Schnee im April

Innerer Monolog zum Thema Selbsterkenntnis

von  fritz

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Die Ruhe unter den Dächern erinnert an eine langsamer laufende Uhr, an einen Fluss, dessen Wellen sich immer wieder geschmeidig an kleinen Steinen brechen. Da ich kurz vergessen habe, in welcher Welt, in welcher Zeit wir gerade leben (sollte man nicht der Aufrichtigkeit wegen hinzusetzen, ja muss man es nicht sogar: und sterben), kann ich diese Ruhe wie eine Ruhe für sich nehmen, die keines sie veranlassenden Problems, keines Schreckens bedarf. Eine solche unschuldige Ruhe aber ist es nur für mich, und kurz, eben so lange wie ich nicht daran denke, dass wir – wie formuliert man es, ohne es in der Sprache immer schon abgefedert zu haben? – in einer Pandemie leben. – An wen denke ich bei der Frage »Was würde … tun?« An Kafka habe ich gedacht, nein, er, der Gedanke an ihn führte mich auf diese Frage. Du fragst, sagt die Geschichte, sich abermals windend, was sei und ich weiß nicht, wie ich darauf antworten soll. Wie ich darauf antworten könnte, denn das Sollen soll hier doch nicht leitend sein. Wie könnte ich darauf antworten? Welche Antwort wäre ich? Und würde diese Frage etwas in Dir berühren können, da Du doch einmal sagtest, Du glaubtest nicht, dass es so etwas wie ein Selbst wirklich gäbe? Und war ich nicht eben dadurch kristallklar auf die wahrhaftige Einversicht gefallen, dass mein Leben aus keiner Voraussetzung so sehr heraus (sich) lebt wie aus der, dass es mich als eben dieses Selbst wirklich gäbe? War ich mir nicht, in allem Schrecken noch und zu einem weiteren Erschrecken hin sich ziehen lassend, jenem nämlich: dies einzusehen, dies als Wahrheit, als ureigene Evidenz anzuerkennen (lässt es sich denn wirklich anerkennen?) – war ich mir nicht all diesem Schrecken und dem Erschrecken über den Schrecken stets völlig klar gegeben? War ich nicht ganz und gar ich selbst, ob ich mich nun (so) mochte oder nicht? Und würde also nicht die Idee vom Selbst und ein Leben aus der Annahme eines Selbst eine viel größere, weitere Freiheit eröffnen können, da ja eben und schließlich, schlussendlich das weiteste, was es geben könnte, ein Selbst sein muss? Aber eben eines, das im Prinzip das Allgemeinste wäre, das es je geben könnte: das ist ein Allgemeines, das den Widerspruch von Besonderem und Allgemeinem wiederum, sich selbst teils widersprechend, in sich trägt und als Spannung (die kein Krieg ist, da sie kein Krieg sein darf) aufrechterhält? Also das Selbst, das nicht und nie ist, was es ist – das nie ausschließlich das ist, was es ist, sondern immer auch nicht ist, was es ist und das immer auch das ist, was es nicht ist (womöglich sogar das ist, was es nie sein kann), dieses Selbst trägt alles, was es gibt, in sich und doch trägt es auch in sich, dass dies eben nie alles ist – und also ist das Selbst ein Seiendes, das immer nur vorübergehend wird, was es ist, und also immer auch wird, was es nicht ist und eben nicht wird, was es sein könnte. Das Selbst ist ein Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit (wie Kierkegaard es fasste). Es kommt vom Wege ab wie der Autor vom Text, sodass der Text selbst zum Autor dessen wird, der sich maximal verliert und maximal gewinnt in einer einzigen Dauer, der des Schreibens in diesem Fall. Der Schnee ist, die Knospen sind, die Pandemie ist und die Oasen des Vergessens sind. Ich bin in diesem Moment – sei es nun, dass es mich gibt als ein Selbst oder nicht – ganz klar und übe mich in der genaueren Anschauung meines Lebens, um es gemäßer zu führen. Dabei schwebt mir doch aber vor in deutlichem Nebel eine Idee von mir, wobei dieses Ich ein Prinzip ist, das alle »meine« Möglichkeiten unter sich fasst und genügsam trägt, aus denen sich sozusagen wie in einem Schnittpunkt die Wirklichkeit zusammenkomprimiert. Eben dies auch – fast schon präzise – formt den Stachel der Angst, die ebenso ein Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit ist. So nur eben kann es verstehbar sein, dass sich im Selbsterleben die Freiheitserfahrung mit der von Angst begegnet. Diese Begegnung aber – trägt Gott allein.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (08.04.21)
"Der Schnee ist, die Knospen sind, die Pandemie ist und die Oasen des Vergessens sind."
Ein wunderbarer Satz in diesem sprachschönen Text!

:)

 fritz meinte dazu am 08.04.21:
Danke für Deinen Kommentar, AchterZwerg. Freut mich, wenn der Text Gefallen findet.

 fritz antwortete darauf am 10.04.21:
Danke, Lluviagata, für Deine Empfehlung. Und für das Rousseau-Zitat, das ich noch gar nicht kannte.
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