Franz Josef Wetz: Illusion Menschenwürde

Rezension zum Thema Menschenrechte

von  Terminator

Die Menschenwürde ist das traditionelle Hauptargument bei der Begründung der Menschenrechte. Die Würde ist nach Kant ein absoluter Wert, und wenn der Mensch eine angeborene und unveräußerliche Würde besitzt, dann kommt dem Menschen ein absoluter Wert zu, was unveräußerliche Menschenrechte nach sich zieht. Franz Josef Wetz untersucht in seinem Buch „Illusion Menschenwürde – Aufstieg und Fall eines Grundwerts“ die Entwicklungsgeschichte der Grundwerts Menschenwürde und deren historische und kulturelle Relevanz für die Begründung der Menschenrechte.

Die ideengeschichtliche Herkunft der Menschenwürde kann als das Hauptargument für deren Negation fungieren, wenn festgestellt wird, dass die Idee der Menschenwürde aus einem ganz bestimmten kulturellen Kontext in einer Religions- oder Wertegemeinschaft entstanden ist, oder aber auf einen einzigen Denker zurückgeht und im Zeitalter des Relativismus als seine persönliche Meinung relativiert werden kann. Ebenso kann das Wissen um die Herkunft der Idee der Menschenwürde diese bestärken, wenn festgestellt wird, dass sie aus einem gemeinsamen Kontext entstanden ist, was insbesondere für Menschen mit derselben Religionsangehörigkeit oder derselben rechtlichen Tradition gelten kann. So kann für alle Christen die Menschenwürde zum Grundkonsens gehören: „Nach christlichem Verständnis gründet die Würde des Menschen einmal auf dessen Gottebenbildlichkeit – darauf also, dass Gott den Menschen bei der Schöpfung nach seinem Bildnis formte und dadurch teilhaben lässt an seiner Vernunft und Macht“ (S. 23). Das Christentum geht somit von einer Wesenswürde des Menschen aus, einer Würde, die dem Menschen als Wesen inhärent ist und nicht erst von Außen an den Menschen herangetragen wird. Wetz berichtet im Kapitel „Kulturgeschichte der Würde“ über verschiedene kulturelle Kontexte, in denen die Idee der Menschenwürde auf je eigene Art entwickelt wurde. So war in der Antike die Menschenwürde nicht ein „...Wert, der dem Menschen anhaftet, sondern eine menschliche Leistung, die als solche starken Schwankungen unterworfen ist“ (S. 19). In der Neuzeit und in der Moderne folgten rationale Begründungen der Menschenwürde – bei Kant (Kant formuliert dies in der „Metaphysik der Sitten“ : „ Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde“) aus der moralischen Freiheit des Menschen: „Die Würde des Menschen, dessen von allen zu achtender Eigenwert, besteht nach Kant in seiner aus der Natur herausragenden Vernunft, die jeden von uns in den Rang eines freien, sittlich gebundenen Wesens erhebt“ (S. 49), und in der Diskursethik aus der „reziprok-symmetrischen Anerkennung“, zu der Menschen einander gegenüber verpflichtet sind (S. 53), und deren Basis schon in Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in der das Streben nach Anerkennung aus der reflexiven Natur des menschlichen Denkens, dem Selbstbewusstsein, folgt, vorhanden ist.

Im Kapitel „Würde als höchstes Verfassungswert“ untersucht Wetz die Rechtsgeschichte der Menschenwürde. Er konstatiert, dass die Idee der Menschenwürde heute in vielen Staatsverfassungen vorhanden ist und schon im 18. Jahrhundert rechtlich in Erscheinung tritt: „Zielten die Erklärungen der Menschenrechte im 18. Jahrhundert auf politische Befreiung und Herrschaftsbegrenzung hin, antwortet das heutige Bekenntnis zur Menschenwürde auf die nationalsozialistische Rechtsverwüstung und grauenvolle Barbarei“ (S. 69). Am Ende des Kapitels spricht Wetz den verfassungsrechtlichen Gottesbezug der Menschenwürde an, der die Wesenswürde des Menschen als Rechtsgrundlage verankert. Der Gottesbezug ist aber kein Beweis für die Allgemeingültigkeit der Menschenwürde, da er den religiös-kulturellen Konsens des christlichen Abendlandes zur Voraussetzung hat und in anderen Erdteilen oder bei Atheisten kein gewichtiges Argument sein kann. So illustriert Wetz im darauffolgenden Kapitel „Ohne Würde“ die Demontage der religiösen Begründungen der Menschenwürde sowie deren vernunftphilosophischer Begründungsansätze.

Die Naturwissenschaften prägen das heutige Menschenbild mehr als Religion oder praktische Philosophie: „Noch nie war die grundsätzliche Bereitschaft unter den Philosophen so groß, die Überlegenheit der modernen Naturwissenschaften über alle anderen Wissensformen oder Denkstrukturen anzuerkennen und den sogenannten Naturalismus geduldig hinzunehmen, ihn, wenn nötig, sogar zu verteidigen und dadurch die Idee der Menschenwürde vollständig zu zerstören“ (S. 157). Wie zerstört der Naturalismus die Idee der Menschenwürde? Zunächst negiert er die Besonderheit des Menschen gegenüber dem Rest der Natur, die aus der religiösen Perspektive als Gottes Schöpfung eine Würde für sich als Ganzes beanspruchen muss, was dem Menschen seine Würde zurückgibt. Nur besteht sie nicht mehr in der Besonderheit gegenüber dem Rest der Natur, sondern in der Zugehörigkeit zu Gottes Schöfung, die als Ganzes eine Würde besitzt. Diese Überlegung ist eigentlich sehr fortschrittlich, denn sie koppelt die ökologische Verantwortung des Menschen sowie den Tierschutz an die Menschenwürde. Dennoch scheitert sie, und zwar an demselben Paradigma, dem sie ihre Berechtigung verdankt: Wenn das naturwissenschaftliche Paradigma konsequent weitergedacht wird, dann muss alles Metaphysische, was dem Menschen wie dem Rest der Natur zugeschrieben wurde, verneint werden. Aus den allein physischen Bestimmungen der Natur und des Menschen geht keine Wesens- oder Schöpfungswürde hervor. Der Naturalismus kann eine Ausweitung der Idee der Würde auf die ganze Schöpfung begründen, aber nur unter dem religiösen Paradigma. Innerhalb des naturwissenschaftlichen Paradigmas hat die Würde keinen Wahrheitswert, erscheint also einfach als nicht existent. Sie kann im naturwissenschaftlichen Paradigma weder bewiesen noch widerlegt werden, aber dies liegt nicht an einer irgendwie gearteten Fehlbarkeit der Idee der Würde, sondern am naturwissenschaftlichen Paradigma, für welches sie als Idee, als etwas Geistiges, also Metaphysisches, keine Bedeutung hat. Die Würde ist etwas Substantielles und das naturwissenschaftliche Paradigma „denkt“ in funktionellen Zusammenhängen.

Der Übergang vom Substanzdenken zum Funktionsdenken ist der philosophische Paradigmenwechsel der Neuzeit. Wetz nimmt diesen Paradigmenwechsel stillschweigend hin, anstatt ihn in Frage zu stellen: „Aber Würde ist im nachmetaphysischem Zeitalter nicht mehr als abstraktes Wesensmerkmal vorstellbar, sondern bestenfalls als konkreter Gestaltungs-auftrag“ (S. 206). Dieser Satz, von Wetz selbst kursiv gesetzt, ist m.E. die Hauptaussage seines Buchs. Im Folgenden versucht er, die Idee der Menschenwürde zu retten, indem er sie an das vom naturwissenschaftlichen Weltbild geprägte „nachmetaphysische“ Zeitalter anpasst. Das gelingt ihm keineswegs, da es überhaupt nicht gelingen kann – und daran ändern auch moderne Ethiken wie die Richard Rortys und der Diskursethiker nichts, da diese wie auch alle traditionellen Moralauffassungen zwangsläufig auf die Vernunft bauen, die durch das nur-physikalische Weltbild der Naturwissenschaften aber nicht begründet werden kann - , und so erweist er sich in den 150 Seiten des Buchs, die auf seine Hauptaussage folgen, als ein leidiger Tröster. Wetzens eigene Antwort auf die Frage, warum die Menschenwürde überhaupt noch geachtet werden soll, fällt so aus: „Man sollte die Menschenwürde gerade dann achten, wenn es sie nicht gibt, damit es sie gibt, weil sie vielleicht das einzige ist, das uns in einer entzauberten Welt noch Wert verleiht. So gesehen besteht die Würde des Menschen aus nichts anderem als aus der Achtung davor. Erst die Würde zu respektieren heißt, sie zu konstituieren“ (S. 243). Dies ist edel und rührend, aber nicht zwingend. Wenn die Menschenwürde eine Grundlage für Menschenrechte sowie für gegenseitige Achtung der Menschen verschiedener religiöser und kultureller Prägung sein soll, muss sie einen zwingenden Grund haben. Wetz geht aber den umgekehrten Weg: Da die Menschenwürde de facto nicht existiert, und nichts der menschlichen Bosheit Einhalt gebieten kann, müssen die Menschenrechte, die durch allen Menschen gemeinsame Grundbedürfnisse zwar naheliegen, aber nicht zwingend zu begründen sind (Wenn es z.B. um die Verteilung lebensnotwendiger Güter geht, so funktioniert die Bedürfnisgerechtigkeit nur solange wie die Güter für alle Bedürftigen ausreichen. Werden die Güter knapp, so hat die Rettung des Einen zwangsläufig den Tod des Anderen zur Folge; da aber alle dasselbe vom Bedürfnis begründete Recht auf die lebensnotwendigen Güter haben, ist nicht zu entscheiden, wessen Leben zu retten und wessen Lebensrettung zu vernachlässigen ist, und so die Bedürfnisgerechtigkeit hinfällig) postuliert werden und in positives Recht einfließen: „Da wir uns angesichts der menschlichen Fehlbarkeit, Aggressionsbereitschaft und Machtanfälligkeit aber nicht darauf verlassen können, dass sich solche Werteinstellungen jemals auf der Erde entwickeln werden, darf auf die Positivierung der Menschenrechte als Grundlage menschlicher Würde auf keinen Fall verzichtet werden“ (S. 326). So soll zwar die Menschenwürde aus dem positiven Recht erschlossen werden können, aber mit welcher logisch zwingender Begründung sie überhaupt erst in das positive Recht Eingang findet, wird nicht gesagt. Da es die Menschenwürde in der Natur nicht gibt, sollen wir sie rechtlich konstituieren, damit es sie im positiven Recht gibt. Von der positivistischen Feststellung der Nichtexistenz der Menschenwürde wird auf die Notwendigkeit der Konstitution der Menschenwürde im positiven Recht geschlossen, damit der Menschenwürde wiederum rechtspositivistisch die Existenz zugesprochen werden kann. Der weit verbreitete naturalistische Fehlschluss wird hier sogar noch überboten: Aus dem Sein folgt kein Sollen, erst recht nicht aus dem Nichtsein.

Franz Josef Wetzens Buch „Illusion Menschenwürde – Aufstieg und Fall eines Grundwerts“ ist in der Hinsicht interessant, wie hilflos sich der Mensch selbst mit dem philosophischen Paradigmenwechsel vom Substanzdenken zum Funktionsdenken gemacht hat. Das Buch spiegelt alle heutigen Schwierigkeiten der Begründung der Menschenwürde detailliert wieder, liefert jedoch selbst keine zwingende Begründung der Menschenwürde.


Anmerkung von Terminator:

Wetz, Franz Josef: Illusion Menschenwürde. Stuttgart: Klett-Cotta, 2005

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