Schrecken

Groteske zum Thema Alltag

von  blauefrau

Mein Name ist Carl. Ich bin 37 Jahre alt und buchstabiere täglich Schrecken: Ich kenne mich da aus.
Will ich eine Zugfahrkarte ziehen, nimmt der Automaten gerade keine Münzen an, und ich habe nur Münzen.
Kommt der Zug nicht pünktlich, ist mein Handy bestimmt nicht geladen und ich kann nicht an meiner Arbeitsstelle anrufen. Im Zug muss ich mich rechtfertigen, dass ich keine Fahrkarte habe und warum ich nicht zu einem Automaten gegangen bin oder einen späteren Zug genommen habe. Der Schaffner reicht mir einen längeren Ausdruck, der mich auffordert, die Strafe in wenigen Wochen zu zahlen. Bin ich endlich mit einem späteren Zug am Zielbahnhof eingetroffen, hagelt es und ich habe keine Regenjacke dabei. Außerdem stelle ich fest, dass ich meinen Hausschlüssel zuhause habe liegen lassen und meine Nachbarin, genau: die mit dem Ersatzschlüssel, verreist ist. Am Bürogebäude angekommen, sehe ich aus den Augenwinkeln Paul Betzer, der mich unlängst fast verprügelt hätte. Er zeigt mir das Victory-Zeichen. Das alles weil ich seine Freundin date - das aber auch nur, weil ich ihr ein Programm auf ihr Laptop installieren soll, das es ihr ermöglicht, Paul Schritt auf Tritt zu kontrollieren. Die Prügel bekomme -fast- ich.
An meiner Arbeitsstelle ist die Heizung ausgefallen. Meine verknitterte Stoffjacke wärmt mich nicht, und abends werde ich mit einem starken Husten das Bürogebäude wieder verlassen- zwischendurch werde ich schikaniert von meinem Chef, dem es mit meinen Programmen nicht schnell genug gehen kann. Er will  den Ruhm absahnen, ich hacke mir die Finger krumm. So sehe ich das. Da ich eine ehrliche Seele bin, frage ich ihn auch heute direkt nach einer Lohnerhöhung. Abgeschmettert. Ich tue das jeden Tag, nachdem ich drei Stunden ohne Pause sämtliche Fehlermeldungen überprüft habe,  dann eine kurze Verschnaufpause  einlege - schon wieder, ruft der Chef im Vorbeigehen, Sie haben doch heute noch gar nichts geleistet! und weitere fünf Stunden an den Programmen arbeite. Wieso können Sie denn heute ausgerechnet keine Überstunden machen, murrt der Chef, als ich mit Ende meiner Arbeitszeit alle Ausdrucke zusammenlege, meine leere Brotdose in meine Aktentasche werfe, aufstehe und den Raum verlassen will. Ich werde Jean fragen, der hat Zeit, ruft der Chef und dehnt das  e i  in Zeit nachdrücklich. Jean muss auch keine Verfolgungsprogramm für Pauls Frau installieren, will ich rufen, blocke das aber ab und gehe.
Die U-Bahn hat 30 Minuten Verspätung. Während der Rückfahrt ein zweistündiger Halt: Personen im Gleis.


Anmerkung von blauefrau:

SIC 25 03 21

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (25.03.21)
Hach,
das kann ich gut nachvollziehen!
Vor allem die Automatenaffaire.
Witzig geschrieben und super beendet.

Einziges Kritikpünktlein: Im ersten Satz läse sich: "und buchstabiere täglich "Schrecken" besser. Ohne Artikel.

Herzliche Grüße
der8.

 blauefrau meinte dazu am 27.03.21:
Ich weiß gar nicht, wie viele Automatenaffären ich schon hatte. Mein Mitleid ergießt sich auch täglich über alte oder sehschwache Menschen, die die Eingaben nicht lesen oder verstehen können.
Die blauefrau

 EkkehartMittelberg (25.03.21)
halo Blaue Frau, man hat manchmal Tage, an denen es einem fast so geht wie diesem Pechvogel. Wem tut er nicht leid?
LG
Ekki

 blauefrau antwortete darauf am 27.03.21:
Ja. Doch könnte er unter dem Leidensdruck auch noch zum Täter werden.
Danke für dein* und die Rückmeldung. Sonnige Grüße
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