SEELENBLIND, hinter den Aschen,
im heilig-sinnlosen Wort,
kommt das Entreimte geschritten,
den Hirnmantel leicht um die Schultern,
den Gehörgang beschallt
mit vernetzten Vokalen,
baut er den Sehpurpur ab,
baut ihn auf.
(Paul Celan)
Meine Deutung
Die Seele spielt im neuplatonisch geprägten Chassidismus ein sehr zentrale Rolle, wird ihr doch das Prädikat ewig zugesprochen und die Identität des Menschen mehr an sie geknüpft als an unsere Fleisch-Blut-Seinsweise. Der Satz: „Wir sind eine Seele und haben einen Körper“ dürfte der chassidisch-mystischen Weltsicht entsprechen. Und so ist der Titel unseres nächsten Gedichts sehr aussagestark: Blind ist da die Seele und da dies eine Form des geistigen Todes sein dürfte, passt es gut, dass sich die Szene hinter den Aschen abspielt. Die Wortverbindung –wobei das Wort Verbindung hier doppelsinnig ist- heilig-sinnlos stellt eine paradoxe Kombination dar: Entweder ist hier eine buddhistische Komponente enthalten, der das Heilige oft mit dem Fehlen vom allem, in diesem Fall dem ausformulierten Sinn, verknüpft. Oder das heilige Wort –so das dazugehörige Nomen, das hier verräumlicht wird- ist für die Masse der blinden Menschen -von Herz und Seele her eben- ohne jeden Sinn, da ohne Lebenszusammenhang.
Der Mensch, der mit diesen Defiziten ausgestattet ist, wird als der Entreimte bezeichnet, dem möglicherweise unkreativ gewordenen Poetenkollegen fehlt der „Takt“, mit dem Poesie erklingen kann. Dass Celan selbst oft dem Reim entsagt, scheint mir kein Widerspruch zu sein, denn die Metapher wirkt hier stärker als die realen Ausdrucksformen des lyrischen Ichs. Noch verfügt der Poet über eine gewisse Würde, denn sein Gehen wird als er kommt geschritten bezeichnet. Sein Gehirn spielt nicht mehr die Rolle wie beim Menschen üblich, in lässiger, ironisch gefärbter Metapher wird es als Mantel gesehen, der leicht um die Schultern geworfen wird. Das Denken wird also zur Attitüde, die nach außen hin zur Schau gestellt wird. Ein Mantel, der nicht getragen sondern über die Schultern geworfen wird, zeigt zudem mehr vom Menschen, denn er ist ein Stück entblößter.
In der zweiten Zeilengruppe wird allmählich ein Prozess der Ich-Findung der Hauptgestalt angedeutet: Zwar wird der Gehörgang zunächst noch beschallt, was ein oberflächliches Unterhalten assoziieren dürfte. Dann wird die Struktur stärker, denn Vokale erfahren eine Vernetzung. Der zentrale Begriff –möglicherweise des ganzen Gedichts- ist eine Eigenschöpfung, der Sehpurpur, der abgebaut wird. Purpur ist zwar eine königliche Farbe aber eben auch die Farbe, die zu den Menschen gehört, die vor allem über das Äußere glänzen wollen. Dabei helfen ihm von innen her die nun allmählich wiedergewonnenen Sinn-Strukturen. Wenn das Paradoxe nun erneut auftaucht, so können wir eine glaubwürdige Deutung nur über die Unterscheidung von Außen und Innen, von Körper-Ich und Seelen-Ich erreichen. Und somit wirkt die sprichwörtlich den Protagonisten aufbauende letzte Zeile als harmonischer, lebensbejahender Schluss: Dieselbe Energie, die sich vom Glitter des sich königlich gebärenden Äußeren abwendet, kommt dem Inneren zugute: Die Seele wird gestärkt! Der Schritt vom sichtbaren Ich Sehpurpur eben zum unsichtbaren –dem Seelen-Ich- wird vollzogen.