Nachruf auf einen Flitzer namens "Ernie"

Text zum Thema Abschied

von  Thomas-Wiefelhaus

Natürlich kannte ich Ernie! Das heißt, ich kannte ihn eigentlich nicht! Ich habe im Leben, ein- oder zweimal beim Training, nur eine Handvoll Sätze mit ihm gewechselt. Ich kannte ihn, wie ihn viele kannten, er ist mir aufgefallen. Mir ist er schon aufgefallen, bevor er nackig war. Jetzt kann ich nicht mehr mit ihm sprechen, höchstens zu ihm. Es sei denn, es gebe ein Weiterleben im Himmel, an das ich ja nicht glaube. Da oben würde Ernie, sein bürgerlicher Name Ernst Wilhelm Wittig, mit seinem  nackten „Ernie“ nicht weiter auffallen. Da oben laufen ja alle nackt.

Zum ersten Mal aufgefallen bist du, Ernie, mir bei einem Freibad-Fest, genau am selben Tag, als mir auch Ingolf dort zum ersten Mal auffiel. Das ist schon lange, lange her! Ingolf war noch nicht durch „Formel eins“ bekannt und du, Ernie, nicht durch deine Flitzerei. Du warst angezogen wie ein Rennradfahrer und schlendertest  ohne auffälliges Verhalten durch das Freibad. Fielst mir aber gleich wegen deinem trainierten Körper auf.

Ingolf dagegen verhielt sich umso auffälliger. Umringt von einer Kinderschar jonglierte und zauberte er auf der Wiese des Bielefelder Wiesenbades. Und fuhr,  auf einem Einrad umher: „Das kann keiner! Das kann nur ich! Das kann keiner! Das kann nur ich!“, rief er immer wieder. – Angeber!, so, dachte ich damals. Aber Ingolf konnte wirklich was und hat mit seinem Können schon damals was verdient.

Vor der Schwimmbad-Tribüne war ein Wettbewerb mit einem fixiertem Rennrad.  Du, Ernie, hattest dich in die Reihe der Teilnehmer gestellt, und ich habe dir die allergrößten Sieg-Chancen ausgerechnet. Es ging darum, mit dem Fahrrad einen rasanten Start hinzulegen: wer fährt am weitesten in der ersten Minute? Die Drehung des Hinterrades wurde auf eine Walze übertragen, um die gefahrene Strecke zu messen.
Ein kräftiger Kerl mit stämmigen Beinen in Radfahrermontur, wer sonst soll denn wohl gewinnen, wenn nicht du? Gespannt wartete ich auf deinen Auftritt.  Eine gute Weile, um dich fahren zu sehen. Aber du hattest ein Fehlstart, kamst mit der Technik irgendwie nicht klar: Schade! – Gewinnchance verpasst! Bin mir sicher, sonst hättest du mit riesigem Abstand gewonnen!

Später gab es noch andere Wettbewerbe, etwa einen recht sportlichen, um die Miss Schwimmbad. Die Kandidatinnen sollten Aufgaben erledigen (Wie bei "Spiel ohne Grenzen!" Wer kennt das noch?) und bekamen Punkte. Am Ende des Tages wurden die Kandidatinnen vom Moderator zum Strippen aufgefordert. Aber alle haben nur so getan, als ob. Keine hat sich getraut. Alle Bikinis wurden anbehalten!
Vielleicht hätte man ja lieber einen Mister-Freibad-Wettbewerb ausrufen sollen? Mit dir, Ernie, als Kandidaten? Mit einen zünftigen Männerstrip am Ende? Dann dann wärest du vielleicht viel schneller zum Ausziehen und Flitzen gekommen und dabei bekannt geworden? Und du hättest dich ja sogar ganz legal ausziehen dürfen! Vor aller Augen! Ohne Angst vor Polizei, Richter, Gefängnis, wie Jahre später! Das Strippen hätte deinen Patzer, beim Fahrrad-Wettbewerb, 1A ausgebügelt! Dir Ernie, hätte der erste Platz gehört. Da hätte wohl selbst der Ingolf neidvoll geguckt?

Beim Fahrradfahren ums Leben gekommen. Einen Tag vor Heiligabend 2020. Ein schrecklicher Unfall bei Hannover. Vom Sattelzug mitgeschleift worden. Ich war geschockt, als ich es zufällig las. (Nein, Ernie! Nein! – Bitte, bitte nein!)  Ich will es mir nicht vorstellen! Es schmerzt. Das hast du nicht verdient, das hat niemand verdient! Ich hatte einen Abschnitt für dich in meinem nächsten Buch reserviert, wenige Zeilen, nur eine kleine Nebenrolle, und habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn du das liest. Nun kannst es nicht mehr lesen. Kannst nie wieder lesen.
Mir macht es bewusst: Die Zeit tickt. Die Zeit eines jeden tickt. Meine, deine, unsere. Jede Sekunde: macht es wieder „Tick“.

Dein Fahrrad auf dem Unfall-Foto der Zeitung war in der Mitte durch. Ich frage mich, welche Strecke du in deinem Leben auf Rädern zurückgelegt hast? Unfallfrei. Aber nun ist es doch passiert! Ich habe dich meist nur in Nähe deines Rennrads gesehen und immer mit Käppi, auch wenn du nackt warst. Hat man dir ein Rad ins Grab gelegt? Mit dem du im Himmel über Wattewolken fahren kannst? Ich weiß es nicht. Ich hab gelesen, dass dein Bruder Detlef zahlreiche Beileidsbekundungen bekommen hat. Detlef, der in ganz Ostwestfalen bekannt ist, weil man ihn oft bei Kaiser-Wetter mit seinem brummenden Motor-Drachen am Himmel sah. Ich habe ihn öfter fliegen gesehen, Ernie, als dich nackt! Zwei bekannte Ostwestfalen!


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

Mein Beileid an den Bruder Detlef und alle Angehörigen von Ernst Wilhelm Wittig!
Siehe auch meinen Text:   Wer war Ernie?
Aufgrund von überregionaler Bekanntheit hat er es auch zum Eintrag bei Wikipedia:   Ernst Wilhelm Wittig gebracht.

Ernies größter und bekanntester Auftritt war wohl im Westfalenstadion beim Fußballspiel Borussia gegen Arminia.
Auf dem Rad nackt über die Reeperbahn zu rollen finde ich auch nicht uneben! Aber war das denn nicht "Eulen nach Athen" tragen?

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Kommentare zu diesem Text


 Annabell (11.01.21)
... und schlenderste ...
bitte korrigieren und noch einmal lesen (Kommatafehler)
Eine schöne Woche wünscht
Annabel

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 11.01.21:
Der Duden meint schlendertest, mein erstes Sprachgefühl schlenderste!

Antwort geändert am 12.01.2021 um 22:28 Uhr

 Dieter_Rotmund (11.01.21)
Die korrekte Flexion von "schlendern", 2. Person Singular Präteritum, ist "du schlendertest". Musste ich auch erst nachschlagen.

Kommentar geändert am 11.01.2021 um 09:47 Uhr

 Teichhüpfer (11.01.21)
Ausziehen und auf die Straße gehen ist verboten

 Thomas-Wiefelhaus antwortete darauf am 11.01.21:
Nanu? Darum geht es doch gerade: Verbotenes trotzdem zu tun.

 Teichhüpfer schrieb daraufhin am 11.01.21:
dagegen habe ich garnix

 EkkehartMittelberg (11.01.21)
Das ist amüsant erzählt, Thomas. Ich kannte dich bisher mehr von der kämpferischen Seite. Schön zu sehen, dass du auch gekonnt locker schreiben kannst.
Heitere Grüße
Ekki

 Thomas-Wiefelhaus äußerte darauf am 12.01.21:
Danke für die Blumen! Habe mich gefragt, ob das für einen Nachruf zu locker ist? Aber "Ernie" hätte es wohl gefallen. Der Unfall war allerdings schrecklich!

Kämpferisch? Ich möchte vor allem auch die Realität darstellen wie sie ist. Andererseits erzähle ich mitunter auch mit schwarzem Humor
Oft liegen Amüsantes und Schreckliches nebeneinander. Geschichten, die beides verknüpfen gefallen mir.

Antwort geändert am 12.01.2021 um 22:37 Uhr
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