Bei Wein und Verlorenheit

Interpretation zum Thema Gott

von  HerzDenker

BEI WEIN UND VERLORENHEIT, bei

beider Neige:

 

ich ritt durch den Schnee, hörst du,

ich ritt Gott in die Ferne- die Nähe, er sang,

es war

unser letzter Ritt über

die Menschen-Hürden.

 

Sie duckten sich, wenn

sie uns über sich hörten, sie

schrieben, sie

logen unsere Gewieher

um in eine

ihrer bebilderten Sprachen.

(Paul Celan)

 

 

 
Deutung

 

   Dieses Gedicht wird  konventionell-gläubigen Menschen fast als Blasphemie erscheinen! Man hört schon mal den Ausdruck „Den hat der Teufel geritten!“ Hier aber wagt das lyrische Ich die kühne Umkehrung, und zwar ins Helle und Göttliche hinein: Hier reitet einer Gott! Dabei sollten wir nicht völlig auschließen, dass diese Zeilen auch satirisch verstanden werden können.

  Aber eins nach dem anderen: Das Gedicht beginnt mit einer Beifügung, die den besagten Ritt durch den Schnee von der Stimmung her charakterisiert: Wein war im Spiel und verloren fühlte es sich; allerdings wird der Wein, der ja bekanntlich mit Wahrheit zu tun haben soll, schon gewirkt haben, denn er geht bereits zur Neige! Eine sehr optimistische Vorausschau schwingt zudem mit: Der Wein macht nicht nur kühn und redselig, er kann auch schrittweise zu Wahrheiten inspirieren, die z.B. an die Stelle der anfänglichen "Verlorenheit" ein großes Einheitsgefühl der Allverbundenheit rücken. Die häufige Reinheit des Schnee und gleichzeitig die damit verbundene Kälte des Winters gehören dabei zusätzlich zu den assoziativen Rahmenbedingungen; in dieser rein-weißen, frostigen Zeit ist der Wunsch nach wärmender Nähe und innerer Klarheit im häufigen Nachsinnen in der warmen Stube ja oft noch stärker. Wohin führte der Ritt? Die Spannung auf die Antwort wird durch den Doppelpunkt verstärkt: Bewusst unscharf und widersprüchlich erscheinen dann die folgenden Antworten des Dichters:

                                               in die Ferne – die Nähe,…

     Paul Celan betont die Schneeregionen, in denen er unterwegs ist. Diese zeigen, dass er sich dem Alltagsgebaren entzieht und –Nietzsche ähnlich- sich auf die Höhen hochgearbeitet hat. Er lässt den Gott bei diesem Schneeritt singen –evtl. singt er den Beiden ein neues Lied, um Luthers bekannten Titel mal ein wenig ebenso polemisch aufzugreifen. Das lyrische Ich ist nicht zum ersten Male der Reiter des göttlichen Pferdes, denn er schildert es dem Leser als letzten Ritt über die Menschen-Hürden. Das himmlische Duo sieht also die „niederen“ Menschen, die sich auch ducken mussten, wenn sie über sich was kommen hörten, als Beschwernis an. Was ist mit dem Ducken verbunden? Wer sich duckt, macht sich kleiner, was auch eine notwendige Demut bedeuten kann, aber auch den Wunsch, von dem von oben Eindringenden nicht getroffen zu werden. Das würde evtl. zur Be-Troffenheit führen, der wohl viele Menschen instinktiv ausweichen wollen. Ohne die Menschen- so nun wieder die Sicht des Duos- wären die Beiden möglicherweise viel glücklicher, denn das Anliegen von oben wird offensichtlich von ihnen verzerrt wahrgenommen:  sie schrieben unser Gewieher um… Hier sollte sich der Seitenblick –neben den Mitmenschen allgemein- auch auf die Dichterkollegen Celans richten, die Argwohn und Missverstehen-Wollen in hohem Maße zeigten. Sie sprachen –neben dem Vorwurf, dass er "Synagogen-Singsang" verfasse- abwertend eben auch schon mal von eher tierischen Lauten, die Celan von sich gäbe.  

   Hier stellen wir fest, dass der Dichter das höhere Geschehen als natürlich und vital darstellt, eben den Tieren zugeordnet. Tiere haben keine mit uns Menschen vergleichbare Sprache, aber die Menschen wohl, die deren Äußerungen evtl. zu deuten vermögen. Das Medium, mit dem dies wohl häufig geschieht, sind Metaphern, bebilderte Sprache. Metaphern zu deuten steht ja immer unter dem Motto, dass jeder Leser die Ebene herauszieht, die seinem Verständnis-Horizont entspricht. Und dieser Vorgang kann sich in Form von Verzerrungen bis hin zur glatten Lüge steigern, was dann auch ergänzend im Gedicht  betont wird. Auch die nochmals erwähnte Kritik der schreibenden Zunft möchte er so demaskieren: Als Gezeter von Leuten, die ihn oft nicht in seiner geistigen Höhe verstehen.         



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Kommentare zu diesem Text


 Tula (12.12.21, 11:21)
Moin Herzdenker
Celan zu interpretieren ist schon für sich eine Herausforderung. Das Gesamtwerk bei mir im Regal hat angeblich viele, reiche Anmerkungen, die sich allerdings als völlig nutzlos erwiesen. Ich gab irgendwo kurz nach Seite 200 auf, weil ich begriff, dass mir der Hintergrund fehlt, vor allem in theologischer Hinsicht.

Bei diesem hätte ich in der Tat intuitiv weniger Probleme. Deine Analyse scheint mir vortrefflich zu sein, bist auf alle Details eingegangen, die sich (im Gedicht wie in deiner Interpretation) zu einem sinnreichen und inhaltlich weiterreichendem Ganzen fügen. 

Trotz aller Deutungsschwierigkeiten ist Celan's sprachliche Mystik natürlich einzigartig. Mein Lieblingsgedicht, vom bisher gelesenen, bleibt das allererste im Buch, "Drüben", jenseits der Kastanien. Faszinierend schön.

LG
Tula

 Quoth meinte dazu am 12.12.21 um 11:59:
Hallo, Herzdenker, ja, ein guter Deutungsversuch. Am ehesten scheitere ich an "unser(e) Gewieher", weil das lyrische Ich dadurch plötzlich auch zum Pferd wird, es übernimmt gleichsam die  für Normalsterbliche nur deutbare Pferdesprache ...
Stark ist die Fern-Nähe, vergleichbar mit Hölderlins "Nah ist/ und schwer zu fassen der Gott".  Gruß Quoth

 HerzDenker antwortete darauf am 12.12.21 um 14:26:
Lieber Tula, lieber Quoth, danke für Euer Interesse und -besonders Tula- das ausdrückliche Lob. Hier wäre das Ganze auch als E-Book: 
https://www.grin.com/document/429825       "Drüben" kenne ich leider noch nicht...Danke,lieber Quoth, für die Ergänzung zur Pferde-Identität, die sich im Alleinheitsgedanken ja auch gut einfügt. -Allgemein wird Celans Dichtung sehr stark vom erlittenen Leid der Familie -Eltern starben im KZ- her gedeutet, was ich auch sehe, aber nicht in den absoluten Mittelpunkt rücken würde.

 nadir schrieb daraufhin am 12.12.21 um 18:42:
Ja! Das ist tatsächlich eine hervorragende Analyse, scharf gedacht jedenfall und dennoch ... ich glaube da ist etwas das du vergessen hast, das von Tula angesprochene religiöse Symbol. Ich habe daraufhin auch eine Interpretation geschrieben, vielleicht schaut mal einer vorbei? Jedenfalls, nichtsdestotrotz eine wunderbarr Analyse, die ihre Eigenheit hat. Und da es bei Gedichten eh keine Schwarz, oder Weiß gibt, - Ein Favorit!

 FrankReich (12.12.21, 14:49)
Ich bezweifele einmal die Behauptung "Hier ritt einer Gott", denn im Text steht eindeutig: ... ich ritt Gott ... über die Menschenhürden ...

und über die "Menschenhürden" heißt es dann weiter: ... Sie duckten sich ... , somit ist das lI meiner Auffassung zufolge nicht einer, sondern ein ganz bestimmter, auf die Redewendung "vom Teufel geritten", bezogen bedeutet das, dass das lI keinen anderen als den Teufel darstellt, der die Oberhand hat, was von den "Menschenhürden" allerdings glorifiziert, also umgelogen worden ist. 
So zumindest verstehe ich das Gedicht.

Ciao, Frank

 HerzDenker äußerte darauf am 12.12.21 um 15:05:
Lieber Ralf, ich habe schon gemeint, dass das lyrische Ich Gott reitet, dass sie zusammen mit ihrem Tun das Herzstück des Gedichts bilden. Deine Deutung, dass da der Teufel im Spiel ist, scheint mir überzogen. Aber Dein Hinweis lässt mich ernsthaft überlegen, ob nicht das Tierische in uns hier vor allem gemeint ist. Und das hat ja auch für Viele etwas Bedrohliches, das man gerne verdrängt und vor dem man sich gerne "wegduckt". Danke für deinen Kommentar!

 FrankReich ergänzte dazu am 12.12.21 um 15:54:
Wer soll denn Deiner Meinung nach sonst das lI sein, ein Mensch ist auszuschließen, denn das lI reitet das "Gottespferd" über die Menschenhürden, und warum sollte nicht mal Gott vom Teufel geritten sein? 
Schließlich heißt es zuletzt "... sie logen unser(e?) Gewieher um in eine ihrer bebilderten Sprachen." 
Dabei gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass auch der Teufel in vielen Darstellungen einen "Pferdefuß" hat. 
:D   :D 

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg (10.02.22, 16:59)
Hallo Herzdenker,
ich kann deiner Interpretation weitgehend folgen. Die Kernfrage ist: Wer ist das LyrIch? Für mich ist es der Dichter, der Gott zu interpretieren versucht. Dabei interpretiert er ihn zunächst in die Ferne, später in die Nähe.
Der interpretierte Gott sang bedeutet, dass dieser sich offenbart, die "Menschen-Hürden sind alle die Missverständnisse, die der Interpretation entgegenstehen.
Was aber bedeutet der Ritt durch den Schnee? Er kann das sein, was einem beim Interpretieren die Sicht nimmt, aber als Symbol der Reinheit auch bedeuten, dass man bei dem Interpretationsvorgang ins Reine kommt.
Die Empfänger der Interpretation ducken sich: Sie haben also Angst, deshalb schreiben sie das Gewieher  (bitte korrigieren) auch um bis hin zur Lüge, damit sie nicht schmerzliche Konsequenzen ziehen müssen,
Den Verweis auf den Teufel kann ich nicht nachvollziehen.
Begreift man das gesamte Gedicht als Offenbarungsvorgang erschließen sich auch die ersten beiden Zeilen: Der Wein (die Wahrheit) geht zur Neige, nach der Offenbarung  aber auch die Verlorenheit des LyrIch.

 HerzDenker meinte dazu am 10.02.22 um 17:14:
Lieber Ekkehart, sehr spannend, danke..., auch für die Empfehlung. morgen mehr.
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