Die Rückkehr des Lebens. Ein Plädoyer für mehr Transzendenz

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  philippjonas

Als ich mit dem Schreiben dieses Textes anfing, wusste ich nicht genau, warum ich das tat. Erstens einmal schreibe ich gerne, früher mehr, dann nach meiner Erkrankung fast gar nicht mehr. Der Grund oder wenn man so will der Sinn des Textes ist nicht so leicht zu erklären. Derzeit bin ich Student, ich bin in der Ausbildung zu einem Pädagogen und komme täglich mit verschiedenen Menschen in Kontakt, Studienkollegen, Kinder und so weiter. In meinen Gesprächen mit gleichaltrigen, jetzt zwischen 20 und 30 Jahre alten, tauchen dabei immer wieder ähnliche Themen auf. Im Zuge meines Aufwachsens und im Zuge der Erfahrungen, die ich in meinen nun 27 Jahren machte, kristallisierte sich dabei eine Frage immer mehr heraus. Es ist die Frage nach der Transzendenz der Gegenwart, der Zeitgeschichte. Der Zustand, den meine Generation und alle, die noch jünger sind als ich auszeichnet, fühlt sich an wie ein Zustand der Sinnlosigkeit. Am Eckpunkt der digitalen Revolution, der 2 großen Informationsrevolution, wenn man so will, finden sich viele Menschen mit Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Angst konfrontiert. Da hier valide Zahlen fehlen, nehme ich Abstand davon zu sagen, dass Menschen früher nicht unter diesen Ängsten gelitten haben, ich meine doch, dass im Angesicht der ganzen Krankheiten, des Krieges und des Leides, das allein das 20. Jahrhundert brachte, Angst und Depression vermutlich früher häufiger vorkamen als heute. Dennoch – frühere Generationen hatten eine Sache, die uns heute (manch einer mag sagen Gott sei Dank) abhandengekommen ist. Für diese Sache möchte ich in Anlehnung an Renata Schmitzkunz Plädoyer ‚Himmlisch Frei‘ den Begriff der Transzendenz verwenden. Transzendenz kommt vom lateinischen Wort ‚transcendere‘, was so viel wie ‚hinübergehen‘ oder ‚überschreiten‘ bedeutet. In meinem Verständnis bezeichnet Transzendenz also etwas, was über etwas anderes überschreitet – im geistlichen oder philosophischen Sinn etwas, was über das bereits Bekannte hinausgeht. Bewusst verwende ich hier nicht den Begriff des ‚Glauben‘, da er zumindest in meiner Generation zu negativ konnotiert und zu kirchlich dominiert ist. ‚Glauben‘ findet sich heute wieder in Phrasen wie ‚wer nichts weiß muss alles glauben‘, was die Phrase an sich abwertet. Transzendenz bedeutet für mich in etwa das, was der Psychologie Howard Gardner in seinem Modell der multiplen Intelligenzen und ‚existenzieller Intelligenz‘ versteht. Man könnte auch sagen, die Kompetenz mit den Fragen des Lebens, die dem wörtlichen Sinn nach auch immer geistige Fragen sind, fähig umzugehen, ohne an den für uns alle vorhandenen Schranken und Begrenzungen zu zerbrechen. Denn sterben muss jeder und die meisten von uns werden früher oder später einmal eine lebensbedrohliche und die Lebensqualität vermindernde Krankheit entwickeln. Erfahrungen von Verlust, Tod, Armut, Hunger, Flucht und Vertreibung sind in den meisten Ländern der Welt Teil des Alltags und bleiben uns auch in den moderneren, entwickelten Staaten nicht außen vor. Das also, was frühere Generationen hatten und uns abhandengekommen ist, ist die Transzendenz. Früher war Transzendenz hierarchisch in Form von Religionen organisiert. Religionen übernahmen in der Geschichte der Menschheit zentrale Funktionen der Organisation und der Stabilität. So gab es etwa keine gesetzliche Krankenversicherung, aber das religiöse Gebot der Nächstenliebe und der Hilfe armer und kranker Menschen. Diese Gruppenbildung, die Teil der Identität von Religionen ist, zeichnete sich dabei jedoch auch immer durch die existenzielle Bedingung der inneren Homogenität und der äußeren Heterogenität aus. Diese Tatsache führte und führt auch heute immer noch zu den brutalsten und blutigsten Kriegen in der Geschichte der Menschheit. Nicht ohne auf die Problematik zu verweisen, dass ich als Europäer in einem freien Land aufwachsen konnte, wo Religion und Staat getrennte Entitäten sind und das die Beurteilung solcher Dinge in anderen Ländern immer auch eine Beurteilung von oben herab ist, möchte ich doch auf die Absurdität verweisen, die sich dadurch ergibt, dass sich verschiedene soziale Gruppen, die sich selbst durch Religion definieren, untereinander ablehnen oder sogar bekämpfen, obwohl ihre Grundgedanken und Überzeugungen doch überaus viele Gemeinsamkeiten ausweisen. Gebote und Gesetze der Nächstenliebe, der Loyalität zur Familie, der Züchtigung, des Fastens, der Reflexion gibt es in allen Religionen auf unterschiedliche Art und Weise. Leider führt die dogmatische Art und Weise, wie diese heute praktiziert und ausgelegt werden, bei vielen Menschen in modernen Staaten zu starker Ablehnung der Institution und auch der Sache allgemein gegenüber. Gott ist tot, wie Nietzsche sagte, könnte man ergänzen mit Gott war tot und ist jetzt noch toter. Unabhängig davon gelangte ich spätestens seit meiner Erkrankung zur Überzeugung, dass Transzendenz etwas ist, was auch uns moderne Menschen unfassbar bereichern kann. Ich würde sogar davon sprechen, dass Transzendenz oder die existenzielle Intelligenz etwas ist, was der Mensch des 21. Jahrhundert systematisch vernachlässigt und sogar bewusst unterdrückt und entfremdet hat. Diese Lücke, die dadurch entstanden ist, ist dabei gewisse ein Faktor, der dieses Gefühl der Sinnlosigkeit, der Depression bei vielen Menschen in meinem Alter zu erzeugen scheint. Transzendenz ist dabei vereinbar mit allen Dingen, man muss nicht an Gott glauben, man muss nicht an die Ewigkeit, an ein Leben nach dem Tod usw. glauben, um Transzendenz dazu zu nutzen, sein eigenes Leben positiv zu bereichern.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (09.07.21)
Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um die Frage, ob es irgendetwas gibt, das über dem eigenen Ich steht, das wichtiger ist als dieses.
Das haben frühere Generationen wohl durchweg bejaht, wenn auch mit unterschiedlichem Inhalt: Gott, Vaterland, Kaiser, Führer, Menschheit, Arbeiterklasse, die Partei usw.
Heute erhält man fast durchweg die Antwort: nein, das gibt es nicht. Allenfalls noch: die eigene Familie.

Das ist auffallend, und wie es scheint, macht es die Menschen nicht glücklicher. Ob sie früher glücklicher waren, ist allerdings fraglich, denn selbst die Anerkennung eines höheren Ideals, einer Transzendenz des Ich kann unglücklich machen. Das kann man etwa in der christlichen Religion am Beispiel der Sündhaftigkeit erkennen: Weil sie an Gott glaubten, aber zugleich glaubten, dessen Normen nicht gerecht zu werden, fühlten sich viele der Hölle würdig. Soll heißen: Wenn ich an etwas Höheres glaube, kann es sein, daß ich ihm gegenüber versage.

Es mag sein, daß entweder Glück gar nicht in unserer Bestimmung liegt oder daß Glück nicht in der Erfüllung irgendwelcher idealer Normen besteht, sondern in der Zufriedenheit mit dem, was man ist bzw. hat.

Kommentar geändert am 09.07.2021 um 16:48 Uhr

 philippjonas meinte dazu am 09.07.21:
Zumindest ist das mein Empfinden - also viele junge Leute, die ich kenne, gehen stark gegen Kirche/Religion vor bzw. verwenden die Begriffe synonym. Ich denke aber, dass das was Religion gespendet hat (neben dem ganzen Schlechten, was sie mit der Angst vor Sünde ansprechen und was man zb gut nachlesen kann in KPM Anton Reiser) auch in einer säkularen Welt noch wertvoll sein könnte. Also Sinn und eine Richtung.

Ich denke auch, dass Glück nicht per se dem Menschen bestimmt ist. Aber immerhin lässt sich danach streben, man könnte sagen, die Lücke die die Kirche bzw. Religion hinterlassen haben schafft die Möglichkeit, sich unabhängig und ganz individuell Sinn (und Glück) zu definieren. Wahrscheinlich ist aber genau das auch eine der großen Herausforderungen, die Heranwachsende heute haben.

 EkkehartMittelberg (09.07.21)
Ich finde deinen Text sehr anregend, aber ich würde nicht für mehr Transzendenz plädieren.
Ich will gar nicht leugnen, dass es sinnstiftende Transzendenzen gibt. Aber die Anhänger einer Transzendenz halten in der Regel die ihre für allein selig machend und sind für andere Transzendenzen, obwohl sie, wie du schreibst, oft Parallelen zur eigenen aufweisen, nicht tolerant genug. So stiften die Transzendenzen meistens mehr Unfrieden als Sinn.

 philippjonas antwortete darauf am 09.07.21:
Auch wenn an diesem Punkt sicher viel Wahres daran war und ist, würde ich dennoch widersprechen. Ich denke, dass die Bereitschaft oder Fähigkeit an etwas Transzendentes glauben zu können oder zu dürfen wichtig ist. Was genau das dann ist, kann dann ja jeder selbst individuell festmachen.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 09.07.21:
Ja, jeder muss für sich entscheiden, was ihm die Transzendenz wert ist.

 Jedermann (09.07.21)
Ein berührend authentischer Text. Ich habe von Menschen deines Alters genau dieses vernommen. Sie leiden unter dem Gefühl der Sinnlosigkeit.
Die Zeit der späten Adoleszenz ist aber auch nicht leicht. Hinzu kommt in der heutigen Zeit, dass die technischen Komponenten an Dominanz gewinnen und die Anonymität in der Massengesellschaft zunimmt.
Mit der Transzendenz ist das so eine Sache! Natürlich, wir Menschen sind nicht nur materielle Wesen und die Wahrnehmung über die Grenzen der normalen Sinneswahrnehmung hinaus sehr wünschenswert. Apropos, als Nietzsche seinen Zarathustra sagen ließ: „Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, daß Gott tot ist.“, tat er dies mit großem Anstand. Er sagte es dem Gläubigen nicht ins Gesicht, obwohl mehr als 300 Jahre gegen die allgewaltige Macht des Klerus gekämpft werden musste um genau dieses überhaupt schreiben zu dürfen ohne danach auf dem Scheiterhaufen zu enden.
Gläubige Menschen scheinen es einfacher zu haben Halt zu finden. Aber meiner Meinung nach verbauen sie sich den Weg der Entwicklung. Nietzsches Übermensch als Metapher ist aus meiner Sicht ein lohnenswertes Ziel. Über sich hinaus wachsen, zumindest das Gefühl zu haben, kann man z.B. durch den Antrieb der eigenen starken Interessen. Schau in die Biographien von Menschen die durch ihren Output bekannt wurden. Viele dieser bekannten Menschen hatten gar keine andere Wahl. Sie mussten es einfach tun! Ich bin sicher es gibt auch viele Menschen, die ebenso handeln ohne bekannt zu werden und trotzdem ein erfülltes Leben erreichen.

 philippjonas äußerte darauf am 09.07.21:
ad junge Menschen) oftmals ist auch das Thema des "Nichts-verpassen-wollens" vorhanden. Also, wenn ich alles machen kann, reisen kann, mir den Beruf frei wählen kann, den Partner, den Wohnort usw. ist die Chance einen Fehler zu machen, den falschen Weg zu gehen, sehr viel höher. Man könnte sagen alles eine Sache der Perspektive.

"Gläubige Menschen scheinen es einfacher zu haben, Halt zu finden. Aber meiner Meinung nach verbauen sie sich den Weg der Entwicklung." Das ist ein schöner Gedanke, der die Ambivalenz davon ganz gut offenlegt. Ich denke aber, dass man Transzendenz auch praktizieren kann, ohne sich die eigene Entwicklung zu verbauen.

 LotharAtzert (10.07.21)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 12.07.2021 um 00:11 Uhr wieder zurückgezogen.
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