Bertiegeschichten, 3. Fortsetzung

Text zum Thema Mensch und Tier

von  HerrBertie

Die Nervensäge


Manchmal ist Bertie eine unglaubliche Nervensäge.  Ich fahre mit ihm irgendwohin auf einen Spaziergang, lasse ihn aus dem Auto oder hebe ihn vom Fahrrad und für die ersten 10, 20 Meter braucht er mindestens 10 Minuten. Das Gegenteil von munter losspringen halt. Er beschnüffelt und markiert Grasbüschel, Baumstämme, Steine, manchmal auch Autoreifen in großer Anzahl und äußerst gründlich, bevor er das Bein hebt (falls er es hebt!). Die folgenden 100, 200 Meter wird es nicht viel besser. Ich kenne das schon und trotzdem fällt es mir nicht immer leicht, geduldig zu sein und ihn zu lassen. Entschleunigung soll ja guttun. Ich kann auch, verständlicher Weise, nicht jeden zu solchen Spaziergängen mitnehmen, eigentlich nur sehr wenige, weil man sich unter einem Spaziergang natürlich etwas anderes vorstellt als solch‘ ein Stop-and-Go wie manchmal auf der Autobahn. Und ich erinnere mich an einen Spaziergang mit Ally, einer andere Engländerin; Bertie findet nach etlichen Anläufen endlich eine Stelle im Herbstlaub, hebt endlich sein Bein und Ally kommentiert lachend: „It had to be  t h a t  leaf.“
Bertie ist sehr wählerisch und pinkelt längst nicht überall hin.
Er ist auch nicht gut leinenführig. Schon mir folgt er angeleint nur sehr widerwillig, bleibt in kurzen Abständen einfach stehen und schaut mich von unten vorwurfsvoll an. Ich bestehe natürlich darauf, dass er angeleint bleibt  u n d  geht, schließlich kann ich mir nicht vorschreiben lassen, wann er frei läuft und wann nicht. Doch weiß er genau, dass ich irgendwann und meistens sehr schnell weich gekocht bin und ihn freilasse, sehr zur Entspannung  Aller übrigens. Bertie nachgeben ist meistens besser, auch wenn es tierpädagogisch sozusagen nicht akzeptabel ist. Doch frage ich mich oft, ob Bertie überhaupt ein Tier ist. Ich denke, eigentlich nicht. Er ist halt ein Wesen, so wie wir, und er hat einen starken, eigenen Willen, den ich nie habe brechen können und im Grunde auch nicht wollen.
„He is quite a character“, sagte mal jemand in England.
Die Unterscheidung Mensch – Tier macht vielleicht nicht immer Sinn.
Von anderen ausführen lässt Bertie sich eigentlich gar nicht. Sobald ich stehenbleibe und die Leine abgebe, tut er keinen Schritt mehr, und es ist schier unmöglich, dass jemand ihn bei mir zuhause abholt für einen Spaziergang, z.B. in den Park. Bertie bleibt einfach sitzen oder er schmeißt sich auf den Boden, und es ist schon passiert, einem Freund von mir und  in der Nähe einer Schule, dass sich Schüler um ihn zusammenrotten und andere herbeischreien mit der verlockenden Botschaft, da liege ein toter Hund und alle sollen kommen. Mit meinem Freund Michael war das und er hat es nicht vergessen, obwohl es schon über 8 Jahre her ist. Stundenlang bin ich auch kilometerlang  durch alle Wetterlagen gestapft, Bertie weit hinter mir und an der Leine bei jemandem, die sich mit Gassigängen bisschen Geld verdienen wollte, in der Hoffnung, Bertie würde lernen auch mit anderen zu gehen, aber es funktionierte nicht. Ein Hundetrainer, den ich engagiert hatte, beendete bald seine Bemühungen. Er wisse nicht mehr weiter und er habe einen solchen Fall noch nie erlebt.
So habe ich schließlich eingelenkt und ihn gelassen. Ich sage mir, dass Bertie wahrscheinlich Angst hat, jemand würde ihn von mir wegbringen, und dass das Trauma des Verlassenwerdens zu tief in ihm sitzt.
Manchmal denke ich, dass ich Bertie auch wegen seines starken Willens und seiner Durchsetzungsfähigkeit so liebe. Und dass sich manche ruhig eine Scheibe davon abschneiden könnten.
Ich auch.

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Kommentare zu diesem Text


 indikatrix (09.04.21)
Lieber Herr Bertie,
wie die menschlichen und tierischen Gefühle ineinanderfließen können ist eine besondere Entdeckung. Gerade stellt man auch wissenschaftlich fest, dass Tiere dem Menschen sehr ähnliche Emotionen haben. Selbstironisch und witzig, gefällt mir sehr, auch die Vorstellung, der Scheibe, die du abzuschneiden gedenkst
Liebe Grüße,
Indikatrix
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