Um Jahrzehnte verjüngt

Erzählung zum Thema Veränderung

von  EkkehartMittelberg

Endlich war es so weit. Die Tablette, die bis zu 100 Jahre verjüngte, war auf dem Markt. Er hatte lange und ungeduldig darauf gewartet, weil er ein Experiment mit sich selbst anstellen wollte..

Würde derselbe Mensch mit jungen Genen kraft seines Willens in einem neuen Leben entscheidende Weichen anders stellen können?

Es hatte in seinem Leben Entscheidungssituationen gegeben, in denen er eine großartige Karriere hätte beginnen können, wenn er das Risiko des Scheiterns in Kauf genommen hätte. Sicher, dieses Risiko hatte es gegeben, aber im Alter erschien es ihm geringer als zu dem Zeitpunkt der verpassten Entscheidung. Natürlich konnte ihm niemand genau sagen, was passiert wäre, wenn er sich anders entschieden hätte. Das war der Grund, weshalb er noch einmal jung sein wollte. Er wollte die Probe aufs Exempel wagen, statt über mögliche Folgen nur zu theoretisieren.

Es ging ihm in erster Linie gar nicht um die materiellen Früchte großer Karriere. Er war vielmehr ein Forscher, ein Selbsterforscher. Konnte man seine Persönlichkeit entscheidend verändern, von Hamlet zu Alexander werden, der den gordischen Knoten entschlossen durchschlug?

Nun spürte er wieder das Feuer der Jugend in seinen Adern und er wollte es wissen.

Er ließ sich von einem namhaften Psychologen ein Trainingsprogramm von Alltagsentscheidungen zusammenstellen, die, mit kleineren Risiken behaftet, seine Entschlusskraft stärken sollten. Die Wagnisse endeten meistens positiv und seine wachsende Entscheidungsfreude drängte aufkommende Zweifel immer schneller zurück.

Jetzt dachte er, dass nicht nur in Glaubensfragen aus einem Saulus ein Paulus werden könne.

Es war genau der richtige Zeitpunkt; denn seine Freunde drängten ihn den Parteivorsitz zu übernehmen. Er brachte alle notwendigen Voraussetzungen für dieses Amt mit sich: Er kannte die

Ziele unterschiedlicher Parteigruppierungen, er konnte vermitteln, war durchsetzungsfähig, respektierte die Traditionen und hatte Visionen für Neuerungen.

Doch im letzten Moment vor der Zusage befiel ihn wieder wie vor hundert Jahren des Zweifels kränkelnde Blässe: Er stellte sich vor Augen, wie Politiker, die heute auf dem Zenit ihrer Macht standen, nach ein paar falschen Entscheidungen von der Bildfläche verschwunden waren und nur noch Journalisten interessierten, die sich an ihrem Niedergang weideten. Heute war er angesehen, hatte viele Freunde. Warum sollte er sein Renommee für Fortunas Launen aufs Spiel setzen? So sammelte er Argument für Argument, um vor sich selbst bestehen und seine Absage rechtfertigen zu können.

Äußerlich strahlte er Jugend, Dynamik und Frische aus, aber die Zeitreise hatte nichts daran ändern können. Er war der alte zaudernde Hamlet geblieben.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (10.01.22, 00:21)
Frei nach Wilhelm Busch: "Die Zeit ist gut, die Lage neu / Der alte Lump ist auch dabei."
Mit all den Erinnerungen der ersten 100 Jahre ist man wohl kaum im eigentlichen Sinne jung, und ohne sie ist man nicht mehr derselbe.
Vermutlich sind wir uns darin einig, daß das ein Irrweg isz.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 11:09:
Merci, Graeculus, ja, es ist ein Irrweg, der aufzeigt, dass man seine Persönlichkeit nicht grundlegend verändern kann.

 Verlo (10.01.22, 00:45)
Raymond Kurzweil hat in einem Interview gesagt: der erste Mensch, der 1.000 Jahre wird, ist bereits geboren. 

-> Transhumanismus.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 10.01.22 um 11:14:
Gracias, Verlo, ich vermute, dass diese Vision eintreffen wird. Wenn ja, ist die Frage umso spannender, ob man seine Persönlichkeit in einem so langen Leben ohne medizinische Eingriffe verändern können wird.

 monalisa (10.01.22, 08:14)
Ob die Politik das richtige Betätigungsfeld für einen Forscher und Selbsterforscher ist?
Diese Frage stellt sich mir hier, lieber Ekki. Die verjüngten Gene allein bewirken wohl keine grundlegende Erneuerung der Persönlichkeitsstruktur. Das Trainingsprogramm mag aber dazu beitragen, die Entschlusskraft zu stärken, Wagnisse eingehen zu lassen. Dieses Verjüngungspillen-Projekt selbst stellt ja auch so ein Wagnis dar ...
Interessantes Gedankemexperiment um die Frage: "Was wäre, wenn?" um die Möglichkeit, das Leben zurückzudrehen und neu durchzustarten.

Liebe Grüße
mona

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 10.01.22 um 11:22:
Vielen Dank, Mona, wie immer hast du genau erfasst, um welche Fragen es mir geht.
Interessant ist, dass Selbsterforscher, die meistens philosophische Naturen sind, sich gerne in die Politik begeben, um zu prüfen, ob sie auch für die vita activa tauglich sind.
Liebe Grüße
Ekki
Agnete (66)
(10.01.22, 12:48)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 10.01.22 um 13:59:
Merci, Agnete, ich habe mir diesen Menschen nicht als Opportunisten vorgestellt, sondern als einen, der an der Frage interessiert ist, ob er seine Persönlichkeitsstruktur ändern kann. Dabei scheitert er aus Willensschwäche.
LG
Ekki

 GastIltis (10.01.22, 14:24)
Hallo Ekki,
ich habe letztens einiges über den ersten chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi gelesen, der eine furchtbare Angst vor dem Tod gehabt haben soll. Diese Angst hat ihn verleitet, auf Quacksalber zu hören, die ihm wohl quecksilberhaltige Mittel verordnet haben, die, ähnlich wie das heute mit Drogen der Fall ist, zum baldigen Tod geführt haben sollen. Immerhin hatte er das riesige Reich geeint. Und ein Erbe hinterlassen, dessen Ausmaße noch zu ergründen sind.
Was deinen Text betrifft, habe ich nicht deutlich erkennen können, wann (oder wo) dein Protagonist vom Wollen zur Tat schreitet. Aber dazu müsste ich wohl auch erst solche Tabletten nehmen.
Herzlich grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 10.01.22 um 16:51:
Gracias, Gil, du konntest zu Recht nicht ergründen, wann mein Protagonist vom Wollen zur Tat schreitet, denn sein Charakter lässt ihn im entscheidenden Moment passiv bleiben.
Herzliche Grüße                                                                                            Ekki
Browiak (67)
(10.01.22, 14:51)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 17:01:
Vielen Dank, Browi, mit der Fantasie kann man vieles bewirken, aber sie hätte den Protagonisten  nicht in die Entscheidungssituation gebracht.
Liebe Grüße
Ekki

 Tula (10.01.22, 16:54)
Hallo Ekkehart
Bei solch einer Pille, wer wünschte sich da nicht zuerst sich nochmals heiß zu verlieben? Vielleicht entzöge die gesammelte Lebenserfahrung auch diesem Vorhaben den ganzen Zauber. Lustmolche ausgenommen  8-)

LG
Tula

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 17:06:
Vielen Dank, Tula, mein Wunsch wäre es auf jeden Fall gewesen, aber ich bin ja nicht so kompliziert wie mein Protagonist.  :)

LG
Ekki
Browiak (67) meinte dazu am 10.01.22 um 17:30:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 17:47:
Da kann ich dir nur zustimmen, liebe Browi. Mir fällt dazu noch ein tragikomischer Aspekt ein. Echte Entscheidungen fallen einem dann leicht, wenn es gilt,. die Haut zu retten.  :D

 AchterZwerg (10.01.22, 18:13)
Lieber Ekki,

ist denn das Zaudern eine Eigenschaft der Jugend?
Das war - zumindest bei mir - in jungen Jahren  ganz anders. Selbst jetzt tue ich mich schwer damit, neige jedoch zur Rückversicherung, die mir früher ebenfalls fremd war.
LotharAtzert würde  Kühnheit und Entscheidungsfreude  vermutlich auf das  Sternzeichen zum Zeitpunkt der Geburt schieben, ich selber (auch) auf eine gewisse Blauäugigkeit.
Sei froh, dass du zu den Vernünftigen gehörst - kann aber durchaus sein, dass dir dadurch allerlei entgangen ist ...
Herzliche Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 21:09:
Merci, liebe Freundin, hier ist mehr von einem Erzähler-Ich die Rede als von mir selbst. Ich kenne nämlich beides, die raschen Entschlüsse und das Zaudern.
Das Zaudern kann eine bewahrende Funktion haben, wenn man zu Bewerbungen aufgefordert wird. Wer diesen Aufforderungen von außen zu unüberlegt nachgibt, sieht sich bald mit dem Petermann-Prinzip konfrontiert. Manchmal ist die Mutter des Zögerns einfach das noch nicht vollzogene Eingeständnis eigener Begrenztheit.
Schmunzelnde Grüße
Ekki

 TassoTuwas (10.01.22, 18:21)
Hallo Ekki,
zu Ende eines langen Lebens gibt es sicherlich rückblickend viele Momente der Entscheidungen. Ein hätte, wenn und aber ist da wenig sinnvoll, denn jeder andere Weg ist auch keine Garantie für ein besseres oder erfolgreichere Leben. 
Wer am Ende sagt, so wie es gelaufen ist, so hab ich es gewollt, hat alles erreicht.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 21:17:
Vielen Dank, Tasso, die Kunst liegt wohl darin, die Erwartungen an sich nicht zu hoch zu schrauben.. Dann kann man am Ende seines Lebens vielleicht sagen: Es ist so gelaufen, wie ich es gewollt habe.
Herzliche Grüße
Ekki
wa Bash (47)
(10.01.22, 18:32)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 21:28:
Merci, waBash, das kann man von der ZEIT lernen: Man sollte in der Lage sein, den Selbstbetrug später zu akzeptieren.
LG
Ekki
wa Bash (47) meinte dazu am 10.01.22 um 21:49:
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 Saira (10.01.22, 19:02)
Ach lieber Ekki, was für ein schöner Text! Wer hat sich wohl noch nicht gefragt, wie es wäre, mit der Weisheit von heute, noch einmal von vorne beginnen zu können.
 
Ich könnte ein Buch schreiben, warum ich es nicht würde wollen. Es würde ja bereits bei meiner Geburt beginnen… ich müsste mir, um ein chancenreicheres Leben leben zu können, andere Eltern wünschen.
 
Eines weiß ich aber ganz sicher: egal, wie ein anderes Leben aussehen würde, mein Sohn müsste wieder geboren werden!!!
 
Danke für diese Gedankenreise!
 
Herzlichst
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.01.22 um 21:35:
Grazie, Sigi, die Gedankenreise hier hat ergeben, dass die Meisten bereit sind, ihr Schicksal so zu akzeptieren, wie es gelaufen ist. Das ist tröstlich.
Herzliche Grüße
Ekki

 TrekanBelluvitsh (10.01.22, 23:13)
Man lebt sein Leben und wenn man kein Narr ist, verändert es einen. Der Protagonist war eindeutig ein Narr.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.01.22 um 19:25:
Merci, Trekan, auf der Weltbühne gibt es viele Narren.

 Verlo (10.01.22, 23:14)
Ziel ist kein Verjüngen des Körpers, sondern sich von ihm unabhängig zu machen, in dem man die Seele vom Körper trennt, sich aber durch Künstliche Intelligenz und Nanotechnik fühlt, als wäre man immer noch in seinem Körper, der nun aber den eigenen Wünschen perfekt entspricht.

Eine falsche Entscheidung getroffen? Spielt keine Rolle, weil ich unendlich Zeit habe. 

Selbstverständlich wird es das nicht für uns Fußvolk geben. Wir werden dann ohnehin nicht mehr gebraucht.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.01.22 um 19:29:
Grazie, Verlo, eine sehr interessante Vision mit einem verlockenden Surrogat von Freiheit.

 harzgebirgler (13.01.22, 09:37)
er konnte selbst verjüngt aus seiner haut
nicht raus und hat auf sand deshalb gebaut.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.01.22 um 18:02:
Grazie, Henning, wenn man aus seiner Haut nicht raus kann, will man das Falsche, zumindest für sich selbst.
LG
Ekki
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