Nun, von 0,5 Dioptrien auf 1,5 Dioptrien, das drückte mich heute sehr. Ich habe es geahnt, schon seit Wochen wurde mir übel, wenn ich in die Ferne sah. Meine Freundinnen meinen, das sei doch egal, sie hätten viel mehr Dioptrien, das sei doch gar nichts! Um das geht es gar nicht, es geht darum, dass ich fast 45 Jahre perfekt sah und plötzlich geht es bergab. Das ist das viele Lesen, sagte die Ärztin, Computerarbeit. Nun ja, jetzt gehe ich morgen zum Optiker und kaufe mir eine "Du wirst alt, Frau!" - Brille, was soll's (Es soll viel!).
Ich habe erst ein Viertel meines Studiums geschafft, es wird nicht besser werden, das dachte ich. Aber, der Moment, als ich es bemerkte, war erschütternd. Da rauchte ich noch, ging vor die Firma und sah auf das Straßenschild und konnte es nicht mehr lesen, kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder, aber es kam nichts klares. Vielleicht bin ich müde, dachte ich, beruhigte mich damit. Am nächsten Tag kam S. von weitem auf mich zu, ich erkannte ihn erst, als er näher bei mir war, dachte wieder, vielleicht die Heizungsluft, die Augen sind trocken? Ich sah immer wieder und wieder in der gleichen Distanz auf das Straßenschild, es blieb verschwommen und um das zu ertragen, meinen Magen zu beruhigen, mir wurde extrem übel bei dieser Sehübung, ging ich schon näher, um mich selbst zu belügen, überlistete mich selbst, dann konnte ich lesen. Und heute sagte die Ärztin, ja, die Augen sind schlechter geworden - Gewissheit.
Es war so eigenartig, als ob sie nicht zu mir gesprochen hätte. Aber, die ständige Müdigkeit nach vielem Lesen ... das war schon an mich gerichtet. Nein, mich versteht keiner, dabei möchte ich weinen, das ist so fürchterlich für mich. Ich beobachte gerne Menschen, auch aus der Ferne. So saß ich mit ihm im Kaffeehaus und beobachtete immer dieselben Menschen, witzig, die immer gleich aussahen und überhaupt die alte Dame mit ihrem Hündchen. Ich frage mich, was diese Menschen nun machen, ohne ihr Kaffeehaus? Sie rissen es ab, kein Stein steht auf dem anderen mehr. Er saß nur einmal mit Brille neben mir, ich war entzückt, die stand ihm gut, ich wollte ihn nur küssen, aber, da küssten wir noch nicht und die Schönheit war schmerzlich, ging tief, wurde zur Wollust, wühlte im Unterleib, nicht darüber nachdenken, ich sehe nichts mehr. Gar nichts sehe ich aus der Ferne, alles nur verschwommen. In die Augen sehen, nicht das sehen, was wirklich ist, blind vor Liebe sein, jetzt nicht mehr lieben, blind geblieben.
Auf dem Straßenschild steht "Vereinsgasse", mein Gehirn weiß das.