Ich weiß von einem weißen Ort - Erinnerungen III

Text zum Thema Vergangenheit

von  tulpenrot

„So viel Schnee gibt es hier“, erzählt sie mir heute Abend am Telefon. Sie wolle den Schnee aber nicht von ihrem Balkon schaufeln, sagt sie, das sei ihr zu mühsam.  Und “der geht von alleine weg“ weiß sie. Eine einzelne Christrose blühe in ihrem Hochbeet, berichtet sie. Wie bei mir, denke ich. Ich merke, dass sie darauf stolz ist.

 

Ich weiß noch, wie es früher um diese Jahreszeit war in dem Ort, in dem sie jetzt wohnt und ich nicht mehr. Als noch keine Christrosen blühten. Als du den Berg hinunterrodeltest und ich frierend am Hang auf dich wartete. Als wir zum Lichterfest in den nahen Kurpark gingen. Als wir uns mit Schnee bewarfen und versuchten einen Schneemann zu bauen und eine Hütte. So viele Spuren haben wir als Langläufer in die winterliche Landschaft gelegt, so viele heiße Getränke anschließend zu Hause und anderswo getrunken. Einmal schlich ein weißer Marder bei eiskalter, glasklarer Nacht durch unseren Garten, schraubte sich dem Vollmond entgegen zu imposanter Größe. Man konnte ihn für eine Katze halten. Unheimlich. Gespenstisch.

 

Ich erinnere mich an die mächtigen Herrnhuter Sterne, die als Straßenbeleuchtung das Weiß auf den Straßen und Dächern  beschienen. Besonders eindrücklich, wenn wir früh morgens an Heiligabend zur Christmette stapften.  Unsere Schritte knirschten im harten Schnee. Hier und da war ein einsames Fenster beleuchtet, über dem Umland aber lag ungastliches, kaltes Dunkel. Für die meisten Menschen war noch Schlafenszeit an diesem Tag. Von allen Seiten des kleinen Ortes jedoch kamen wir Musiker zusammen, um uns im Kirchensaal einzuspielen und später bei einer vorweihnachtlichen Andacht zu musizieren. Noch im Geist der ausgehenden Adventszeit. Bei Kerzenlicht. Für diese Uhrzeit erstaunlich viele Teilnehmer trafen zu dieser musikalisch liturgischen Besinnungszeit ein, einem Innehalten, bevor die Geschäftigkeit des Heiligabends begann. Ich lese auf der Homepage der Gemeinde: Diese frühmorgendliche Gepflogenheit an Heiligabend gibt es immer noch.

 

Weiß gelackt sind die Bänke im Kirchensaal, der „guten Stube der Gemeinde“, weiß die Gardinen an den hohen Kirchenfenstern, die Empore ist ebenfalls weiß. Nur der Holzboden aus rohen Dielen ist dunkel und der über hundertzackige, papierne Herrnhuter Stern leuchtet gelb über der versammelten Gemeinde. Er macht auf die Besucher immer großen Eindruck. Die weißen Kerzen am grünen Weihnachtsbaum werden erst am Nachmittag angezündet, wenn die Kinder zum Familiengottesdienst da sind. Erst dann wird Weihnachten sein. Noch ist der Baum dunkel. Die Orgel schweigt, nur wir Musikanten begleiten den Gesang der Gemeinde mit Flöten, Streichinstrumenten und Cembalo. Es ist wie Kammermusik.

 

Im Anschluss daran:  ein festliches Frühstück für uns bei dem Leiter des Musikerensembles und dann die restliche Arbeit für den Festtag. Zum Beispiel das  Schneeschaufeln. Mit wieviel Mühe wir meistens mehrmals am Tag die Schneemassen zu einem Berg aufschaufelten. Du hast mir als Jugendliche geholfen.

„Wir brauchen eine Leiter. Ich kann den Schnee nicht mehr so hoch hinaufwerfen“, beklagtest du dich einmal und versuchtest von der Leiter aus den Berg zu erhöhen und unten zu verjüngen. Es war ziemlich aussichtslos. Der Schnee war mächtiger als unsere hilflosen Versuche ihn zu bändigen. Hin und wieder kam zum Glück der Nachbar mit einer Schneefräse und half uns aus der Misere. Doch meist schaufelten wir bedächtig vor uns hin, schoben den Schnee zur Seite, machten Gehwege frei und ruhten uns immer wieder aus, auf die Schneeschaufel gestützt, und hielten ein gemütliches Schwätzchen von einer Straßenseite zur anderen. Ich kannte das aus meiner eigenen Kinder- und Jugendzeit nicht, die ich im damals furchtbar dreckigen und dunklen Ruhrgebiet verbrachte, und liebte daher solch dorfähnliche Idylle.

 

Damals hab ich mir nie Christrosen gekauft. Eher brachte mein Mann Zweige mit Kirschknospen von unterwegs mit, die er bei seinen Langlauftouren fand. Sie blühten oft tatsächlich in der warmen  Wohnstube auf. Das ist sehr lange her. Er lebt schon lange nicht mehr. Bei mir blüht heute eine Vielzahl von Christrosen nicht im Beet, sondern im Garten. Ich wohne ja auch inzwischen in einem Ort mit milderem Klima. Hier gibt es kaum Schnee. Hier gibt es so vieles nicht. Es fehlt mir. Und dennoch will ich nicht zurück.

 

Meine heutige Gesprächspartnerin am Telefon  hat sich gut eingelebt, seitdem ihr Mann gestorben ist und sie  umgezogen ist. Kein Wunder. So habe ich damals  denselben Ort und seine Menschen auch kennen gelernt, als ich dort meine neue Arbeitsstelle antrat. Offen und freundlich und interessiert. Manches Gute hat sich eben doch nicht geändert, auch wenn  wir älter, unsere Gesichter faltiger und bleicher geworden sind, und sich das Aussehen auch des Ortes verändert hat. Ich liebe ihn immer noch. Aus der Ferne.



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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (12.01.22, 14:03)
Interessant, Deine Erinnerungen in Ruhe zu lesen. Aus der Ferne. Winter gibt es wahrscheinlich keine mehr. LG

 tulpenrot meinte dazu am 12.01.22 um 14:15:
Doch, an dem Ort schon, von dem ich berichte, wie das Telefongespräch von gestern zeigt.  Aber der Ort liegt ja auch fast 900 m hoch.
Anderswo ist es sicher anders.
Dir vielen Dank in die Ferne und LG

 AchterZwerg (13.01.22, 07:07)
Erinnerungen, die durch den fallenden Schnee vor dem Vergessen bewahrt werden.
Sehr schön!

 tulpenrot antwortete darauf am 13.01.22 um 08:17:
Freut mich, dass es dir gefällt. Danke fürs Lesen, kommentieren und Besterneln
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