Letzte Rätsel

Kurzgeschichte zum Thema Worte

von  RainerMScholz

Der Himmel schimmerte violett, am Horizont stachen Blitze in den schwarzen Himmel, in den Trümmerschluchten schossen bereits die ersten Bäche zum Marschland hin, wo früher, vor undenklicher Zeit, wie Franz schien, wohlbestellte, bewirtschaftete Äcker gewesen waren, Maisfelder, wo der Raps blühte oder was auch immer, er war ja kein Bauer gewesen und hatte seine Lebensmittel immer im Supermarkt erstanden, in Plastik eingeschweißt, sauber, klinisch, fern von jedem Hof und Stall.
Er suchte einen Unterschlupf, etwas, das vor dem Regen schützte; früher wäre man vielleicht in den Wald gegangen, um eine Hütte, einen Unterstand zu zimmern, aber der Wald war weg. Am Ende der  zerbröckelnden Asphaltstraße sah er eine halbwegs überdachte Bushaltestelle, die kein Bus mehr anfahren würde. Er ging darauf zu, als er eine Bewegung aus dem Innern wahrnahm. Da ist noch jemand, dachte Franz erschreckt. Er kam vorsichtig näher und spähte in die schmutzigen Ecken. Da war ein zerlumpter Junge unter einer schmutzigen Plastikplane. Franz räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Plane knisterte und raschelte und da kam ein zerzauster Kopf zum Vorschein, aus dem heraus es ihn anlugte.
„Keine Angst, ich will mich nur unterstellen vor dem Regen.“
„Was.“, bellte der Kopf.
Ruckartig richtete sich der Junge auf.
„Was!“
Das schien Franz sehr aggressiv, aber er hatte auch nichts anderes erwartet. Vorsichtig zog er einen in abgewetztes Plastik eingeschweißten Schokoriegel aus der Tasche und reichte ihn dem Jungen, der zögernd danach griff, vielmehr schnappte er das Schokoladenstück, riss es aus der Packung und stopfte es sich in den Mund. Er kaute und starrte. Dann streckte er fordernd die Hand aus, aber Franz besaß keine aus der Zivilisation aufgeklaubten Nahrungsmittel mehr und zuckte mit den Schultern.
„Ich habe nichts mehr, tut mir leid. Darf ich mich setzen, ich bin sehr müde.“, und er ließ sich auf dem feuchten Zement nieder.
„Ja, setzen.“, sagte der Junge mit seiner schnarrenden Stimme und setzte sich auch. Er bot Franz ein Stück seiner verdreckten Plane an. Scheinbar hatte er Zutrauen gefasst, oder er wollte sich nur revanchieren. Für das Schokoladenstück aus einer Zeit, die er nicht kannte.
„Wo kommst Du her?“
Der Junge hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.
„Und wie heißt Du denn?“
Der Junge bewegte wieder die Schultern, hob die Arme und ließ sie auf die Schenkel fallen. Seit vor über dreißig Jahren das Gesetz gegen jegliche Schrift erlassen worden war, als eines der letzten Gesetze, und alle Bücher und Texte und Buchstaben verboten worden waren, und als dann die Lichter ausgingen, waren nur noch die Jungen übrig geblieben. Franz war damals jung gewesen; er war in der Schule, was man so zu nennen pflegte, als die Sirenen heulten und dann für immer verstummten.
„Ich nenne Dich Freitag.“, sagte Franz, der sich fragmentarisch an eine Geschichte zu erinnern glaubte, die er in seiner Kindheit gelesen hatte.
„Freitag, in Ordnung?“
„Was?“
„Du Freitag, ich Franz.“, lachte Franz und zeigte mit dem Finger auf ihn und dann auf sich.
„Freitag und Franz.“
Der Junge lächelte, zumindest zuckten seine Mundwinkel.
Franz sah in die Dämmerung. Er war müde. So schlief er ein.
Sie wanderten durch Totwald, Franz hatte seinen zerfledderten Rucksack auf dem Rücken und Freitag, wie er ihn fortan nannte, schob einen klapprigen Einkaufswagen, wie man sie vor Zeiten zum Einkaufen von Artikeln benutzt hatte. Die grauen, entlaubten Baumleichen stachen wie Raketenspitzen in den bewölkten Himmel; vielleicht waren es Raketen; umgeknickte Antennenmasten lagen wie gefallene Götzen am Wegesrand, Marterpfähle der technisierten Vergangenheit, die heute so sinnlos schienen wie sie zuvor gewesen waren, wenn man sich das Fortschreiten der Menschen vor Augen hielt. Bilderflimmern war es gewesen, Abspulen von Textkolossen fern jeder Wahrhaftigkeit oder Klarheit, Geschnatter von Verrückten, Erblinden sehenden Auges. Freitag ging unbeeindruckt an diesen Altären einer für ihn entrückten und nicht erstrebenswerten Welt vorüber. Er kannte die Worte nicht, nicht die Bezeichnungen, er hätte keine Betriebsanleitung begreifen können, kein geschriebenes Wort lesen, hätte den gewesen Sinn nicht verstanden, und trotzdem ging er vorwärts und setzte seine Schritte.
Als sie an das Ende des gestorbenen Waldes kamen, sahen sie in der Ebene die Ruinen einer großen Siedlung, einer Stadt, die Franz von Bildern zu erinnern glaubte, doch der Name dieser Stadt wollte ihm nicht einfallen. Umgestürzte Türme und zu Boden gesunkene Wolkenkratzer; hingeflossene Behausungen; Mörtel, Zement und Stahl; Straßenschluchten, in denen sich endlos die Autowracks türmten; abgestorbene Alleen, verlassene Einkaufspassagen. Freitag deutete hinunter.
„Bau.“
„Was meinst Du?“
„Bau. Da Bau.“
„Ach so, ja, Du hast recht. Warst Du schon einmal hier, Freitag?“
„Bau. Ja, gut. Gut Dach. Bau.“
„Jetzt hör´ `mal auf so zu plappern, ich bekomme schon Ohrensausen von Deiner Redseligkeit.“
„Ja. Bau. Komm.“
„Was?“
„Komm.“
„Was sagst Du?“
„Franz. Komm jetzt.“
„Na, dann lass uns doch einfach hingehen, Freitag, und unser Gespräch in einem Bau fortsetzen.“
„Gut.“
Sie stiegen die Anhöhe hinab und erreichten die stillen Vororte.
Als Freitag von seiner Erkundungstour zurückkam, hatte Franz bereits ein Feuer entfacht. Immerhin das gelang ihnen als Menschen noch und Franz war dankbar. Freitag brachte einige angerostete Konservendosen zum Vorschein. Sie wärmten sie in der Glut mit einem löchrigen Dach über den Köpfen und schwiegen. Es gab nichts zu sagen und sie waren müde.
Franz erwachte von einem Geräusch, konnte es aber nicht sogleich zuordnen. Etwas hatte seinen leichten Schlaf gestört, vielleicht ein Tier, eine Ratte, eine wilde Katze. Vorsichtig drehte er den Kopf, um sich zu orientieren. In den dunklen Nischen war nichts zu sehen als die Schwärze der Ruinen, die alles umfing. Freitag war nicht mehr neben ihm und das Feuer war nahezu heruntergebrannt, die Glut flackerte rot an die löchrige Zimmerdecke des Baus. Da, nochmal das Geräusch, ein Scharren, er starrte angestrengt in diese Richtung. Augen sahen aus dem Dunkel, dann noch ein Paar, und noch eines. Franz sprang auf und die Schatten nahmen Gestalt an, drei Jungen mit Stöcken und genagelten Schlägern, sie kamen bedrohlich auf ihn zu, umkreisten ihn, lauerten. Franz machte sich zur Abwehr bereit, da prasselte es schon auf ihn ein. Die Schmerzen zogen ihm die Beine fort und er fiel in Dämmer, er blutete, das Rot lief in seine Augen. Dann wurde der Strudel zu stark. Aus dem Augenwinkel sah er Freitag mit einem Rohr in den Händen aus einem Loch in der Zimmerdecke springen.
Er  hatte starke Schmerzen, als er erwachte. Es war dämmriger Morgen, neblig und kalt. Franz fröstelte unter der Plane. Freitag deckte ihn mit einem Lappenrest weiter zu.
„Geht gut?“
„Es heißt: Geht es Dir gut.“
„Geht es Dir gut, Franz?“
„Mein Kopf schmerzt.“
Er tastete an sich herunter. Scheinbar war nichts gebrochen.
„Wo sind die Angreifer? Hast Du die verjagt?“
„Fort. Böse fort. Gehen weg.“
„Du hast mich gerettet, Freitag.“
„Franz gut.“
„Ist gut.“
„Franz ist gut.“
„Du bist mein Freund, Freitag.“
„Gut.“
„Nein, ich meine, Du hast mich gerettet, weil wir Freunde sind.“
„Weiß ich.“
Franz versuchte aufzustehen. Es schmerzte, aber es ging. Er trat nach draußen. Freitag stützte ihn. Franz versuchte, auf die leblosen Körper im gegenüberliegenden Hauseingang nicht zu achten.
Als sie gegessen hatten, zogen sie weiter. Sie versuchten den einstürzenden Gebäuden auszuweichen. Franz bezeichnete für Freitag Straßen, Plätze, Märkte, Automarken, an die er sich erinnerte und Fahrzeugtypen, doch Freitag schaute meist uninteressiert, als gelänge es ihm nicht, einen Bezug herzustellen zu Dingen, mit denen nichts anzufangen war. Für Freitag waren es tote Dinge aus einer toten Welt.
Als sie zur Kaimauer kamen, sahen sie in den violetten Sonnenuntergang. Die bleiche Plastikflut klatschte mit den Meereswellen an die Hafenmauern. Es sah aus, als könne man über das Wasser in den Horizont laufen. Franz verzichtete darauf, Freitag von dieser Geschichte zu erzählen. Franz erzählte überhaupt keine Geschichten mehr. Denn wozu waren diese Worte schon gut.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (28.09.21)
Wow,
reichs irgendwo zur Veröffentlichung ein, Bub! Auch jenseits der Foren.
Eine schlichtweg genialische Robinson-Interpretation.
Ganz toll!

:):):)

 RainerMScholz meinte dazu am 28.09.21:
Ich danke sehr.
Das mit den Einreichungen habe ich so wie die vielen, vielen diversen Jobbewerbungen allmählich hinter mir; bedauerlicherweise glaubt man irgendwann nach der 500. Bewerbung, dass die Leute zu MIR kommen sollten, und nicht umgekehrt (was wahrscheinlich falsch ist)(nach dem gesunden Menschenverstand jedoch nicht, auch wenn ich darauf natürlich keinen Anspruch habe): R. auf der einsamen Insel.
Gruß + Dank,
R.

 indikatrix (28.09.21)
Toller Text, erinnert mich u.a. an T.C. Boyle.
LG Indikatrix

 RainerMScholz antwortete darauf am 28.09.21:
Boyle! - ich bin begeistert; muss ihn unbedingt `mal lesen; und die u.a. auch. Kleiner Scherz, wirklich! Ich danke dir, indikatrix.
Grüße,
R.

 Dieter_Rotmund (28.09.21)
...entlaubten Baumleichen stachen wie Raketenspitzen in den bewölkten Himmel; vielleicht waren es Raketen; umgeknickte Antennenmasten lagen wie gefallene Götzen am Wegesrand, Marterpfähle der technisierten Vergangenheit, die heute so sinnlos schienen wie sie zuvor gewesen waren, wenn man sich das Fortschreiten der Menschen vor Augen hielt. Bilderflimmern war es gewesen, Abspulen von Textkolossen fern jeder Wahrhaftigkeit oder Klarheit, Geschnatter von Verrückten, Erblinden sehenden Auges.

Da gehen dir etwas die Pferde durch, finde ich. Rest gerne gelesen.

 harzgebirgler (13.10.21)
die menschwerdung durch sprache
ist schon so eine sache...

..."Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang." (Hölderlin)

gruß
h..

 RainerMScholz schrieb daraufhin am 14.10.21:
Und die Rückabwicklung.

Sing, mein Sachse sing,
das ist ein lustig Ding...
la lala
la lala
la laalaala...
lalalala lalala lala laalaa...(altes Volkslied, dessen Fortgang mir gottseidank entfallen ist).
Grüße,
R.
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