Das Geschriebene (Paul Celan)

Interpretation zum Thema Mystik

von  HerzDenker

Im Folgenden möchte ich einen Text von Paul Celan und meine Deutung von ihm vorstellen. Ich würde gerne mit weiteren Celan-Freunden über meine Sicht von ihm ins Gespräch kommen.

 

DAS GESCHRIEBENE höhlt sich, das

Gesprochene, meergrün,

brennt in den Buchten,

 

in den

verflüssigten Namen

schnellen die Tümmler,

 

im geewigten Nirgends, hier,

im Gedächtnis der über-

lauten Glocken in – wo nur?

 

Wer

in diesem Schattengeviert

schnaubt, wer

unter ihm

schimmert auf, schimmert auf, schimmert auf?

 

 

DAS GESCHRIEBENE – Deutung

Der Grundtenor der ersten Zeilengruppe besteht in einem Auflösen von geäußerten Gedanken, bei der diese später eine mystisch anmutende Nicht-mehr-Greifbarkeit erhalten.  Das Ergebnis dieses Prozesses ist, dass etwas Erhabenes und Geheimnisvolles geschieht, an dessen Ende aber neue Fragen auftauchen.  Diese in einem Schatten sich aufbauende Stimmung ist wohl mit einer starken Erregung verbunden, die ausdrückt, von welch hoher Bedeutung das in ihm Erahnbare sein dürfte. Das lyrische Ich ist offenbar Urheber und staunender Beobachter des Weges, den die Hauptfigur der Zeilen, die geschriebenen und ausgesprochenen Gedanken, nehmen: Bspw. schaffen sie es,  in einer Hoffnung symbolisierenden grünen Farbe in Meeresbuchten zu brennen und sogar Namen zu verflüssigen: Zitat: Das Gesprochene, meergrün, brennt in den Buchten, von Verflüssigten Namen  ist  dann die Rede. Naturbilder als lebendige Veranschaulichung und Ausweitung innerer Vorgänge im Menschen findet man bei Celan  immer wieder.

    In der zweiten Zeilengruppe wird  die Blitzartigkeit des Geschehens betont, indem eine extrem wendige und schnelle Fischart, die sich gerne tummelnden Tümmler metaphorisch verbunden werden. Die Verflüssigung ist also so weitreichend, dass sogar Wasser als Lebensraum für Fische zu imaginieren ist.

    Das Nicht-Fassbare bekommt in Gruppe Drei endgültig sein transzendentes Sahnehäubchen, weil der Dichter dem nirwana-artigen  Nirgends das Prädikat des Ewigen zuschreibt. Überlaute Glocken zeigen das Sinnlich-Heftige des sakral gefärbten Geschehens. Die Formulierung überlaut verdeutlicht, dass die normalen Formen der Sinneswahrnehmung überschritten werden. Wer zudem einem Gegenstand aus Guss-Eisen oder Bronze ein „Gedächtnis“ zuschreibt, unterstreicht nochmals seine mystisch-esoterisch anmutende Empfindungsebene. Weiterhin wird die doppelt wiederholte Fragekette der Schlusszeile vorbereitet: Die Frage, wo dieses an morphische Felder erinnernde Gedächtnis genau lokalisiert ist, wird nur ausgesprochen: wo nur?  Der Leser ist auf Vermutungen angewiesen.

   Die vierte und letzte, auch längste Zeilengruppe steigert die Stimmung in eine Form fragender Hoffnung des lyrischen Ichs hinein: Denn  dies bringt den jetzigen Zustand des Seins so auf den Punkt:  Mit dem Begriff „Schattengeviert“ wird die fundamentale Bedeutung des Geschehens betont, denn nach Heidegger bezeichnet dieser Begriff den „überschatteten Weltzusammenhang“. Untermalt wird diese vom Menschen ins Dunkle geführte Welt durch animalische Laute:  Das Schnauben eines Pferdes wird erwähnt, was die für Celan typische Betonung des Animalischen im Menschen aufzeigt. Das lyrische ich fragt in einem dreifachen Ausruf aufgewühlt und hoffend, wer denn da wohl in diesem Geschehen („unter ihm“)aufschimmert“, welches Licht also den Schatten überwinden oder mildern könnte. Die Antwort bleibt wiederum offen. Ich würde dazu zwei Vermutungen anstellen: Der Schatten der Vergangenheit des Dichters (Holocoust!) könnte hier als zu überwindende Prägung gemeint sein wie auch die Hoffnung auf das Ende einer „überschatteten“  Welt durch Einbruch des Lichtes, in der solche Katastrophen nicht mehr möglich wären . Dabei könnte sich der Blick möglicherweise auf das  Goldene Zeitalter richten, das als Vision auch im Judentum eine Rolle spielt.             

Wegen der Vielgestaltigkeit des Gesagten noch mal eine Zusammenfassung:

Der Dichter beschreibt als blitzschnellen, ihn förmlich übermannenden Vorgang das sich Ergießen seiner (?) geschriebenen und gesprochenen  Gedanken in die äußere Welt –etwa die Natur- hinein. Der Höhepunkt dieses Vorgangs spielt sich auf sinnlicher Ebene als sakrales Geschehen ab, der an den entsprechenden Orten, die vom Ewigen geprägt sein wollen ( konkret etwa Gotteshäusern,…Glocken…), passiert.  Dort hinterlässt dies dauerhafte Spuren („im Gedächtnis“). Dennoch bleibt das Gesamtbild dieser Welt für den Dichter weiterhin „überschattet“; er erwartet jedoch eindringlich, in einem dreimal wiederholten Ausruf ein Etwas, ein „Er“, der die Welt „aufschimmert“, also Licht in sie bringt.   

 

 



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Kommentare zu diesem Text


 nadir (11.12.21, 15:42)
Spannend, anregend, aber schwere Kost. Nun ja, - Celan, wer hätte es anders erwartet. Ich werde es lesen, ein paar Mal noch und mich dann sicher noch dazu melden, das geht, der Schwere des Themas angemessen, nur nicht so rasch. Aber es gefällt! Schön, wir brauchen mehr Interpretationen, sind sie doch Kunst für sich. 

LG
nadir

 HerzDenker meinte dazu am 11.12.21 um 16:35:
Toll, liebe Nadir, dass Du als eine meiner Favoriten hier darauf eingestiegen bist. Ich habe noch einige solcher Doppeltexte in petto und freue mich auf Deine etwaigen Kommentare.
wa Bash (47)
(12.12.21, 12:56)
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 HerzDenker antwortete darauf am 12.12.21 um 14:35:
Danke für Deinen Kommentar! Mmh, bei "verflüssigen" sehe ich aber- mehr als wenn es "verdunsten" hieße- weniger einen Verlust, als eher eine Zustandsveränderung.... ja, die Wörter sind nicht mehr "greifbar"...so gesehen relativiere ich gleich meine Einschränkung wieder...

 Dieter Wal (18.12.21, 10:54)
Lieber HerzDenker,

Paul Celans Gedichte gehören neben Nelly Sachs' Gedichten zu meinen liebsten poetischen Arbeiten jüdischer Autoren, die mit von der Shoa geprägt, doch eben längst nicht einzig Shoa-Gedichte schrieben. Sachs mehr biblischer Prophetie nahe und vom Chassidismus inspirierten Gedichte sind in meinen Augen bestens verständlich. Celans hermetische sehr selten. Doch ihre Sprache und Metaphern sind so archaisch und in ihrer Bedeutungsbreite dem klassischen Hebräisch verwandt, dass ich sie immer wieder im Celan-Gesamtwerk lese. Empfehlenswert für Celan-Begeisterte finde ich seine frühen Gedichte, welche noch in Czernowitz entstanden und von seiner damaligen Freundin Ruth Kraft herausgegeben wurden (Paul Celan, Gedichte 1938-1944, Suhrkamp).

Einfühlsame Interpretation. Es wäre schön, würde sie mit dazu beitragen, dass sich mehr Leser für Celan zu begeistern beginnen.

Der auch kV-Autor und Gemanist Dr. EkkehartMittelberg spezialisierte sich als Pädagoge und Schulbuchfachautor auf deutsche Lyrik und gab mehrere deutsche Lyrik-Anthologien für Schulen heraus. Er ist im kV-Universum wohl die absolute Koryphäe für deutsche Lyrik. Ich hoffe, er kommentiert auch Deine erfreulichen Celan-Interpretationen. Seine eigenen Lyrik-Interpretationen findest Du teilweise auch auf kV. Sie haben sehr hohe Aufrufzahlen und werden mutmaßlich dankbar von Schülern und sicher auch sämtlichen sonstigen Altersgruppen in Anspruch genommen.

Gruß
Dieter

 HerzDenker schrieb daraufhin am 18.12.21 um 11:09:
Lieber Dieter, danke für diesen inhaltstreichen und ermutigenden Kommentar! Gerne nehme ich mal in der Sache Kontakt zum Ekkehart auf, ist doch im Vornamen schon ein kleiner "Wink"  :). (Meister Eckhart!) Heute wird es dann von mir einen weiteren Celan_Beitrag geben!  Gruß!   Hellmut

 EkkehartMittelberg (15.02.22, 17:59)
Lieber Hellmut,
ich versuche eine werkimmanente Interpretation dieses kryptischen Gedichts:
Das Geschriebene höhlt sich wie das Gesprochene, das heißt, es gerät in Vergessenheit. Es wird seicht wie das Wasser in meergrünen Buchten, aber seine Farbe heischt Aufmerksamkeit.
In den "verflüssigten Namen", die in Vergessenheit geraten, tummeln sich die schnellen Interpreten ("schnellen die Tümmler") Es entsteht hier das "geewigte Nirgends", die ewige Ortlosigkeit des Verstehens.
Das kann auch im sakralen Bezirk der "überlauten Glocken", der überlauten Zeremonien, passieren.
Wer schnaubt (Hinweis auf das Pferd des Pegasus) in dem "Schattengeviert" des Vergessens. Ein Dichter, der unter dem Schatten steht ("Wer unter ihm") könnte aufschimmern und Licht in den Schatten bringen. Die dreifache Wiederholung des Aufschimmerns unterstreicht die Notwendigkeit der Erleuchtung.
Du siehst, es gibt diesmal nur partielle Übereinstimmung zwischen uns. Aber das ist bei den großen zu füllenden Vakanzen des Sinns auch nicht erstaunlich. 

 HerzDenker äußerte darauf am 16.02.22 um 05:39:
Lieber Ekkehart, etwas "sich Höhlendes" meint, dass es in Vergessenheit gerät? Kann es auch sein, dass sich beim Abklopfen der Wortbedeutung zeigt, dass die Wortgrenze für das Gemeinte überschritten wird, das Worte nicht mehr ausreichen? Du tendierst zu einem "seichter werden" der Worte...da käme ich weniger drauf, wobei mir das "Vergessen" noch nachvollziehbarer erscheint. -Sehr schön finde ich Deine Formulierung: "ewige Ortlosigkeit des Verstehens". Da schimmert doch ein ähnliches Eingehen auf Mystik durch wie ich es auch pflege. 

-Du deutest für mich nicht erkennbar das Wort "überlaut"- magst Du das nochmal  konkretisieren?
Im entscheidenden Schlussakkord stimmen wir ja überein: Licht möge in die verschattete Welt kommen, ein Lichtbringer wird herbeigesehnt.
Danke für die Mühe, die Du Dir mit derDeutung gemacht hast. Gerne würde ich noch ein, zwei Texte hernehmen...

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 16.02.22 um 12:19:
Hellmut, ich interpretiere, die überlauten Glocken als überlaute Zeremonien, die, Sinn übertönend, zum Vergessen beitragen.

Ja, man kann kombinieren, dass die Wortgrenzen für das Gemeinte nicht mehr ausreichen, wenn die Worte vergessen werden.
Wenn das "meergrün" eine Bedeutung haben soll, ist die Deutung flach, seicht für das Gewässer in den Buchten (die Korallenringe sind grün) meines Erachtens die einzige Möglichkeit.
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