Erneut sterben

Gedanke zum Thema Täuschung

von  eiskimo

Mein ehemaliger Chef hieß Bernd. Bernd ist seit drei Jahren tot. Aber immer, wenn ich die alte Nummer anrufe, und seine Witwe Renate geht nicht ans Telefon, höre ich  Bernds vertraute Stimme. Die sagt mir, er sei nicht da, aber ich könne gerne eine Nachricht hinterlassen.
Renate hat den AB nicht gelöscht. Ich weiß nicht, ob ich das schön finden soll. Ja, es ist schön, Bernd so lebensnah  hören zu können. Es ist wie früher. Es ist fast normal.
Aber dann weiß ich im selben Moment, dass nichts mehr ist wie früher. Bernd stirbt jedes Mal neu.
Dabei hat er doch längst seinen Frieden. Und ich selber auch.


Anmerkung von eiskimo:

Wie gehe ich mit den Namen geschätzter Verstorbener um - streiche ich sie auf dem Klingelschild schwarz durch? Male ich im Telefonbuch ein schwarzes Kreuz dahinter? Drücke ich im Handy auf delete?

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (23.01.21)
Nicht nur am AB, auch auf CD oder im Internet hören und sehen wir längst verstorbene Sänger, Chöre, Schauspieler in immer besserer Aufnahmequalität. Dass das Konserven sind, sich einmal ins Bewusstsein zu rufen, dazu dient unter anderem dein kurzer Text über einen, den du noch hören kannst, obwohl er verstorben ist. Malerei, Fotografie und Film sind diesen Weg vorausgegangen.

 eiskimo meinte dazu am 23.01.21:
Wo Du das sagst, wird es mir erst richtig bewusst: Wir erfreuen uns an ganz vielen "Konserven". Stars zumal. Aber zu denen habe ich Distanz, das berührt mich nicht (mehr). Bei einem Freund oder Familienangehörigen reißt das jedes Mal wieder die Wunde auf; so geht es mir jedenfalls
LG
Eiskimo

 EkkehartMittelberg (23.01.21)
Hallo Eiskimo, wenn Bernd bei jedem Anruf für dich neu stirbt, ist dein Empfinden intakt. Wenn es anders wäre, müsstest du dir Gedanken machen.
LG
Ekki

 eiskimo antwortete darauf am 23.01.21:
Das trifft´s, glaube ich. Und ich rufe nur noch an, wenn ich weiß, dass Renate da ist.
lG
Eiskimo

 Moja (23.01.21)
Das ist eine schmerzhafte Erfahrung, ich habe auch nicht alle "gelöscht", die nicht mehr am Leben sind, der jährliche Kalenderwechsel tut sein übriges.
Erträglicher wäre das Speichern der Ansage des Anrufbeantworter auf ein anderes Medium, aber dazu müsste man mit dem anderen darüber reden.

Mitfühlenden Gruß,
Moja

 eiskimo schrieb daraufhin am 23.01.21:
Das Wort "löschen" hat schon etwas Makabres. Wie gesagt, das ist als ließe man die Person ein zweites Mal sterben.
Der Kalenderwechsel, den Du erwähnst, hilft, weil es eine Art anonymer Sachzwang ist. Da wird niemand eigens "gelöscht" - der Verstorbene wird lediglich nicht mehr neu aufgeführt.
LG
Eiskimo

 AZU20 (24.01.21)
Vieleicht doch ein kleiner Hinweis? LG
Agnete (66)
(24.01.21)
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