Theismus und Transzendenz

Essay zum Thema Transzendenz

von  Terminator

1. Die fehlgeleitete extravertierte Intuition


Wie heißt die meistbenutzte Suchmaschine auf der Welt, dies- und jenseits des Internets? Extravertierte Intuition (Ne). Extravertierte Sinnlichkeit empfängt, introvertierte Sinnlichkeit sammelt (und ordnet?*) Sinnesdaten. Extravertierte Intuition sucht nach Zusammenhängen, wild, chaotisch, wie sie kommen, das Neue und Sensationelle wird bevorzugt. Ne ist der Staubsauger für Verschwörungstheorien.


Es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, wie die Welt entstanden ist. Die Interessanteren gehen von einem Schöpfer aus. Intentionalität ist spannend, weil voluntaristisch, unvorhersehbar, überraschungsschwanger. Dharma ist für Denker. Die Intuition ahnt, dass da noch mehr dahinter steckt. Ne-user leben in Outer Limits, der unbekannten Dimension.


Was bloß möglich ist, ist für Ne bereits so gut wie wirklich, wenn es interessant ist. Ich glaube, weil es absurd ist, ist das Credo der Ne-user.


Warum Fragen stellen, wenn man Vermutungen anstellen kann? Alan Watts, ENFP (Ne dom), sagt, stellt euch vor, ihr alle seid Gott. Ihr habt unzählige Leben gelebt, und nun lebt ihr dieses. Und ihr selbst habt vorher entschieden, es so zu leben, dass ihr nicht wisst, dass ihr Gott seid. Stellt euch vor bedeutet für Ne-user: es ist so. Es sei denn, du stellst dir etwas noch Unglaublicheres vor.


Warum verstehen, wenn man vertrauen kann? Kierkegaard, most INFP philosopher ever (Ne aux), hält den Sprung von den Klippen der Ungewissheit ins Gottvertrauen für den entscheidenden Schritt. Darum geht es im Leben. Man muss es nur fühlen. Ich als intuitiver Denker fühle mich aber nur verarscht.


Doch zum Glück haben wir den Teufel, ENTP (Ne dom). Ja, alles ist möglich, sagt er, auch dass Gott böse ist. Oder dass es keinen Gott gibt. Aber wie kommt er darauf, zu denken? Mit Ti aux (introvertiertes Denken als zweite Funktion). Kant (Ti dom, Ne aux) stellt als INTP fest, dass auf Glauben grundsätzlich keine Weltanschauung gegründet werden kann. Glauben ist nicht wissen, weiß der Ti-user. Der Ne-user ohne Ti weiß es nicht.



*Meine Vermutung ist, dass eher die Denkfunktionen die Daten ordnen.


2. Das spekulative extravertierte Denken


Extravertiertes Denken ist das Werkzeug der Macher. Wer in der Welt wirken will, nutzt Te. Der General nutzt es, um zu siegen, der Ideologe, um die Welt zu erklären. Extravertierte Intuition (Ne) fabriziert Erzählungen, extravertiertes Denken (Te) Ideologien.


Was ist, philosophisch betrachtet, eine Ideologie? Eine logische Erzählung. Die Genesis ist eine kontingente Erzählung (so war es!), der dialektische Materialismus ist eine logische Erzählung (so ist es!). Ne erzählt von Ereignissen und Akteuren, Te von Sachzwängen und Strukturen.


Hegel, Marx, Lenin waren alle INTJs (Te aux): sie dachten extravertiert und wurden nicht von der Liebe zur Weisheit, sondern vom Willen, die Welt zu erklären, angetrieben. Hegel hatte wohl noch den Willen, die Welt zu verstehen, so wie Nietzsche, Sartre, und all die anderen Fi-user unter den INTJs. Marx und Lenin aber: nein, wozu verstehen, wenn man gleich erklären kann!


Wundersamerweise geht bei Hegel alles im Absoluten auf. Es ist ein den Ideen selbst äußerliches Ordnen, das deshalb willkürlich ist. Ideen haben ihre innere Ordnung. Das wusste Kant, das verkannte Hegel.


Der christliche Glaube wird bei Hegel zu einem Moment des absoluten Idealismus. Hegel greift Ideen, Stoff der Intuition, auf, und ordnet sie so, dass sie in ein widerspruchsfreies Ganzes passen. Aber sind diese Ideen auch jeweils in sich richtig? Wer fragt sich das schon? Etwa ein Proklos? Ein Thomas von Aquin? Ein Ken Wilber?


Wissen ist Macht. Nichts ist verführerischer für intuitive Denker als der Gedanke, alles zu wissen. Das absolute Wissen heißt auch das Schlusskapitel von Hegels brillantem Te-Meisterwerk, der Phänomenologie des Geistes. Doch gleich mein erster Eindruck war: Hegel weiß also alles, und ich stehe wieder vor dem Nichts.


Wenn die Welt so erklärt wird, dass alles in ein großes Ganzes passt, kann man sie mit Gott erklären, aber auch ohne. Und da hat Hegel (INTJ = ENTP shadow) Schattenarbeit geleistet: der absolute Idealismus schlägt in seinem Erklärbärwerk unvermittelt in einen absoluten Positivismus der Weltimmanenz um.



3. Das herdentriebige extravertierte Fühlen


Was andere glauben, ist mir egal. Aber der Glaube entsteht normalerweise durch den Herdentrieb, wobei normal ist, dass man keinen Fe trickster hat, und wenn, dann mit Si hero (Hauptfunktion introvertierte Sinnlichkeit) zusammen. Ein ISTJ versteht nicht wirklich soziale Normen, aber er hält sich an Regeln und Traditionen. So sehr ein sehr geschätzter ENTP (Fe child) darauf besteht, dass es wichtig ist, zu wissen, was andere glauben, und das zu respektieren, so sehr bin ich INTJ und sage nein.


Die Gemeinschaft der theistisch Gläubigen hat nichts moralisch, ethisch oder sonstwie praktisch-philosophisch Herausragendes vorzuweisen. Glaubenskriege, Antisemitismus, Missbrauchsskandale: all das war und ist durch die Gemeinschaft der extravertiert Fühlenden möglich. Die Kirche basiert auf dem Herdentrieb und der kognitiven Empathie. Mit affektiver Empathie (introvertiertes Fühlen, Fi) tun mir die Opfer ihrer unheiligen Eintracht leid.


Zwietracht lasset uns sähen, auf dass jeder selber denke! Anpassung an die Werte der Gruppe sichert das weltimmanente Überleben, ist aber kein Gütesiegel für welttranszendente Werte. Ob Jesus nur Gott oder nur Mensch, Gott und Mensch zugleich, leiblich Mensch und geistig Gott usw. gewesen ist, bleibt bedeutungslose Floskel, wenn es nach der herrschenden Meinung in Alexandria, Anitochia oder Rom geglaubt wird. Was glaubst du selber denn?


Und da zeigt sich, bei Licht betrachtet, dass sehr wenige Christen ihren tatsächlichen Glaubensinhalt definieren können. Vielmehr richtet sich dieser flexibel nach der Meinung der Gruppe. Gemeinsam ist allen, Jesus als den Erlöser anzunehmen. Aber ohne zu verstehen, was das bedeutet, bleibt das eine leere Floskel.




4. Die extravertiert-sinnliche Begierde


Sonnenschein ohne Sonnenbrand, Rauchen ohne Krebs, Saufen ohne Kater, Titten, Ärsche, immersteife Schwänze, nimmerschwangere Playmates, Quillaja-Honig, Konsensmilch, Wahrscheinlichkeitswolken aus Pfefferminzmarzipan der Geschmacksrichtung Schokokakaoschoko, wo gibt es das alles? Im Paradies! Und auf dieser Welt nicht? Doch, aber die Qualität ist bescheiden.


Der Wunsch, ins Paradies zu kommen, und ohne Einschränkungen durch Natur und Kultur nach Lust genießen zu können, ist der Vater vieler religiöser Gedanken. Durch extravertierte Sinnlichkeit (Se) nehmen wir Sinneseindrücke wahr, und die meisten sind unangenehm. Schmerz wird intensiver erlebt als Lust, Ekel intensiver als alles andere zusammen. Arbeit, Training, Körperpflege: was man nicht alles tun muss, bevor man genießen kann bzw. genießbar wird. Die schönen Momente sind aber dann überschaubar.


Der Gier nach Angenehmem folgt die Gier nach mehr. Auch der König ist nicht zufrieden. Er kann keine zehn Frauen am Tag, aber will können. Er kann keinen Eimer Wein trinken, würde aber gern das ganze Fass austrinken. Das Lustvolle wird schnell zur Selbstverständlichkeit und verliert den Reiz. Erst nach längerer Krankheit wird Gesundheit als ein positiver, nicht bloß normaler Zustand, empfunden.


Der Hedonismus ist durch die sinnliche Ausstattung des Menschen einprogrammiert. Wenige schaffen es, den Drang nach Lust so zu regulieren, dass das Leben nicht zum Frust wird. Die Vielen fressen den Frust unbefriedigter sinnlicher Wünsche in sich hinein und stauen diesen in der introvertierten Sinnlichkeit (Si). Der Kipppunkt von naiver zur theistischer Religion ist erreicht, wenn das Unbefriedigte durch das Leid der Frustration, um ebendiesem Leid einen Sinn zu geben, als verdient erscheint.



5. Die traumatisierte introvertierte Sinnlichkeit (il cuore del problema)

Die Anspielung auf die fünfte Staffel von La Piovra hat den Hintergrund, dass die Geschichte, die in diesen fünf Episoden erzählt wird, paradigmatisch für unsere Erfahrung mit der Erfahrung ist, genauer, mit unserem Speichermedium der Erfahrung, der introvertierten Sinnlichkeit (Si). Ein idealistischer junger Mann wird durch traumatisierende Erfahrungen in einem sehr kurzen Zeitraum zum kaltblütigen Mörder; ein Mensch, der aufgrund seines guten philanthropischen Charakters anfangs zur Mafia nicht passt, übertrifft sogar ihren größten Bösewicht am Ende an Bosheit. Er begeht allerdings nicht derart viele Gräuel, dass dem unsensiblen Zuschauer bewusst wird, welch eine krasse Wesensänderung bei ihm stattgefunden hat, aber dem Aufmerksamen entgeht es nicht.


Ich verstehe seine Erfahrung aus Erfahrung. Das ist meine Geschichte. Ein junger Mann mit vielen Hoffnungen wird durch eine heimtückische Sprachstörung (Stottern) ausgebremst, kommt mit seinen Mitmenschen nicht klar, weil er Autist ist (es aber nicht weiß), wird depressiv und findet schließlich zu Gott, wird ein Theist. Ein akzeptables Niveau an täglichem Leid kann weltimmanent verarbeitet werden, zu großes Leid oder zu viel davon staut sich auf, bis im Unbewussten bewusst wird, dass dieses Leid weltimmanent nicht mehr aufzuwiegen ist. Man fängt an, nach einem welttranszendenten Garanten der Glückseligkeit zu suchen, nach einer allmächtigen Person, die einem verspricht, die Bilanz wieder auszugleichen. Aus gespeichertem Leid entsteht eine Anspruchshaltung.


Zum Glück wurde ich nicht zum Mafia-Bösewicht, aber ich lebe auch nicht in einem Film. All die Jahre des Theismus verbrachte ich damit, mich selbst überzeugen zu wollen, dass es diesen transzendenten Garanten der Gerechtigkeit gibt, der die Leidleistung in Glückspunkten wieder zurückzahlt. Es war nicht von Anfang an so, dass ich an das Paradies mit den sprichwörtlichen 72 Jungfrauen dachte, im Gegenteil, ich war voller Hoffnung, als 16-jähriger Christ in dieser Welt das Glück zu erleben, dass das Erlittene ausgleichen sollte. Erst als das Leid sich verzinste und schneller wuchs als die Staatsschulden von Italien, wurde mir klar, dass kein Glück dieser Welt das bereits Erlittene wettmachen konnte. Das war mein "I want to believe"-Moment. Doch "Ich glaube daran, weil ich es mir wünsche" war angesichts intellektueller Selbstreflexion schon im jungen Alter zum Scheitern verurteilt. Ich verzweifelte. Und ich kündigte das christliche Opfer-Abo. Das war der richtige Weg.


Doch dann kam Sex. Erst mit 16 entwickelte ich echtes sexuelles Interesse, davor war ich sexuell ein Kind. Zur verspäteten Pubertät kamen heftige Verliebnisse, die die Romantik in den Vorder- und die Sexualität in den Hintergrund rückten. Kurz vor dem Abschied vom Christentum, als die Begeisterungsenergie der romantischen Liebe nach mehreren erfolglosen Verliebnissen verbraucht war, sprach die Sexualität ihr Wort. Ich hatte keine Ahnung, dass meine inferior function die extravtertierte Sinnlichkeit (Se) ist, und ich dadurch das Leidkonto ausschließlich sinnlich abgenießen kann. Ich lebte und litt weiter, anstatt den erlösenden Freitod zu wählen. Diese Entscheidung bereute ich immer mehr, doch andererseits wuchs auch das Leidkonto und damit die Ausgleichsansprüche. Ich tat ja nichts Böses, im Gegenteil, Gutes, und zwar, weil das meinem Wesen entsprach. Mein Fehler war aber, dass ich dafür belohnt werden wollte. Und dieser Fehler ist ein eingebauter psychologischer Fehler, der eben introvertierte Sinnlichkeit heißt.


Meine Vorstellung war nicht, mit echten Frauen echten Sex zu haben, sondern in einem virtuellen Simulator selbst ausgedachte Sexualsituationen auszukosten. Die Ansprüche an das Aussehen der sexuellen Genussobjekte wuchsen Jahr für Jahr, bis sie so perfekt waren, wie keine reale Frau jemals sein könnte. Doch wie konnte ich mir selbst versichern, auch tatsächlich jemals ausgezahlt zu werden? Dafür nutzte ich Religion und Moralphilosophie: die Moralphilosophie sollte das Gewünschte als das logisch Notwendige erscheinen lassen, die Religion mit der Güte Gottes dafür bürgen. Wenn es Gott gibt, wird mein Leidkonto ausgeglichen, denn ich leide ohne Schuld. Und ich entzog mich jeder Möglichkeit des Schuldigwerdens, um die Situation noch zu verschärfen. Wenn ich mein Paradies nicht bekomme, vernichtet Gott sich selbst, denn dann ist Gott nicht Gott, oder es gibt keinen Gott. Letzteres war immer mit der Anspielung verbunden, dass (mir) dann alles erlaubt sein würde: "die Welt pfänden", wenn ich meine Gerechtigkeit nicht bekomme, so meine Ausdrucksweise im Sommer 2006.


Was war ich für ein kranker Bastard? Mal checken. Posttraumatische Belastungsstörung? Check. Posttraumatische Verbitterungsstörung? Check. Narzisstisches Trauma? Check. Schwere Depression über Jahre hinweg? Check. Die Welt als Unwille und Alptraum, die Moral als Narzissmus, die Religion als KZ. Wer quälte mich denn all die Zeit? Heute weiß ich ja, dass ich der Welt und fast allen Menschen und Göttern angenehm egal bin, sie haben nichts gegen mich, sie werden aber auch von meinem Leid nicht fett. Aber die intovertierte Sinnlichkeit ist mein Dämon (Umkehrfunktion der vierten kogntiviten Funktion, der extravertierten Sinnlichkeit). Der Dämon ist der Kopf des Super-Ego, während die Hauptfunktion das Ego anführt: Ni hero bedeutet Si demon. Keine kognitive Funktion hängt so am Leben wie die introvertierte Sinnlichkeit. Darum war mir der Suizid verboten. Nicht von Gott oder der Gesellschaft oder der Moral, sondern aus dem tiefsten Abgrund meiner Psyche.


Jeder, der nicht nur Geiles erlebt, wird von der introvertierten Sinnlichkeit herausgefordert. Diese Funktion wehrt sich gegen schlechte Erfahrungen, was psychologisch sinnvoll ist, denn sie soll man ja nicht wiederholen. Doch bei zu viel Leid ohne Möglichkeit des Entkommens sammelt die introvertierte Sinnlichkeit das Erlittene wie eine Privatbank des Zorns, und wartet auf den Zahltag. Ist Si im Ego verankert, neigen Si hero und Si parent per default zur theistischen Religion, Si child und Si inferior verderben den Charakter und zerstören das Gute im Menschen. Ist Si im Schatten, verfolgen die schlechten Erfahrungen einen als Si nemesis, ziehen als Si critic runter, lassen als Si trickster immer wieder dieselben Fehler wiederholen (mit Tendenz zu Suchtverhalten), oder wollen sich als Si demon an der Welt rächen. Nur künstliche Hoffnung hält davon ab, und zwar durch den Zwangsglauben.


Da es sich um den Kern der theistischen Pathologie handelt, kann die Darstellung nicht kürzer ausfallen. Aber hier sind wir am Wendepunkt angekommen, die restlichen drei Funktionen sind nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Allen außer INTJs und INFJs ist als Heilmittel gegen Theismus Psychotherapie zu empfehlen, die beiden Charaktertypen mit der Arschkarte müssen da selber durch, weil der Dämon introvertierte Sinnlichkeit sich gegen die Auflösung seiner Lebenslügen so stark wehren wird, dass kein Therapeut dagegen ankommt. Den Theismus zu besiegen ist so schwer wie den Krebs zu besiegen; den Theismus sehe ich immer deutlicher als den Krebs des Geistes.


Kurz: Schlechte Erfahrungen werden gespeichert, die Psyche schreit nach Gerechtigekeit, nach Ausgleich, wenigstens nach Linderung. Erlebt sie aber weiter nichts als Schmerz, Schmerz, Schmerz, wird sie krank, und infiziert den Geist. Die Geisteskrankheit, der Glaube an einen Gott als Person, parasitiert auf dem natürlichen Bedürfnis nach Transzendenz. Mystik, das Streben nach Vervollkommnung und Heiligkeit, der Weg des Dharma: so reagiert ein gesunder Geist auf dieses Bedürfnis. Der kranke Geist hält krampfhaft an der Wahnidee eines menschenähnlichen Schöpfers des Universums fest, entmachtet sich selbst, verbietet sich jede Anstrengung (an sich sinnvoll: in der Krankheit braucht man Schonung), bis das Leidkonto ausgeglichen wird, lebt in einer Trotzhaltung gegenüber der Welt, und beraubt sich der einzigen Möglichkeit, dem Elend ein Ende zu setzen, wenn es unerträglich wird: des Suizids.



6. Die Aufrichtigkeit durch introvertiertes Fühlen

Das introvertierte Fühlen verweigert sich dem Theismus, es fühlt diesen nicht, kein Wunder bei diesem Gedankenkonstrukt. In meinem Fall ist Fi die Kindfunktion (Fi child) und wird von Te parent geschützt. Das extravertierte Denken denkt nach, aber es denkt nicht durch. Was ist für Fi child angesichts schrecklicher bisheriger Erfahrungen besser, dass es einen allmächtigen, guten und allwissenden Gott gibt oder nicht? Wäre nicht schlecht, wenn es den Garanten der Glückseligkeit als welttranszendente Persönlichkeit gäbe. Also sucht Te parent rationale Gründe dafür, dass es ihn gibt.


Zur Funktion des nicht Nach- sondern Durchdenkens, zum introvertierten Denken, steht das introvertierte Fühlen in jeder möglichen Anordnung der kognitiven Funktionen im Gegensatz: die beobachtenden und die wertenden Funktionen gleicher Direktion kämpfen gegeneinander. So kämpft Fi child gegen Ti critic den Kampf der Unschuld. Das Ergebnis sind Denkverbote für guten Zweck. Um auf die Funktion introvertiertes Denken zugreifen zu können, musste ich Schattenarbeit leisten (ENTP shadow).


Nach getaner Schattenarbeit stelle ich fest, dass das introvertierte Denken dem introvertierten Fühlen nicht die Hoffnung wegnehmen will, sondern nur die Illusionen. Die vier Kämpfe gegen uns selbst, die wir führen (hero vs demon, parent vs trickster, child vs critic, inferior vs nemesis), bringen uns um oder machen uns stärker. Hierfür ist der betreffende Spruch angemessen, nicht für äußere Ereignisse.


Das introvertierte Fühlen steht für das authentische Erleben. Diese unmittelbar wertende Funktion ist auch für die moralischen Werte zuständig (bei mir sind die ersten 3 von 6 nach Jonathan Haidt Reinheit, Freiheit und Gerechtigkeit). Weder habe ich jemals die Anwesenheit eines Gottes, wie ihn die Bibel beschreibt, gefühlt, noch stimmen meine persönlichen Werte mit den Werten theistischer Religionen überein (da wäre Autorität der höchste Wert in der Hierarchie).


Fühl, was du wirklich fühlst. Die Unfähigkeit zu fühlen oder ein Fühlverbot, das ist aus naheliegenden Gründen das Ziel theistischer Gehirnwäsche. So musste Kierkegaard (INFP = Fi hero) trotz Andersfühlens eine Enweder-Oder-Entscheidung treffen und entschied sich für den Sprung ins Ungewisse in die Arme des biblischen Gottes. Fühlte er Liebe? Nein, er fühlte Angst. Die Liebe Gottes als Furcht und Zittern.



7. Das logische introvertierte Denken

Als Te-user bin ich kein großer Denker. Dass ich dennoch Philosoph bin, und nicht zu knapp, hängt mit dem starken Willen zusammen: der klassischen Liebe zur Weisheit, sprich dem Willen zum Wissen/zur Wahrheit gesellen sich aber noch der Wille zur Macht (Nietzsche) und der Wille zum Wert (Weininger) hinzu. Durch extravertiertes Denken (Te) bin ich eigentlich ein Erklärbär, ein extensiver Konstrukteur, kein intensiver Forscher. Man gibt gern generös Schwächen zu, die einem selbst nicht wehtun; die den Charakter bestimmenden Schwächen versteckt man. Das tut weh: ich bin kein Ti-user, introvertiertes Denken (Ti) gehört nicht zu meinen Stärken.


Die großen paradigmatischen Leistungen von Ti sind Kants Philosophie und Einsteins Physik. Introvertierte intuitive Ti-user (insbesondere INTPs) sind die größten Denker, extravertierte intuitive Ti-user (vor allem ENTPs) die größten Erfinder. Die Relativitätstheorie ist so durchdacht, dass sie intuitiv überhaupt nicht zu verstehen ist, und nur wenige selbst durch reines, vom Vor-Urteil geschiedenes Denken, sie begreifen können. Es gibt nichts in der empirischen oder systematischen Erfahrung, das ein Vor-Verstehen (eine Intuition) der Relativitätstheorie ermöglicht. Intuition und extravertiertes Denken stehen vor verschlossenen Türen. Mathematik und theoretische Physik sind das Reich des introvertierten Denkens.


Kants Widerlegungen der Gottesbeweise sind paradigmatisch für Ti, der kosmologische und ontologische Gottesbeweis sind paradigmatisch für Te. Gott ist der Größte. Der existierende Gott ist größer als der bloß Gedachte, also muss Gott existieren. Wirklich? Existenz ist eine andere Kategorie als Größe, Güte, Allwissenheit oder Allmacht. Das schönste Einhorn ist nicht schöner, wenn es existiert, als wenn es bloß vorgestellt wird. Eine Milliarde Dollar, die man haben will, ist nicht weniger Geld, als eine Milliarde, die jemand tatsächlich hat.


Viele Menschen mit Ti-Schwäche sind für Kreationismus anfällig und unterschätzen die wissenschaftliche Methode. Weil sie die Evolutionstheorie nicht verstehen können, glauben sie diese mit geringsten Einwänden widerlegt. Wissenschaft ist denkintensiv, (theistische) Religion ist ein geistiges Energiesparprogramm.


Eine Immunisierungsstrategie gegen die logische Widerlegung der theistischen Gottesvorstellung ist die Betonung des Glaubens: Gott kannst du eh nicht denken, außerdem ist sein Verstand deinem überlegen. Du kannst entweder glauben und Jesus als deinen Erlöser annehmen oder nicht glauben und dich damit freiwillig für die ewige Verdammnis entscheiden. Das ist ein Spiel mit der Furcht, emotionale Erpressung. Doch genau dahin soll es ja gehen: wer emotional getriggert wird, kann nicht mehr klar denken.



8. Die introvertierte Intuition als Transzendenzfunktion

Das Bedürfnis nach Transzendenz ist natürlich; Selbsttranszendenz ist die Spitze der Bedürfnispyramide. Die Sinnlichkeit steht für Immanenz, das Fühlen für Hier und Jetzt, das Denken für interesseloses Wohlbetrachten. Die extravertierte Intuition (Ne) ist ein nach allen Seiten offenes Mindset, die introvertierte Intuition (Ni) ist der Wille zur Transzendenz.


Ni ist die geheimnisvollste der kognitiven Funktionen, deshalb ist der Geist eines INTJ oder INFJ das Gegenteil von einem offenen Buch. Das Wirken der introvertierten Intuition in der Kulturgeschichte zeigt sich in den Idealen des Wahren, Schönen und Guten, die von Willensmenschen aufgestellt und von Künstlern personifiziert dargestellt werden. Polytheismus, Mystik, schamanische und dharmische Vorstellungen vom Universum resultieren aus dem mit dem Willen potenzierten Bedürfnis nach Transzendenz.


Der Wille fokussiert die vitale Energie auf bestimmte Ziele, die immer außerhalb des Selbst liegen. Sie können sich äußerlich oder innerlich außer Reichweite des Egos befinden. Ob Welteroberung oder Selbstverwirklichung, alle Willensakte werden durch Ni vollbracht.


Die Psyche ist kein Automat aus unterschiedlich angeordneten kognitiven Funktionen, der Mensch ist keine Maschine. Das Ich, das alle kognitiven Akte begleitet, ist kein "ich denke", es ist ein "ich will", ein Selbstinteresse, ein Fokus der interessierten, nicht bloß beobachtenden Aufmerksamkeit. Das transzendentale Ich zum bloßen Beobachter zu degradieren, ist ein in den dharmischen Religionen, der Stoa und der Philosophie Schopenhauers gewählter Weg, der nur angefangen, aber nicht gegangen werden kann, weil er durch die Ausschaltung des Willens auch den Willen zerstört, ihn zu vollenden.


Das Nirwana ist nur als Asymptote denkbar. Wer dort ankommt, ist nicht mehr. Aber wozu die jahrelangen Übungen in Leerheits-Achtsamkeit und Lebensverachtung? Es geht auch einfacher mit dem Empiriker Epikur: wenn wir sind, ist der Tod nicht; wenn der Tod ist, sind wir nicht. Wenn das Nichts das Ziel ist, liegt nichts näher als der Suizid.


Das Ich, das auf dem Weg zur Vollkommenheit nicht weggekürzt werden kann, ist der innere Gott. Er ist der Schöpfer und Erhalter des Bewusstseins, er ist in jedem Bewusstsein für ebendieses allmächtig, gut und allwissend. Und da er der Träger des Willens zur Selbsttranszendenz ist, ist er auch Liebe. Deshalb ist die Mystik der theistischen Religionen wertvolles Kulturgut und keine politische Herrschaftsideologie.


Gott ist im Innern des Bewusstseins und ein Gegenstand der Mystik. Gerade die sinnliche Welt, der Kosmos, wird nicht göttlich regiert, sondern ist ein Spielplatz des Chaos und der Kontingenz. Das empirische Ich ist nun ein Teil dieser kontingenten empirischen Welt, kann aber nur durch seinen inneren Gott seiner Selbst bewusst werden. Der innere Gott ist außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität. Er ist der mathematische Attraktor und das philosophische Ideal des Ich. Ich bin bedeutet: Gott ist, aber nicht der Gott der Theisten, sondern der Gott der Mystiker.



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Kommentare zu diesem Text


 Thal (13.01.22, 13:52)
Deine Vermutung ist richtig denk mal- nur ist die Verarbeitungskapazität unser Hirne je relativ begrenzt. 
Das Prinzip des Dharma muss ja aber irgendwann einmal erkannt worden sein und da denke ich kommen dann die unerklärlichen Phänomene dazu, die ja seit jeher immer wieder von Menschen wahrgenommen werden. Z.Bsp. in Träumen. 
Hast du schon mal von etwas geträumt, das diesem „Dharma“ entsprechen könnte?

 Terminator meinte dazu am 13.01.22 um 14:14:
Ich hatte Anfang Januar 2020 einen sehr klaren buddhistischen Traum. Ich war in einem buddhistischen Wellnesscenter und es spielte eine wunderschöne, unbeschreibliche tibetische Musik. Da gab es ein derart harmonisches und unfassbar schönes Lied, dass ich aus dem Traum aufstehen wollte, um es aufzuschreiben (zumindest im phonetischen Wortlaut, Tibetisch spreche ich ja nicht). Aber der Wille zum Aufwachen hat den Traum zerstört. Ich sah bildlich die Schleier der Realität vor mir, die ich einen nach dem anderen zerriss, um in den Wachzustand zu kommen. Einen Fetzen des Liedes schrieb ich im Wachzustand auf, wohl stark verzerrt. Aber die Harmonie war zerstört. Andererseits hätte ich den Traum vergessen, wäre er nicht durch den unbändigen Willen, die Information zu erhalten, luzide geworden.

 Thal antwortete darauf am 13.01.22 um 14:30:
Jaa.. so ähnlich fängt das bei mir auch jedesmal an bis ich selbst dann eine Art Rad drehe und mit unbeschreiblichen Bildern überflutet werde und mir die Kontrolle über das Rad abhanden geht. Könnt es dir noch genauer beschreiben wenn du möchtest. Morpheas  Gedicht „time laps“ beschreibt das ganz toll finde ich. Viele Grüße und staune einfach über dieses Wunder... ;)

Antwort geändert am 13.01.2022 um 14:31 Uhr
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