Magersucht und Arbeit

Kritik zum Thema Zeitgeist

von  Terminator

Glücksgefühle von Magersüchtigen kann ich gut nachvollziehen, da ich zuweilen sehr faul bin, und manchmal ganze Serien am Stück schaue, ohne dabei zu essen, denn das Zubereiten der Speisen, oft aber auch schon das Kauen, ist in jenen Tagen eine zu große Anstrengung. Wie reagiert der Körper auf Hunger? Bei starker Belastung bricht er zusammen, aber bei Zimmeraktivität genießt er das Gefühl, und es wird immer schöner. Zwei Tage nichts gegessen - nun will der Körper, besser, das Hirn, gar nichts mehr aufnehmen, und wenn, dann nur eine Kleinigkeit, weil das Verdauen ihm zu anstrengend geworden ist. Es ist ein emotionales Hochgefühl, ein sehr leichtes, angenehm leeres Gefühl. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine schleichende Nahtoderfahrung: der Organismus schüttet Dopamin aus, wie er es immer tut, wenn er sich dem geliebten Tode nahe fühlt. Die Magersüchtigen sind die anstrengungslosen Grenzgänger, die minimalistischen Extremsportler. 

Jeder, der ein Minimum an Selbstachtung hat, strebt danach, seinen Körper zu optimieren. In meinem Fall müsste die Optimierung mit Krafttraining beginnen; ist der Körper erst so gesund und stark wie möglich, kann die zweite, kosmetische Phase folgen, in welcher er nun so jung und androgyn wie möglich aussehen soll. Ein Mädchen kann die erste Phase bedenkenlos auslassen, denn Schwachheit und Zerbrechlichkeit machen es noch weiblicher, sprich noch schöner. Nur Haut und Knochen, und Muskeln exakt so viele, wie es braucht, damit der Körper geschmeidig, und nicht ausgehungert aussieht. Dünne Ärmchen bis zu den Schultern sind zweifelsohne attraktiver als Bäuerinnenarme, und lange Beine, die bis zum Hintern hoch schlank bleiben, sind natürlich ein Hingucker. Das menschliche Schönheitsideal schafft für Mädchen und Frauen die besten Anreize zur Magersucht.

Warum werden Mädchen magersüchtig? Ist es eine Krankheit? Wenn, dann eine psychische, keine psychosomatische Erkrankung. Gewiss ist Magersucht eine Suchtkrankheit, da das Dauerhungern  aus welchem Grund auch immer durch das Gehirn mit seligmachenden Botenstoffen belohnt wird. Doch so ein widernatürliches Glücksgefühl entdeckt man nicht aus eigenem Antrieb, wie etwa die sexuelle Begierde oder die Abenteuerlust. Wie alle rein psychischen Krankheiten, ist die Magersucht hauptsächlich eine Reaktion der Seele auf eine entartete Lebenswelt. Besonders lebendige und sensible Seelen erkranken an einer kranken Umwelt; früh abgetötete oder einfach dumpfe Seelen kommen in jeder Umgebung zurecht. Die Magersucht ist eine Sucht, weil sie glücklich macht (die Depression wird ebenfalls von einer trostlosen Lebenswelt befördert, ist aber keine Sucht); sie ist eine durchaus ansteckende Krankheit, weil sie die Selbstachtung, die in einer den Menschen zum bloßen Mittel instrumentalisierenden Gesellschaft verloren geht, zum Inhalt hat.

Die Selbstachtung des Mannes wird duch seine vielfältigen Funktionen gesteuert, die ihm von der Gesellschaft zugewiesen werden: egal, was ich tue, ich muss gut darin sein, gar eigentlich der Beste, - erst dann bin ich in meiner Existenz voll legitimiert. Da der Mann das Mittel schlechthin ist, das Werkzeug des Werkzeugs, die tätige Vermittlung zwischen Mittel und Zweck, geht er ganz im Werkzeug auf, und schöpft seine Selbstachtung aus seiner Arbeit. Somit ist der Mann zugleich der Beherrscher seiner Lebenswelt, indem er sie beherrscht, ihr Herr und Meister wird. Aus seiner Dinglichkeit, die sich zweckgerichtet tätig zu den Dingen verhält, schöpft der Mann seine Integrität, die durch Verdinglichung selbst nicht angreifbar ist, es sei denn, sie geschieht durch einen fremden Willen. Das sogenannte Patriarchat ist eine Macht des Hegelschen Knechts über die Dinge, die zur Macht über die Gesellschaft wird, sobald sich die Dinge die Gesellschaft unterwerfen, sprich zu einer Gesellschaft der Arbeit und des Werkzeugs machen, zu einem Reich der Poiesis.

Die ursprünglich immerschwangere Frau ist der Herr im Hegelschen Sinn, dem die Macht über die Welt entgleitet, je stärker die Rolle der Arbeit und des Werkzeugs zunimmt. Als Naturwesen ist die Frau zunächst weniger der Muße und Kontemplation zugeneigt, als der Selbstbefriedigung durch ihre eigene Leiblichkeit. Verbannt der Mann seine sexuelle Erregbarkeit ins Genital, um seiner aus das Funktionieren fixierten Lebensweise gerecht zu werden, so fließt die Erregbarkeit der Frau über ihren ganzen Körper aus. Von der Arbeit Befreite können selbstverständlich ihre Zeit zum Denken nutzen, doch dies ist ein für das Naturwesen ungewöhnlicher Ausnahmefall, - der von der Arbeit befreite Mann  ist schließlich naturgemäß eher dem Rausch und der Faulheit zugeneigt, als einer kontemplativen Muße. So hat die Frau, weil sie der Herr über das menschliche Leben, und somit über den Mann ist, ihre primäre Betätigung darin, sich schön zu machen, und ihre Schönheit zu erhalten. Diente dies früher dem natürlichen Zweck der sexuellen Attraktivität zur Weitergabe des Lebens, so wird dieser natürliche Endzweck heute fast gänzlich abgeschnitten, und es sind immer seltener schöne Frauen, die schwanger werden.

Wenn die Frau kein Leben mehr erzeugt, ist sie als Beherrscherin des Mannes obsolet. Darum muss sie ihre sinkende Fertilität durch immer extremere Schönheit ausgleichen, - oft eine Schönheit über das Gesunde hinaus. Hiermit sind wir zur Magersucht zurückgekehrt. Die objektiven Ursachen der Magersucht-Epidemie sind erhellt, es bleiben aber noch die subjektiven Motive. Der Mann gehört der Frau, aber die Welt gehört (aus oben angeführten Überlegungen) dem Mann. Es ist eine Welt der Dinge und der Verdinglichung, in die die Frau hinein geboren wird. Ist die Frau als solche die fast transzendente Herrscherin über die Welt, so ist jede Frau als Einzelne immer vor der Wahl zwischen  Emanzipation (Vermännlichung) und Prostitution (Verkauf ihres Körpers für sämtliche durch Arbeit erzeugten Dinge, die dem Mann gehören, weil er sie, indem er an ihnen arbeitet, beherrscht). Die Gesellschaft zwingt das Mädchen, Hure zu werden, und das sensible Mädchen reagiert mit einem Aufschub der Erfüllung dieser Forderung: es weigert sich, sich zu verkaufen, weil es ja an sich noch arbeitet, weil seine Schönheit noch nicht optimal ist. So ist Magersucht in diesem Zusammenhang als eine ins Unendliche gehende Schönheitsoptimierung zu verstehen.

Mit der Überwindung der Arbeitsgesellschaft durch die Arbeit selbst (nur noch ein Bruchteil aller Beschäftigten arbeitet heute, um die zum Leben, aber auch für den Spaß gebrauchten Dinge herzustellen) werden die natürlichen Geschlechterrollen aufgelöst, was sich zunächst in der  Orientierungslosigkeit der nachwachsenden Generationen niederschlägt, die dieser wiederum durch einen Geschlechterfundamentalismus einerseits (da Frauen und Männer sich in der Gesellschaft objektiv einander immer mehr angleichen, werden die Unterschiede subjektiv wieder aufgebaut), sowie einen Vereinheitlichungsdrang andererseits beizukommen versucht. Heute kennt der Bürokrat nicht zwei, sondern drei Geschlechter: Formulare, in denen sich jede/r als geschlechtslos ausweisen kann, sind die logische Konsequenz einer Entwicklung, die objektiv seit mindestens 100 Jahren läuft. Die verunsicherten Frauen hungern und schmücken sich zu Tode, die verwirrten Männer arbeiten zu Tode, und betreiben immer exzessiveren Raubbau an Mensch und Natur. Anstatt dass die neuen Möglichkeit der Freiheit als einer Freiheit nicht von oder durch Arbeit, sondern zur selbstbestimmten Arbeit anzunehmen, schaffen die Überwinder der Arbeitsgesellschaft eine totale Herrschaft der sinnlosen Arbeit über den Menschen. Als wäre dies nicht ohnehin schon traurig genug, werden die vom Männlichseinmüssen befreiten Männer nun selbst magersüchtig, - der lange Weg von den Dingen zu sich selbst ist für den arbeitenden Menschen ein Weg von der durch die  Erwerbsarbeit vermittelten (Verschleiß, Ausbrennen, Berufskrankheiten) zur unmittelbaren Selbstzerstörung.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 eiskimo (17.03.21)
Sehr anregend zu lesen mit vielen Anknüpfungspunkten an die gegebene (Geschlechter-)Welt!
Wie schön, dass ich so gut im Futter bin!

 Regina (18.03.21)
Super Analyse der Magersucht und der kranken Arbeitswelt, die die Nachfolge von Sklaverei darstellt. Gruß Regina
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram