Hedlein

Text

von  blauefrau

Hedlein

Einmal, da kam sie. Sie wurde gebracht, von Verwandten. Sie saß im Wohnzimmer meiner Eltern und war fröhlich. Alle gaben sich fröhlich wie auch sonst, wenn Besuch kam. Da war „man“ einfach fröhlich und lustig. Sie saß auf dem Sofa. Hedlein, nimm dir doch noch Kuchen. Noch ein Kaffee, Hedlein? Und sie nahm noch Kaffee und vom Kuchen, und sie war fröhlich. Alle waren fröhlich, doch die Fröhlichkeit war fröhlicher als sonst.

Wer war das, fragte ich meine Mutter, als die Verwandten mit ihr das Haus verlassen hatten. Ich war froh, dass die Verwandten uns noch Kuchen übriggelassen hatten. Das war eure Tante Hedlein. Sie lebt in einem Heim, sagte meine Mutter.

Bilder stiegen in mir hoch:

Eine Frau, die im Nachthemd aus der „Hülle“ geflohen war und irgendwo auf der Landstraße aufgegriffen wurde.

Mein Vater mit seinem Bruder und seiner Schwester beim Schwimmen. Die Schwester schwamm nicht mit. Sie war anders als wir, bemerkte der Vater.

Ein Mädchen, das sich in den Ferien auf einem Bauernhof ihres Onkels aufhielt. Sie ist da vergewaltigt worden, glaubten wir später. Tatsächlich?, fragten die Cousinen später.

Ein Teenager, der das Bett nicht mehr verlassen hat und nicht mehr aufstehen wollte.

Eine Frau, die von ihrem Vater, meinem Großvater in die Psychiatrie eingewiesen und später wieder zurückgeholt wurde. Man wusste ja, wohin die Heimbewohner gebracht wurden. Der Großvater arbeitete in einer Suchtklinik für Alkoholkranke und wusste Bescheid.

Der Elefant im Raum, wenn der Vater zu Weihnachten und zu Ostern Kleidung und Geschenke mitnahm, um sie ihr zu bringen. Wochen vor- und nachher war er nicht mehr ansprechbar. Der hat halt ein Problem mit dem „Makel“ auf seiner Familie, sagten wir.

Die Tante, vorzeitig im Altersheim, die den Vater umarmte und nicht mehr loslassen wollte, wie der Bruder erzählte.

Der Tod der Tante, die meinem Vater von einem apfelgroßen Tumor sprach, der dann operiert wurde. Soweit hatte sie es kommen lassen. Apfelgroß. Nachbehandlungen lehnte sie ab.

Die Trauer über dieses Phantom, die sich in Grenzen hielt.

Das Phantom, das noch herumgeistert.

 



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Kommentare zu diesem Text


 Quoth (06.03.22, 10:00)
Hallo blauefrau, kann mir Hedlein lebhaft vorstellen, auch die Aura von Verschweigen und Scham, die sie umgab. Sie muss Jahrgang 1920 oder älter gewesen sein, wenn sie noch vor der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" in Sicherheit gebracht werden musste.
Der Vater, der sie in die Psychiatrie einwies (und aus ihr wieder herausholte), war der Vater der Erzählerin, aber der Bruder (einer der beiden Brüder) von Hedlein. Das musste ich mir klarmachen. Missbrauch in der Familie ... Schrecklich - und praktisch unrecherchierbar, weil bewusst verschwiegen oder verdrängt und verharmlost. Bedrückend. Guter Text. Quoth

Kommentar geändert am 06.03.2022 um 10:01 Uhr

 blauefrau meinte dazu am 09.04.22 um 08:40:
Hallo, Quoth, ich lese deinen Kommentar erst jetzt. Vielen Dank.

Kleine Korrektur zu deiner Ausführung:
Der Vater, der sie in die Psychiatrie einwies, war der Vater von Hedlein und der Großvater der Erzählerin. Der Vater der Erzählerin war einer der beiden Brüder von Hedlein.
Als sie älter wurde, hatte der Vater der Erzählerin die Vollmacht und hat sie, als es möglich war, von der Psychiatrie in ein Altersheim überweisen lassen. Dort lebte sie vollgedröhnt mit Psychopharmaka.
Ich hoffe, dass ich den Text jetzt entsprechend abändern konnte.  Sonnige Grüße blauefrau
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