Rien ne va plus! Oder das (wahre) Märchen vom Amt

Erzählung zum Thema Erwachsen werden

von  Thomas-Wiefelhaus

(Vorgeschichte) © Thomas Wiefelhaus
Im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in gewöhnlichen Krankenhäusern war das kleine Stationsbüro für die Patienten weder „heilig“ noch tabu, sondern stets offen.
Es gab da wohl, hin und wieder, so einen vereinzelten neuen greenhornigen Pfleger, der die Gepflogenheiten des Hauses noch nicht richtig kannte, und unverständliche Sätze sagte, wie: „Die Patienten haben in unserem Büro nichts zu suchen!“ – Oder ähnliche komische, merkwürdige, dumme und, für Tomas gesunde Ohren, ganz und gar abstruse Dinge.
Aber diese Sonderlinge gaben ihr Widerstreben auch bald auf, um sich den ungeschriebenen Regeln, der allgemeinen Mehrheit und – nicht zuletzt! – auch Tomas’ Hartnäckigkeit geschlagen zu ergeben.
Außerdem musste Tomas ja ins Büro, denn dort saß meist sein Lieblingspfleger mit der rauen Stimme. Seltsamerweise ging dieser nur selten auf der Station umher, sondern blieb lieber im Büro hocken; manchmal wirkte es beinahe so, als ob er Angst vor dem großen Schlafsaal hätte, also musste Tomas schon ins Büro hinein gehen, um mit ihm zu plaudern …
„Nebenan auf der U6 liegt unser Rekordhalter, der ist schon seit 53 Jahren bei uns in ...  – Wollen Sie nicht dessen Rekord brechen?“
„Wieso das denn?“ Tomas hatte gerade erst vor drei Sekunden auf einem gepolsterten Bürostuhl Platz genommen, und begriff noch nicht recht, worum es im Moment hier eigentlich ging.
„53 Jahre! Überlegen Sie doch mal! Wenn Sie hier – hm, bei guter Pflege, hm, sagen wir – 86 Jahre alt werden, schaffen Sie das doch leicht …“ machte der Pfleger in seiner rauchigen Stimme plausibel: „Wie alt sind Sie jetzt? Rechnen Sie doch mal nach!“
Bedauerlicherweise war Tomas von dieser Vorstellung nicht übermäßig erbaut, und unterließ es lieber, genauer nachzurechnen. Zu seinem Leidwesen war dieser unbequeme und lästige Angehörige des Pflegepersonals so zuvorkommend, die Berechnung für ihn zu übernehmen: „Sie könnten es noch gute 70 Jahre hier aushalten, – das wäre doch ein schöner neuer Rekord!“
Diesen Satz sagte der Pfleger etwa mit dem Tonfall eines Verkäufers im Reisebüro, der seinem Stammkunden einen ganz bestimmten Hotelaufenthalt wärmstens ans Herz legen möchte.
Jetzt zog Tomas Gesicht und Schnute schief und quer. Er hatte seinen „neuen Rekord“ bildlich vor Augen und stöhnte. Doch auf diese Reaktion hatte sein stichelndes Gegenüber ja bereits gelauert.
„Warum suchen Sie sich denn keine Arbeit?“
„Ich?“ Tomas Stimme klang erstaunt … Konnte, durfte er das überhaupt?
„Ja – natürlich Sie! Wer denn sonst?“
„Wie soll ich das denn machen?“
„Warum gehen Sie nicht einfach zum Arbeitsamt?“ schlug der Pfleger mit seiner rauen Stimme vor. „Jetzt haben Sie ja Ausgang bekommen!“
„Hm?“ – So hatte Tomas das bislang noch gar nicht gesehen. Insgeheim hatte er wohl immer geglaubt, einer dieser, nach seiner Erfahrung, meist schrecklichen und tyrannischen Erwachsenen müsse sich um seine erste Arbeitsstelle bemühen, oder wenigsten mitgehen …
„Was? – Wie? – Ich? – Alleine?“
„Natürlich alleine! Sie wollen doch Arbeit haben, oder wollen Sie hier versauern?“
Nein! Ganz und gar nicht! Wenn Arbeiten zu gehen, wirklich eine Lösung für ihn war, eine Möglichkeit schnell aus der Klinik heraus zu kommen, dann wollte er sie auf der Stelle ergreifen! Solange „diese Stelle“ nur nicht in Bethel lag!

(Wirklich so einfach? Wäre fast ja wie in einem Märchen!) © Thomas Wiefelhaus
Und so sah man dann am nächsten Vormittage, kurz nach dem Frühstück, einen mit Butterstulle wohl gerüsteten 16-jährigen Jüngling, namens Tomas, an der Pforte Bethels vorüber ziehen, um sich auf Schusters Rappen auf den Weg zu machen. Natürlich hätte er auch die Straßenbahn nehmen können, aber dies erschien dem tapferen Ritter bei 5 DM Taschengeld in der Woche zu teuer. So machte er sich also zu Fuß auf den bislang von ihm unerforschten und abenteuerlichen Weg zum Arbeitsamt, welcher ihn quer durch Bielefeld und Wald führte – über Stock und Pflasterstein – und zuletzt tatsächlich glücklich zu einem hell gestrichenen Amtsgebäude in der Friedensstraße brachte.
Hier erstieg er kühn und mutig, zugleich auch ein wenig unsicher, gegen jedwede Anfechtung gewappnet zu sein, eine steile Treppe, wandelte über einen der endlosen Flure und punktlandete, nach eifrigem Fragen, endlich in einem Büro.
Im Büro befand sich ein erwachsener Mensch hinter einem Schreibtisch, in diesem Falle eine Frau. Eine Menschin.
Das Gespräch mit jener Beamtin der Gattung Mensch nahm zunächst einen arbeitsamtsüblichen Verlauf.
„Guten Tag, ich suche Arbeit!“ – „Als was?“ – „Ganz egal!“ – „Haben Sie einen Beruf erlernt?“ – „Leider noch nicht!“ – „Waren Sie schon mal bei uns?“ – „Nein!“ – „Sie heißen?“ – „Tomas Graben!“ – „Wo wohnen Sie?“ – „ Ich bin zurzeit in Bethel, in ...“
„Aus ...!?“ entfuhr es der Frau. „Normalerweise kommt doch immer jemand mit!“
„Ich bin aber alleine hier!“
„Jemand muss Sie doch begleiten, wenn sie aus ... kommen! Haben Sie keinen Sozialarbeiter?“
„Ich weiß aber alleine, was ich möchte!“ sagte Tomas ein wenig trotzig.
Hysterisch stand sie auf und lief zur Tür des angrenzenden Büros. Ihre Stimme klang schrill. „Herr Blüm, kommen Sie mal schnell ...“, die arme Frau trat von einem Bein aufs andere. „Schnell bitte! – Da ist jemand ... aus ...!“
Herr Blüm kam seelenruhig herbei und blieb völlig sachlich: „Was möchten Sie?“ – „Ich suche Arbeit!“ – „Haben was gelernt?“ – „Nein!“
Im Beisein eines (eher kleingewachsenen, aber) kräftigen Mannes fühlte sich die bedauernswerte Angestellte des Bielefelder Arbeitsamtes gleich sichtbar erleichtert. Nun wagte sie sogar, sich vor ihren „Beschützer“ zu drängeln, um wieder das Wort zu ergreifen und gleichzeitig das aufkeimende Gespräch zwischen Tomas und dem Sachbearbeiter abzuschneiden.
Tomas widersprach noch zaghaft, aber er merkte wohl, dass dieser Zug hier und jetzt für ihn abgefahren war: Just in dem Moment, als er so trottelig gewesen war, die Worte „Bethel“ und – vor allen Dingen – „...“ zu gebrauchen. Im Eiltempo verließ der Zug den Bahnhof. Auf Nimmerwiedersehen! Rien ne va plus! Nichts geht mehr!
„Es ist doch sicherlich viel vernünftiger, wenn Sie nochmal mit einem Begleiter wiederkommen!“ schlug die Dame vom Amt vor, und Tomas gab sich kleinmütig geschlagen.
Also flüchtete unser furchtloser Ritter erfolglos und unverrichteter Dinge aus der Höhle des Drachens. Hätte er doch vorher seinen superschlauen Lieblings-Pfleger nach einer Postadresse gefragt ...
Und so was nennt sich dann noch Friedensstraße!


Anmerkung von Thomas-Wiefelhaus:

A Sorry! Ich weiß, ich weiß, der Herr Blüm war erst viel später Arbeitsminister. Oder hätte ich dem Mitarbeiter doch besser "Arendt" taufen sollen?

PS.: Die Erzählung über Tomas Weg zur Arbeitsfindung (und seinen "Erfolg" oder Misserfolg?) wird demnächst fortgesetzt ...

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (08.02.21)
Thomas, du schreibst äußerst lebhaft und spannend. Ich hätte dem Tomas der Erzählung so sehr schon diesmal Erfolg gewünscht.
LG
Ekki

 Thomas-Wiefelhaus meinte dazu am 09.02.21:
Zum Lieblingstext gekürt! Das freut mich natürlich! Da soll nochmal jemand sagen: meine Tomas-Texte (Heim/Psychiatrie-Erfahrung) taugen nicht!

An wen denke ich wohl?

 Thomas-Wiefelhaus antwortete darauf am 13.02.21:
Erfolg hätte Tomas haben können, wenn er sich noch mehr gegen die Bevormundung von Erwachsenen aufgelehnt hätte. Aber isoliert, auf sich allein gestellt, ohne stärkere Hilfe von Erwachsenen die zuhören, ein schwieriges Unterfangen.
Mein Tipp an alle Minderjährigen, die ähnliche Probleme haben: wendet euch an die richtigen Stellen und Personen, dass zu heute sicher machbarer, als zur Zeit, in der Tomas Geschichte.
Sie (Viele!) geben dir zwar keinen Chance, aber irgendwo finden sich praktisch immer Chancen der Hilfe.

Zum Beispiel hätte Tomas ja ganz einfach mal einen alten Klassenlehrer, (in der romanhaften Biographie " Herr Stiller" genannt), anrufen können, dem er vertrauen konnte. Usw.
Die besseren Wege selber finden galt damals und gilt heute.

 Thomas-Wiefelhaus schrieb daraufhin am 20.02.21:
Was ich noch vergessen habe: man sollte eine Telefonleitung in die eigene Vergangenheit haben (siehe auch mein Text) Aber wo gibt es die zu kaufen?
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