Allwissend, allmächtig

Erzählung

von  Fridolin

Konkret erleben konnte ich die göttlichen Eigenschaften nicht in einer Person vereint, sondern nur sozusagen gesplittet.

Mutter hatte immer recht. Wenn wir etwas „ausgefressen“ hatten, dann wusste sie es zuerst. Und wenn wir etwas erreichen wollten, mussten wir mit ihr verhandeln; sie hatte immer die entscheidenden Argumente. Sie war sozusagen allwissend, aber allmächtig, das wollte sie nicht sein. Diese Rolle war meinem Vater zugedacht. Das dürfte weniger mit dem damals noch herrschenden Rollenbild zu tun gehabt haben, denn für mehr Einfluss von Frauen in der Politik setzte sie sich durchaus ein. Es wird eher einem Gespür dafür entsprungen sein, dass man sich nicht unbedingt beliebt machte mit dem Ausüben von „Staatsgewalt“.

Wenn es also galt, irgendwelche kindlichen Missetaten zu ahnden, trug sie dies immer meinem Vater an, der dieser Pflicht zwar nicht gerade begeistert, aber getreulich nachkam. Er konnte sich dabei schon in einen gewissen Zorn hineinsteigern, aber dieser galt wohl mehr der Tatsache, diese Aufgabe wahrnehmen zu müssen als den zugrunde liegenden Delikten.

So erinnere ich mich zum Beispiel an einen Wintertag, kurz nachdem die Bäume im Obstgarten ihren jährlichen Rückschnitt erlitten hatten. Was genau mein Bruder und ich verbrochen hatten, weiß ich nicht mehr, aber ein Strafgericht meiner Mutter war schon am frühen Nachmittag erfolgt und wir hatten in Erwartung der Rückkehr meines Vaters vom Dienst einige Stunden damit verbracht, düsteren Vorahnungen nachzuhängen. Wir wussten, dass er eine Strafe zu vollziehen haben würde. Als er dann endlich da war und sich die Geschichte angehört hatte, bestand seine erste Reaktion darin, uns in den Garten zu schicken mit dem Auftrag, in dem dort noch herumliegenden Schnittgut nach für die fällige Prügelstrafe geeigneten Ruten zu suchen.

Auf den ersten Blick scheint dies besonders perfide zu sein, aber in der Rückschau sehe ich vor allem zweierlei darin: Meinem Vater verschaffte es eine Atempause, er konnte seine unangenehme Pflicht ein paar Minuten hinausschieben, und uns Delinquenten gab das die Möglichkeit, uns innerlich zu wappnen auf das, was uns bevorstand. Hilfreich war das alles natürlich trotzdem nicht. Unser Gespür für Recht und Unrecht veränderte sich allenfalls dahingehend, dass Bestraft werden etwas ist, was man tunlichst vermeiden sollte. Das blieb deutlich im Gedächtnis.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (19.12.21, 13:50)
Die Mutter, klar, kennt man. Spannend ist der Vater, der sich unterordnet, indem er die Rolle des Herrschers spielt. Paradox.
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