Warum ich schon als Junge lernte, Aphorismen zu schätzen

Anekdote zum Thema Wertschätzung

von  EkkehartMittelberg

Im siebten Schuljahr hatten wir ein Lateinbuch (Es hieß wohl Ars Latina), das jede neue Lektion mit einem Aphorismus beschloss, der zu dem neu eingeführten grammatischen Pensum passte.
Unser damaliger Lateinlehrer hat diese Aphorismen nie mit uns übersetzt. Mich lockte ihre Übersetzung umso mehr, je verschlüsselter ihr Sinn war. Ich war stolz, wenn ich ihre Bedeutung ohne jede Hilfe entdecken konnte.

Ich erwähne hier vier Sprüche, die mir aus jener Zeit noch in Erinnerung sind:                                 

1. Bene qui latuit, bene vixit. (Ovid, tristitia, 3,4,25 ) Wer sich gut verborgen hat, hat gut gelebt.

2. Benevolentia importuna non differt ab odio. (Sprichwort) Unangebrachtes Wohlwollen unterscheidet sich nicht von Hass.

3. Bis idem non est idem. (Sprichwort) Zweimal das Gleiche ist nicht dasselbe.

4. Cacumen radicis loco ponis. (Seneca, Epistulae morales 124,7) Du stellst den Wipfel an die Stelle der Wurzel.

Besonders lange habe ich gerätselt, bis ich verstanden hatte, was ein Aphorismus bedeutet, der dem alten Cato zugeschrieben wird, der seine Sklaven, die während seiner Abwesenheit Allotria getrieben hatten, zunächst straffrei ließ mit den Worten: „Freuet euch, dass ich zornig bin“.  (In diesem Falle konnte ich den lateinischen Originaltext nicht mehr ermitteln.)

Es hat bis zu meiner Pensionierung gedauert, bis ich Selbstvertrauen und Muße fand, meine ersten eigenen Aphorismen zu formulieren.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (16.08.21)
Den Cato kann leider auch ich nicht finden. Aber hier ist eine ähnliche Anekdote, die Dir vielleicht zusagt:
Nicht konnte sich abverlangen Platon eine Frist, als er seinem Sklaven zürnte, sondern ablegen ließ er ihn sofort die Tunika und darbieten den Rücken den Schlägen, im Begriff, ihn mit eigener Hand selber zu schlagen; nachdem er erkannt hatte, er zürne, hielt er so, wie er sie erhoben hatte, die Hand in der Luft auf und stand, einem, der schlagen will, ähnlich; gefragt sodann von einem Freund, der zufällig dazukam, was er tue, sagte er: „Ich vollziehe Strafe an einem jähzornigen Menschen [exigo, inquit, poenas ab homine iracundo].“

Gleichsam starr, bewahrte er diese Haltung des in Zorn Ausbrechenden, obwohl sie unangemessen einem weisen Manne, vergessend bereits den Sklaven, weil er einen anderen, den er eher züchtige, gefunden hatte [velut stupens gestum illum saevituri deformem sapienti viro servabat, oblitus iam servi, quia alium quem potius castigaret invenerat]. Daher nahm er sich weg die Gewalt über die Seinen [itaque abstulit sibi in suos potestatem] und sagte, wegen irgendeiner Verfehlung zu erregt: „Du, Speusippos, weise diesen Sklaven mit Schlägen zurecht, denn ich zürne.“
(Seneca, De ira III 12, 5 f.)

Kommentar geändert am 16.08.2021 um 00:47 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.08.21:
Merci, Graeculus, den beiden Anekdoten ist gemeinsam, dass der Zornige nicht strafen solle, weil er Gefahr läuft, vom Zorn geblendet ungerecht zu strafen.

 TassoTuwas (16.08.21)
Hallo Ekki,
als Nichtlateiner enthalte ich mich eines Kommentars, denn:
"Wenn man nur Nebensächliches zu sagen weiß, dann mache Schweigen zur Hauptsache!"
Herzliche Grüße
TT

Kommentar geändert am 16.08.2021 um 10:09 Uhr

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 16.08.21:
Merci, dann übernehme ich eine Antwort für dich, Tasso. In der Antike waren Aphorismen beliebt, die etwas längeres Nachdenken erforderten. Man muss zum Beispiel erst einmal darauf kommen, dass unangebrachtes Wohlwollen dem damit Beschenkten so schadet, als werde er gehasst.
Herzliche Grüße
Ekki
Jo-W. (83)
(16.08.21)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 16.08.21:
Gracias. Jo, "authentisch" ist ein schönes Kompliment.
LG
Ekki

 Moja (16.08.21)
Lieber Ekki,
vom zweiten Spruch bin ich besonders angetan - dahinter verbirgt sich der Ausdruck von purer Falschheit - selbst erlebt - und ist oft schwer zu widerlegen.

Dankeschön für Deine Gedankenreise,
lieben Gruß,
Moja

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 16.08.21:
Grazie, Moja, du hast einen sicheren Instinkt für das Besondere.
Liebe Grüße
Ekki

 FrankReich ergänzte dazu am 16.08.21:
Hi ihr zwei,

Hass definiert sich in erster Linie als feindselige Abneigung, unangebrachtes Wohlwollen jedoch kann unterschiedliche Gründe haben, wie z. B. die Absicht, sich jemanden gefügig zu machen, ihn auszunutzen, ihn ins Leere laufen zu lassen, etc., wobei die meisten von Falschheit zeugen, wenn ich nämlich, um ein konkretes Beispiel zu nennen, jemanden durch eine Lüge, die ihn in besserem Licht darstellt, zu besänftigen suche, weil ich ihn fürchte, heißt das noch keineswegs, dass ich ihn zugleich hasse, insofern ist eine Gleichsetzung m. E. n. unangemessen, obwohl manche Menschen vielleicht wirklich keinen Unterschied darin sehen, ob sie nun gehasst oder vorgeführt werden, den meisten jedoch, welche andere vorführen, bzw. ausnutzen und linken, sind die einfach nur egal.👋😉

Ciao, Frank

Antwort geändert am 16.08.2021 um 14:02 Uhr

 Moja meinte dazu am 16.08.21:
Eine feindselige Abneigung gegenüber einem Konkurrenten z.B., den man NICHT fürchtet, aber "vernichten" möchte, kann versteckt werden unter gespielt freundlichem Wohlwollen, das ist die "klügere, verstecktere" Variante bei Intrigen, Mobbing, nicht leicht durchschaubar und sie fällt nicht gleich auf den "Angreifenden" zurück, daran dachte ich, lasse mich aber gern eines besseren belehren. Danke für für Anregung, Frank!

Gruß von Moja

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.08.21:
Merci Frank, mir scheint, dass du die große unausgefüllte Leerstelle hinter dem Aphorismus 2 übersehen hast, denn ihrem Wesen nach sind unangebrachtes Wohlwollen und Hass selbstverständlich nicht identisch, wofür schon die unterschiedlichen Bezeichnungen sprechen. Ich denke, dass der Aphorismus meint, dass sie sich von ihrer schädlichen Wirkung her nicht unterscheiden.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.08.21:
Grazie, Moja, du hast erkannt, dass man jemandem mit unangebrachtem Wohlwollen "eleganter" als mit unverstelltem Hass schaden kann. Der Aphorismus, der von keinem Unterschied spricht, will nur herausstellen, dass beide schaden.

 FrankReich meinte dazu am 16.08.21:
Kinder, Kinder, echt jetzt? Wenn das Verb "unterscheidet" nichts mit dem Substantiv "Unterschied" zu schaffen hat, will ich natürlich nichts gesagt haben, aber so, wie es da steht, werden definitiv die beiden Begriffe "Hass" und "unangebrachtes Wohlwollen" in einen Topf geworfen.
Selbstverständlich kann es sich bei unangebrachtem Wohlwollen auch um versteckten Hass handeln, jedoch ist das nicht die einzige Möglichkeit und mir ist schon klar, worauf Du hinaus wolltest, Moja, allerdings sollte gerade ein Aphorismus sauberer formuliert sein, als dieser es ist. Wenn er z. B. folgendermaßen formuliert wäre: "Um Hass zu verschleiern, eignet sich unangebrachtes Wohlwollen besonders." oder "Wer seine Feindseligkeit nicht offen zur Schau stellen möchte, der verberge sie unter unangebrachtem Wohlwollen.", könnte ich gut damit leben und natürlich ist auch der Begriff "unangebrachtes Wohlwollen" ein zweischneidiges Schwert, denn wenn ich jemandem schmeichle, der das eigentlich nicht verdient, weil er mich nur verletzt, dann ist das auch unangebracht, ich schade demjenigen jedoch nicht damit, sondern versuche lediglich, mich dadurch zu schützen und nicht zuletzt kann unangebrachtes Wohlwollen auch so definiert werden, dass jemand zu Unrecht Sympathien erhält, na ja, wenn ich meinen Hund dafür streichle, dass er meinen Nachbarn gebissen hat, ist das natürlich schon ein angebrachtes Wohlwollen meinem Hund gegenüber, aber mir fällt bestimmt noch ein passendes Beispiel für diese Art von unangebrachtem Wohlwollen ein. 😂😂

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.08.21:
Frank, du rennst bei mir eine offene Tür ein. Doch bleibe ich dabei, dass das Gemeinsame von beidem im Unausgesprochenen liegt, nämlich in der schädlichen Wirkung.

 harzgebirgler (16.08.21)
in "aphorismus" steckt auch horizont -
wer den nicht hat, hätt' nie einen gekonnt!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.08.21:
Merci, Henning, solche Nichtkönner äußern sich zum Beispiel horizontlos über das horizontale Gewerbe.

LG
Ekki
wa Bash (47)
(16.08.21)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.08.21:
Danke dafür, wa Bash, dass du die Aufmerksamkeit auch auf die anderen Aphorismen richtest.

 TrekanBelluvitsh (17.08.21)
Ich kenne mich nicht gut mit römischen Autoren aus. Aber der Aphorismus von Ovid ließ mich vermuten, dass dies ein bitterer Kommentar zur Herrschaft des Augustus sei. Und in der Tat wurde Ovid selbst von Augustus verbannt und wie es scheint, entstand dieser Aphorismus während der Zeit seines Exils.

Bittere Ironie: Das passt im Augenblick auf die Lage in Afghanistan. Wobei man das zweite "gut" ohne Bedenken weglassen kann.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.08.21:
Danke Trekan, ich halte es durchaus für möglich, dass Augustus der Adressat des zweiten Aphorismus von Ovid ist. Aber dieser trifft auch auf viele andere zu.
Für Augustus als Hauptadressat spricht, dass dieser erfolgreiche Kaiser viele Schmeichler hatte.

 AchterZwerg (17.08.21)
Numero 2 ist sicherlich der interessanteste Aphorismus, weil er am ungenauesten formuliert ist.
Für mich wäre die Aussage nur stimmig, wenn ich Hass mit Verachtung gleichsetzte oder als Ursache dafür begriffe.
Dies ist aber häufig nicht der Fall.
Auch in Motivation und Wirkung unterscheiden sich Hass und unangebrachtes Wohlwollen: Hass ist auf Vernichtung aus, übertriebenes Wohlwollen zielt eher auf Wegloben oder Lächerlichkeit.

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.08.21:
Merci, Piccola, der Verfasser dieses Aphorismus will mit der Gleichsetzung, die tatsächlich nicht zutrifft, provozieren und meint nach meiner Interpretation dies: Wer dir unangebrachtes Wohlwollen entgegenbringt, verführt dich zu Fehleinschätzungen deiner selbst und schadet dir damit, als würde er dich hassen.

Liebe Grüße
Ekki

 AchterZwerg meinte dazu am 17.08.21:
Ja,
in dem Punkt stimmts wieder.
Kann man auch manchmal in den Foren beobachten ...

:)
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