Haare 1962

Kurzprosa zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Lluviagata

Hör auf zu kratzen! Inga nimmt die Hand von der Stirn, legt sie auf das zerschlissene Wachstuch und liest weiter in ihrem Heft. Die Alte nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter wieder auf, das Kind im Blick behaltend. Die Frauen reden über Margarine und verdünnte Milch. Inga fängt an zu schreiben, die Hausaufgabe ist morgen fällig. Die kratzt sich schon wieder! gellt es über den Tisch, von dem die hochschwangere junge Frau plötzlich aufspringt und Inga an den Haaren zu dem kleinen Waschbecken zerrt. Hat sie es dir nicht schon tausendmal gesagt, dass du deine Stirn in Ruhe lassen sollst! Sie schaltet den neuen Rasierapparat des Vaters ein und setzt ihn unter Ingas Stirnhaaren an. Im Rhythmus ihrer Atemzüge schiebt sie ihn über die Fontanelle bis zum Nacken. Das rasselnde Lachen der Großmutter verstopft Ingas Ohren, in denen Bienen summen und wuseln und unermüdlich von nacktem Scheitel, Kopftüchern und tänzelnden Zeigefingern erzählen. Die Mutter schaltet den Apparat aus, legt ihn auf das Spiegelbord. Guck hin, das haste nun davon, jetzt kann jeder deine aufgescharrte Stirn sehen! Vielleicht hörste dann mal mit dem Gekratze auf. Inga geht an den Tisch, nein, sie möchte die auf dem Boden liegenden Haare nicht sehen. Nein. Sie muss Hausaufgaben machen. Schau dich an! Die Augen der Alten umklammern Ingas Bauchfell, schieben sie zum Spiegel. Wieherndes Lachen spritzt über Ingas unversehrten Scheitel. Inga mag es nicht glauben, die Bienen summen noch. Mach endlich deine Hausaufgaben! Die Frauen reden über den Krieg, über Kinder. Nimm die Pfoten vom Pony! Der Füllfederhalter schrammt über das Papier. Noch einmal, befiehlt die Mutter. Inga streicht den Satz mit dem schiefen letzten Wort durch und fängt wieder an: Warum bin ich gerne ein Mädchen?

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (14.04.21)
Ja,
"warum bin ich gern ein Mädchem?" konnte man sich anno 62 zu Recht fragen.
Denn ein weibliches Wesen musste bei fast allen Dingen nachfragen: bei der Mutter und vor allem beim Vater, beim Ehemann, vielleicht sogar beim Chef, wenn der Gatte ihm einen solchen zugestanden hatte.

Im Text gefällt mir ganz besonders die Verstärkung durch das Thema der Haus (!)- aufgabe.

Gut gelungen, finde ich.
:)

 Sanchina (14.04.21)
gruselig, aber es war so in den 1960ern
Sin (56)
(14.04.21)
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 Quoth (15.04.21)
Ein Familienidyll mit drei Frauen (Großmutter, Mutter und Tochter), in dem aber nichts Idyllisches ist: Eine "Scheinhinrichtung" wird mit dem neuen Rasierapparat des Vaters vorgenommen (scheinbares Glatzeschneiden), aber dass die älteren Frauen sich über das Mädchen lustig machen, ist viel verletzender. Mag sein, dass sie so nur sind, weil Männer sie bevormunden und unterdrücken - aber können Frauen nicht auch aus eigener Kraft gehässig und herrsch- und spottsüchtig sein? Ein schwarzes Idyll! Gruß Quoth

Kommentar geändert am 15.04.2021 um 12:05 Uhr

Kommentar geändert am 16.04.2021 um 08:57 Uhr
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