohn von ca. 3,50 €. Sie erklärt, dass sie diesen Beruf nur deswegen ausübe, weil sie an den Tieren hinge. Die Tiere sind ihr Leben, jedes einzelne von ihnen, und man merkt das auch. Spätabends sieht sie im Stall noch nach den Muttertieren mit ihren Neugeborenen.  „Ja, die sind manchmal etwas träge nach der Geburt, aber das Kleine muss ja trinken“, und so gibt sie dem Schaf einen liebevollen Klaps auf sein Hinterteil und hilft ihm auf.
  Man möchte vor dieser Frau den Hut ziehen.
  Und fragt sich zugleich, was ist los mit diesem Land, wo ist die Reise eigentlich hingegangen in den letzten Jahrzehnten, wenn ein solches, Jahrtausende altes Kulturgut wie das Schäferwesen offenbar kaum Überlebenschancen hat? Was ist passiert, dass wir so etwas nicht mehr wertvoll finden, obwohl die Allermeisten von uns, und nicht nur die Kinder, beim Anblick einer Schafherde doch Freude empfinden und das Gefühl haben, etwas Besonderes zu erleben? Jeder Autofahrer, da kann er noch soviel PS unter der Haube haben, übt sich in Geduld, ja vielleicht freut er sich auch, wenn eine Schafherde die Straße kreuzt. Wie konnten wir es nur so weit kommen lassen?
  Und sind solche Fragen überhaupt wichtig?

Nachtrag
Auch die Ausstellung „Wir Kapitalisten“, welche in diesem Sommer in Bonn zu sehen war, kommt um das Schaf anscheinend nicht herum. Das eindrucksvolle Bild „Sheep Auction“ von Thomas Weaver, welch‘ passender Name, aus dem Jahre 1810 zeigt etliche geschorene Schafe, wahre Prachtexemplare, und um sie herum zahlreiche und ausschließlich Männer, vermutlich Schafzüchter, die meisten in vornehmer Kleidung und  Zylinder tragend, mithin vermögend, versammelt in einem Innenraum mit hoher Decke. Ein Begleittext weist darauf hin, dass die Schafzucht in der ökonomischen Entwicklung Großbritanniens eine herausragende Rolle spielte, indem sie sich von einem bedarfsdeckenden Wirtschaftszweig zu einer „optimierten Zulieferindustrie“ von Fleisch, Milch und Wolle entwickelte. Für die materialistische Geschichtsforschung, darauf weist die Ausstellung leider nicht hin, bildet die Schafwolle sogar die Basis für die Industrielle Revolution, welche in der Textilproduktion und in der Mechanisierung des Spinn- und Webvorgangs ihren Anfang nahm.  Dieser Rohstoff habe überhaupt erst die „ursprüngliche Akkumulation von Kapital“ möglich gemacht, welche für die Entstehung des Industriekapitalismus ganz wesentlich gewesen sei, und sein Vorhandensein nebst der Aussicht auf profitable Verarbeitung habe erst zu der Entwicklung der Dampfmaschine geführt. Zwei weitere Bilder thematisieren einen traurigen Aspekt der britischen Schafwirtschaft. Sie stammen von der Französin Rosa Bonheur, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts Schottland bereist, und sind eine Hommage an diesen Berufszweig und dieses Tier. „Highland Shepherd“ entsteht 1859. Der Schäfer steht in der Bildmitte, in der Hand einen Hirtenstab und hinter ihm dicht gedrängt und irgendwie ängstlich, seine Herde. Das Ganze vor einem Hochlandpanorama. In „Changing Pasture“, also Weidewechsel, haben drei Farmer ihre Herde in ein Boot gepackt und sind dabei über einen See zu setzen; links und ganz im Hintergrund erkennt man ein weiteres Boot. Die Kähne sind bis zum Rand gefüllt, aber die Schafe liegen ganz ruhig beieinander, sehr diszipliniert geht das zu, ganz so, als vertrauten sie ihren Schäfern. Doch erst die Texttafeln neben den Bildern informieren den Betrachter über die so genannten „Highland Clearances“, wie sie bis in die zweite Hälfte jenes Jahrhunderts hinein in Schottland an der Tagesordnung gewesen seien. Das Hochland sei praktisch geräumt worden, indem man die kleinen Landpächter vertrieben habe, um Schafzucht in großem Stil betreiben zu können. Und so beschreiben Bonheurs Bilder vermutlich einen Zustand noch ganz unberührt von diesen Vertreibungen. Bei ihr ist das Schaf nicht primär ein Objekt wirtschaftlicher Verwertung, sondern ein Begleiter des Menschen, der für das Tier sorgt, von dem er lebt, der auf es aufpasst und dessen Existenz erst durch das Schaf einen Sinn bekommen hat. Die Künstlerin schafft es diese Gemeinschaft zwischen Mensch und Tier festzuhalten und es ist wie bei jenen Schäferinnen, denen wir im Fernsehen oder auf jener Wiese begegnet waren.
  So kann das  Verhältnis zwischen Mensch und Nutztier eben auch sein, selbst in unserer Zeit noch. Doch scheint dies leider ein Auslaufmodell zu sein, welches in unsere Art zu wirtschaften nicht mehr hineinpasst und deswegen nur noch in irgendwelchen Nischen überleben kann, wenn überhaupt, und möglicher Weise in wenigen Jahren schon ganz verschwunden sein wird.
  Es heißt oft, die Menschheit schreite voran und entwickele sich immer weiter. Mir scheint, das Gegenteil sei wahr.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (09.01.21)
Schöne Beobachtungen, angenehm - unaufgeregt, mit leiser Melancholie - geschildert.

 HerrBertie meinte dazu am 12.01.21:
Hallo Graeculus,
vielen Dank für deinen netten Kommentar

 Moja (09.01.21)
Von diesem Bericht bin ich auch sehr angetan, er verknüpft auf interessante und unterhaltsame Weise verschiedene Aspekte und wirft Fragen auf, über die es sich lohnt nachzudenken.

Einen freundlichen Willkommensgruß!
Moja

 HerrBertie antwortete darauf am 12.01.21:
Schön, freut mich. Danke

 FrankReich (10.01.21)
Von mir ebenfalls ein herzliches Willkommen, bei manchen Begriffen wie z. B. Tierwohl oder Nutztier könnte ich allerdings schon aus Trotz zum Vegetarier werden, und obwohl Schafe eine Ausnahme bilden, denke ich, dass es ihnen ja nicht nur an die Wolle geht. 🤔

Ciao, Frank

 HerrBertie schrieb daraufhin am 12.01.21:
Hallo Ralf (oder Frank?),
ja, das verstehe ich auch, natürlich geht es den lieben Schafen nicht nur an die Wolle und ungeschoren kommt sowieso keines davon, abgesehen von Kamerunschafen. Die haben nämlich keine Wolle. Ich selber esse übrigens gerne Fleisch vom Schaf und beziehe es von der Besitzerin einer kleinen Schafherde. Immerhin, du erwähnst es auch, wird diese Tierart noch artgerecht gehalten und von Tierwohl kann hier wenigstens noch die Rede sein.
Vielen Dank für deinen Kommentar, der mich zum Nachdenken gebracht hat. Was ja auch Sinn der Sache ist.
Gruß, der HerrBertie

 indikatrix (12.01.21)
Lieber Herr Bertie,
vielen Dank für diesen genauen, fühlenden, und informativen Text!
Liebe Grüße,
Indikatrix

 HerrBertie äußerte darauf am 12.01.21:
Liebe Indikatrix,
sehr gerne. Und danke ebenso für deinen lieben Kommentar.
Viel Grüße,
der HerrBertie

 Dieter_Rotmund (13.01.21)
ob -> Ob

"€" ist in Fließtexten kein guter Stil.

 HerrBertie ergänzte dazu am 13.01.21:
Danke für den Hinweis, hast Recht..

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 18.01.21:
Bitte, gern geschehen.

 Thomas-Wiefelhaus (17.01.21)
Als Bielefelder, einer Stadt, in der früher viel Leinen verarbeitet wurde, dachte ich: nicht nur das Schaf ist ein Auslaufmodel, sondern auch der Flachsanbau.

Kunstfasern: Vorteile, wie billige Herstellung, nutzen, aber Nachteile in der Umwelt ignorieren.
Typisch für den derzeitigen Weg der Menschheit.

 Graeculus meinte dazu am 04.02.21:
Schon richtig, aber ein Model ist etwas anderes als ein Modell, auch ein Auslaufmodell.
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