Der Gottesdienstbesucher - wo er wohl wohnt?

Erzählung zum Thema Alter

von  tulpenrot

Jeden Morgen besucht er die Hl. Messe und geht zur Kommunion. Schon mehrere Tage hintereinander schalte ich neugierig geworden dasselbe Fernsehprogramm an und beobachte ihn. Er fällt auf, wenn die Fernseh-Kamera über die Kirchenbesucher hinweggleitet, denn sein helles Jackett hebt sich von all den dunkel gekleideten Menschen in dem dämmrigen Dom ab. Er sitzt immer in der 4. Bank. Links. Alleine. Während des Gottesdienstes steht er meist, obwohl er offensichtlich Gleichgewichtsstörungen hat. Er schwankt leicht. Wohl krankheitsbedingt. Als er am Ende hinausgeht, begleitet die Orgel seinen wackligen Gang. Gestern trug er keinen Schirm beim Hinausgehen. Er wirkt verloren, einsam und ist doch hier zu Hause.

Er ist ein treuer Kirchgänger. Warum kommt er jeden Morgen wochentags um 8 Uhr zur Hl. Messe? Ich mache mir meine Gedanken und könnte sein Tun in etwa so  interpretieren: Er beginnt den Tag bewusst mit einer Andacht und mit dem Empfang der Hl. Kommunion, bevor er seinen routinemäßigen Verrichtungen nachgeht. Das ist nicht üblich, das ist anders als bei den meisten Menschen. Er sammelt sich, wird sich seines Aufgehobenseins in einer größeren Gemeinschaft bewusst. Er fühlt sich dort aufgehoben und nicht so allein. Sein tägliches Leben hat einen Fixpunkt, von dem aus sich alles andere ordnet.

„Kanzelschwalben“ nennt man verächtlich Frauen, die so eifrig Sonntag für Sonntag oder auch jeden Tag im (katholischen) Gottesdienst erscheinen. Es mag sein, dass es Menschen gibt, die einem Gottesdienst, wo auch immer, in frommer Einfalt beiwohnen. Ihrem Gefühl nachgehen, das mit salbungsvollen Worten und entsprechender Musik gefüttert werden will. Es kann aber auch Menschen geben, die sich dem Geschehen in einem Gottesdienst bewusst öffnen, weil sie sich nicht nur Erbauung erhoffen, sondern auch Antworten auf ihre Fragen, Hinweise für ihre Lebensgestaltung, weil sie ihr Leben wieder neu ausrichten wollen zu einem Weg mit Gott. Sie empfinden, dass sie angewiesen sind auf Gottes Fürsorge und Leitung. Sie möchten für ihn bereit sein und seine Gegenwart erleben. Es genügt ihnen nicht, das ein einziges Mal (vielleicht in der Jugend bei der Firmung oder der Konfirmation)  in ihrem Leben erfahren zu haben, sondern sie erneuern diese Haltung der Hingabe immer wieder.

Heute ist Sonntag. Die Hl. Messe beginnt um 10 Uhr. Es sitzen mehr Menschen in den Bänken im Dom als werktags. Die Kamera zeigt wieder Ausschnitte des gottesdienstlichen Vorgangs und  schwenkt auch zu den Kirchenbänken mit den Gottesdienstbesuchern hinüber. Aber er ist nicht da, jedenfalls nicht in der 4. Bank links.
Warum?  Ist der Zeitpunkt schlecht, also zu spät, weil er die Zeit vom Gottesdienstbesuch bis zum Mittagessen als Ruhezeit braucht? Gab es um 8 Uhr vielleicht schon eine Messfeier, die aber nicht im Fernsehen übertragen wurde? Ich informiere mich: Tatsächlich am Sonntag gibt es eine Messfeier um 8.30 und dann die um 10 Uhr. Vielleicht ist er morgen am Montag  wieder um 8 Uhr zu sehen. Ich bin zwar nicht katholisch, aber ich werde morgen die Sendung anschauen.

Weiter mache ich mir Gedanken, wo er wohnen könnte. Es gibt eine Residenz mit betreutem Wohnen ganz in der Nähe des Doms. Ich schaue mir im Internet die werbenden Fotos dieser Residenz an. Es sieht fürstlich und gediegen aus. Natürlich erfährt man auf der Internetseite nichts über die Preise. Als stilvoll bezeichnen die Betreiber das Anwesen. Würde ich dort wohnen wollen? Mitten in der Stadt? Wo geht man da spazieren, wenn es heiß ist oder Sommer? Oder am Abend nach einem anstrengenden Tag? Wo hört man Vogelgezwitscher und ärgert sich über das Schmatzen eines Igels und die vielen Schnecken nach einem Regenguss? Ich schaue mir die Ortskarte im Internet an und staune. Die Residenz liegt direkt neben dem Hilton Hotel. Weitere Hotels, Banken, Versicherungen, Schnellrestaurants, Damenmoden, Museum rundherum, auch eine Bäckerei, aber ein Laden mit frischer Milch und Gemüse, wo ist der? Könnte er mitten in der Stadt einen Graureiher beobachten oder einen Regenbogen am dunklen Himmel, wenn nach einem Regenguss die Sonne wieder scheint? Ein Teich mit Gänsen und Enten und weitere Grünanlagen mit Kinderspielplatz – wo sind sie? Eltern mit lärmenden Kindern, Schulen? Unsichtbar. Lärm dieser Art – Fehlanzeige. Stattdessen Autogehupe, Bremsgeräusche, Gestank. Viele Menschen, die keine Zeit haben. Viele fremde Besucher, die mal eben vorbeilaufen und was erleben wollen, aber sich für nichts und niemanden wirklich interessieren. Im Sommer ist es sicher heiß und stickig so mitten in der Stadt.

Ich könnte mir in dieser Residenz niemals Tomatensträucher auf dem Balkon ziehen, wenn ich dort wohnte, und davon jeden Tag frische Früchte ernten, ich hätte keine frische Pfefferminze für den Tee oder für eine englische Mintsoße und brauchte erst gar nicht überlegen, ob ich mir ein Hochbeet anlege für Gemüse und Kräuter und Blumen. Ich müsste steril und ohne Pflanzen leben, allerdings auch ohne Schnecken. Würde ich das wollen? Dürfte ich in einer solchen Residenz Dudelsack spielen oder Flöte üben oder Klavier? Dürfte ich Besuch empfangen, mit dem ich singen und musizieren könnte? Doch wohl kaum. Findet der unbekannte alte Mann sein Domizil schön und angenehm? Hat er es sich selbst ausgesucht oder haben ihn seine Kinder dazu gedrängt? Hat er sich immer gewünscht, in so einer Umgebung zu wohnen?

Oder wohnt er vielleicht neben einem Brautmodengeschäft? Dort gibt es auch eine Seniorenwohnanlage, die aber weiter entfernt vom Dom liegt. Die Physiotherapie ist auch ganz schön weit weg. Hier in der Gegend leben keine weiteren Privatleute, keine Familien oder Studenten. Aber junge Musiker kommen ins Haus und geben Konzerte. Aber das kann ich an meinem derzeitigen Wohnort auch haben – ich kenne zumindest einen Gitarristen, der auch zu mir ins Wohnzimmer kommt. Im Übrigen mache ich meine Musik eben selber. Eine Galerie, eine Buchhandlung, ein Schuhgeschäft sind fußläufig zu erreichen – das ist allerdings äußerst praktisch. Es wäre ein völlig  anderes Leben und Lebensumfeld als ich es hier habe.
Ich würde dennoch nicht tauschen wollen, aber ich wäre erleichtert, wenn ich wüsste, dass es ihm dort gut geht, wo er wohnt. Und dass er zufrieden ist. Aber ich kenne ihn ja kein bisschen, werde seinen Namen und seine Gegenwart oder Vergangenheit nie erfahren.


Anmerkung von tulpenrot:

Heute ist Montag. Ich habe die Gottesdienstseite der Domgemeinde abonniert. Pünktlich um 8 Uhr wird mir der laufende Gottesdienst angezeigt. Da sitzt er also wieder in seiner 4. Reihe links mit dem hellen Jackett wie all die Tage zuvor. Und sicher war er auch gestern um 8.30 in der Messe. Ich kann es mir nicht anders vorstellen.

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Kommentare zu diesem Text


 linkeln (02.09.21)
Ich liebe die Einfachheit der Sprache, das genaue Hinsehen. Kleine Berichtigung, es handelt sich nicht um die Messe, sondern um die Hl. Messe. Der Blick auf die Menschen ist super.
lg
Linkeln

 tulpenrot meinte dazu am 02.09.21:
Stimmt, Hl.Messe wäre korrekter. Mir ist das gar nicht aufgefallen. Ich bin schon zu lange evangelisch . Allerdings fällt mir dagegen jetzt auf, dass der Text sprachlich nicht so doll ist. Gerade das Wort "Messe" erscheint viel zu oft.
Danke, dass du dennoch wohlgesonnen gelesen und kommentiert hast.
LG
tulpenrot

P.S. Hab den Text etwas überarbeitet.

Antwort geändert am 02.09.2021 um 16:50 Uhr
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