Epochentypische Gedichte: Christian von Hofmannswaldau: Die Welt

Text zum Thema Vergänglichkeit

von  EkkehartMittelberg

Von Hofmannswaldau (1616-1679) gehört zu den bedeutendsten Dichtern des Barock. Er war prädestiniert über die Welt zu schreiben, da er sie in seinem Leben gründlich kennenlernte durch das Studium der Rechtswissenschaften, als Bürgermeister der Stadt Breslau, auf einer Bildungsreise mit dem Fürstensohn Frémonville, die ihn nach Amsterdam, England und Frankreich führte, wo er sich mit den namhaftesten Gelehrten seiner Zeit traf. Er bildete sich in den berühmtesten Städten Italiens weiter.

Nach seiner Wahl zum Ratsschöffen gehörte er dem Breslauer Rat bis zu seinem Tode 1679 an. Höhepunkt seiner Karriere war die Ernennung zum Kaiserlichen Rat in Wien durch Kaiser Leopold I.

Eines der bekanntesten Gedichte von Hofmannswaldau ist „Die Welt“, das ich in modernisierter Fassung vorstelle.


Die Welt

Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefassten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,
Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.                                                                                    Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!                                                                           Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfasst.

Das Original weist keine Strophen auf. Gleichwohl spreche ich in der Interpretation von Sinnabschnitten, die als innere Gliederung des Gedichts erkennbar sind: Vers 1 bis 4 (Abschnitt1), Vers 5 bis 8 (Abschnitt 2), Vers 9 bis 12 (Abschnitt 3) und Vers 13-16 (Abschnitt 4)


Der lebhafte fünfhebige Jambus unterstreicht die zuversichtliche abschließende Vision des Gedichts (Vers 15 und 16) trotz der Weltabgewandtheit der ersten drei Abschnitte. Die elfte Zeile "Komm, Seele, komm und lerne weiterschauen" betont mit Trochäen als Ausnahme unter den Jamben das Motto der Hinwendung zur Ewigkeit. Den Sinnabschnitten des Textes entspricht jeweils ein Kreuzreim: abab, cdcd etc. Mit den Kreuzreimen korrespondieren abwechselnd weibliche und männliche Kadenzen. Die geordnete regelmäßige Form zeigt den Lesern, dass der religiöse Mensch in der Lage ist, das "faule Grab" der Welt (Vers 8) zugunsten von "Ewigkeit und Schönheit"(Vers 16) zu verlassen.


Im ersten Sinnabschnitt (Vers1-4) erscheint die Welt als "schnöder Schein", dessen Kurzlebigkeit durch den schnellen"Blitz bei schwarzgewölkter Nacht" erhellt wird. Der zweite Abschnitt (Vers 5-8) untermalt mit schrecklichen Metaphern die Hinfälligkeit der Welt zum Tode. Die Verse 9-12 fordern die Seele auf, sich von dem Abgott Welt abzuwenden und über die engen Grenzen der Welt, die ein Zirkel beschreiben kann, hinauszuschauen. Am Ende werden in den Versen 13-16 in einem Wortspiel das Prangen und die Lust der Welt für eine schwere Last erklärt und als Versprechen die Vision eines Hafens aufgezeigt, in dem Ewigkeit und Schönheit sich umfangen.


Es gibt keine anerkannte Lyrik-Anthologie, die nicht "Die Welt" aufgenommen hätte. Was macht diese geistliche Lyrik bemerkenswert? Nicht jeder wird ihrer Rhetorik erliegen. Aber auch der kritische Leser wird zugestehen, dass die Festigkeit des Glaubens dem weltgewandten Poeten Hofmannswaldau große Sicherheit verliehen hat, wirkungsvolle Rhetorik zu erfinden und keinen Zweifel daran zu lassen, dass er selbst an den Port von Ewigkeit und Schönheit glaubt.





Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 FrankReich (19.01.22, 03:35)
Hi Ekki,

das handwerkliche Geschick Hoffmannswaldaus ist auch in diesem Gedicht zwar unbestritten, vom Inhalt her und stilistisch sehe ich es allerdings eher als Fingerübung zu der im Barock üblichen "Memento Mori" und "Vanitas"-Thematik, die weltliches und vergeistigtes (Schönheit und Ewigkeit) zu kombinieren sucht, wahrscheinlich schon in den 1640er Jahren entstanden, da es dem Prinzip des Danziger Gelegenheitsdichters Johannes Plavius recht nahe kommt; obwohl Hoffmannswaldau dessen Stilmittel der Klangmalerei nur vereinzelt verwendet (bspw. Lust/Last), spart er nicht an Gegensatzpaaren (schön Spital, Fleisch/Seele, schwer/leicht, usw.) und sonstigen Stilmitteln aus Plavius Versschmiede (z. B. faules Grab) oder dessen Forderungsmentalität (Komm, Seele, komm/Streich ab) aus dem Sonettzyklus, im Vergleich zu Arbeiten anderer Dichter des Barock durchaus bemerkenswert, an die Ode "So soll der Purpur Deiner Lippen" und das Doppelsonett "Gedanken über die Eitelkeit" reicht es jedoch bei weitem nicht heran, weil es dazu zu unpersönlich daher kommt, bzw. einen direkten Bezug auf Hoffmannswaldaus Umfeld vermissen lässt, halt ein typisches, im Vers Commun verfasstes Lehrgedicht.
Deine Bemerkung über den Trochäus in Vers 11 kann ich übrigens nicht zustimmen, das Verb "Komm" wird in diesem Vers einfach nur unterschiedlich betont, um den Akzent auf der zweiten Silbe zu gewährleisten.
Zu Deinem Abschlusssatz möchte ich noch hinzufügen, dass Hoffmannswaldau zwar ein fester Glaube zu eigen war, er den unterschiedlichen christlichen Strömungen jedoch stets tolerant gegenübertrat. Im Übrigen hat er es außerordentlich bedauert, von seinem Vater vor der Abreise in die Türkei nach Breslau zurückgerufen worden zu sein, der Einblick in den muslimischen Glauben vor Ort hätte ihn wahrscheinlich noch zusätzlich bereichert.
Letztendlich aber freue ich mich, dass Du einem Gedicht der für mich bedeutendsten Dichterpersönlichkeit des Barock Deine Aufmerksamkeit geschenkt hast.

Ciao, Frank

 Teichhüpfer meinte dazu am 19.01.22 um 05:08:
Moin, damit kann ich auch etwas anfangen.

 AchterZwerg antwortete darauf am 19.01.22 um 08:05:
Ein gnadenlos guter Kommentar, dem ich mich inhaltlich gern anschließen möchte.

Respekt!

 Willibald schrieb daraufhin am 19.01.22 um 10:38:
Das Innovationskriterium als Qualitätskriterium (Vanitasmotiv, carpe diem, contemptus mundi) scheint mir nicht recht zu greifen. Mit dem gleichen Argument könnte man sagen: O, schon wieder ein Liebesgedicht.

Mikrostrukturell gefällt sehr: "wo Kummerdisteln grünen".

Die Komm-Zeile weist am Anfang einen Hebungsprall oder eine spondeusnahe Passage auf, insofern liegt hier ein Sinnakzent und Rezeptionssteuerung vor,

Plavius gefällt mir hier sehr:


 
 Hüte dich vor  unnötiger traurigkeit (1639):
 
O weh dem/ welcher ist mit traurigkeit geplaget!
    Er schläfet ohne schlaf/ er ruhet ohne ruh/
    Er wachet mit verdruß/ und eilt dem grabe zu/
Er frisst sich selbst/ und weiss doch oft nicht/ was jhn naget.
 
O wol dem/ der in Gott nach freud' und wonne jaget!
    Er lebt in höchster lust/ jhm ist vor gar nichts bang'/
    Im spinnet Lachesis  (1) den Faden noch so lang.
Er ist an Gott vergnügt/ auf den er alles waget.
  
 Drumb fass' ein frölich hertz'/ vnnd sey gar  frischen muthes/
    Treib' angst und trauren auß/ und thu dir selber gutes/
Freud' ist des hertzens hertz' und bringet  es zur ruh.
   
Was ist Melancholey? Ein brunnenquell des zweifels
    An Gottes gütigkeit: ein bett' und bad des teufels.
Sie stürtzt viel leut' in's grab und dient doch nirgends zu.
 
(1)    Schicksalsgöttin, spinnt den
Lebensfaden und schneidet ihn ab.


greetse
ww

 FrankReich äußerte darauf am 19.01.22 um 14:57:
So ist es, barocke Liebesgedichte sind größtenteils ebenfalls Einheitsbrei, wobei es da auch zwei oder drei abschreckende Beispiele von Hoffmannswaldau gibt, sogar von Plavius vermutet bspw. Andreas Dühning, dass er über Schablonen verfügte, Szyrocki erwähnt allgemein Reim- und Stilmittelkataloge und wie ich schon bemerkte, "Die Welt" hebt sich etwas davon ab, besitzt aber leider weder intertextuelle Bezüge wie "Gedanken über die Eitelkeit" oder persönliche Inhalte wie "Soll denn der Purpur Deiner Lippen".
"Kummerdisteln grünen" gefällt mir ebenfalls, der Hebungsprall lässt sich, die erste Silbe als Auftakt gelesen, entschärfen, kontrastiert damit zur Wiederholung und das Sonett ist Bestandteil des Zyklus von 1630.

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 19.01.22 um 15:37:
@Raff Renkking:: Ich freue mich, dass du als Kenner barocker Lyrik meiner Interpretation so viel Aufmerksamkeit widmest. Zu dem mir wenig bekannten Plavius bin ich auf deine Information angewiesen.
Man muss freilich vorsichtig sein, wenn man die im Barock verwendeten Stilmittel unter dem Gesichtspunkt der Originalität betrachtet, zu dem sich erst der Sturm und Drang bewusst entschied. Im Barock galt immer noch das aus der Antike überkommene Stilideal der imitatio, bei dem es auf die gefällige Variation bekannter rhetorischer Mittel ankam.. Die Metapher Purpur der Lippen oder Korallenlippen war zum Beispiel in der Barocklyrik gängige Münze. So gesehen ist "Die Welt" auch mit ihren Entlehnungen epochentypisch.
Dass man den 11.Vers auch als Trochäus lesen kann, ist wohl unbestritten. Er ist deshalb in meinen Augen kein Qualitätsbruch.

 AZU20 meinte dazu am 19.01.22 um 15:38:
Da kann ich mich nur zurücklehnen und die Ausführungen unserer Barockfachleute auf mich wirken lassen. Vielen Dank dafür. LG

 diestelzie meinte dazu am 19.01.22 um 16:21:
Ich schließe mich AZU einfach mal an. Es ist so schön zu lesen. Das gilt für Text und Kommentare gleichermaßen.

Liebe Grüße
Kerstin

 FrankReich meinte dazu am 19.01.22 um 16:43:
@Ekki
Das ist durchaus korrekt, es handelte sich dabei um die Aemulatio, also schneller, höher und weiter bzgl. der Vorgabe und auch hinsichtlich des epochentypischen Erscheinungsbildes von "Die Welt" gebe ich Dir recht, vom Formalen her habe ich auch nichts auszusetzen, nur daran, wie die Thematik abgehandelt wird, das halte ich für schablonenhaft.
Wie Du die 11. Zeile trochäisch vorzutragen gedenkst, erschließt sich mir allerdings nicht, Du müsstest dazu "Seele" wie "Gelee" betonen und "lerne" wie "Herrje", auch "weiter schauen" müsste jeweils auf der 2. Silbe betont werden, das funkioniert allein von der Intonation her schon nicht, als Qualitätsbruch sehe ich den Vers sowieso nicht, da stimme ich Dir zu, bleibe aber bei der Überzeugung, dass er sich nur im Jambus lesen lässt.

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 17:41:
@ AZU20 und diestelzie: Danke, Ihr habt noch einen Dritten im Bunde: Auch ich genieße, Ralfs Kenntnisse barocker Lyrik.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 17:44:
@Ralf_Renkking: Ehe ich mich mit Gelee bekleckere, stimme ich dir lieber zu, also Trochäus ade

 FrankReich meinte dazu am 20.01.22 um 08:14:
@Willibald
Fluch und Segen zugleich ist die Austauschbarkeit einzelner Halbzeilen und sogar ganzer Strophen in der barocken Dichtung, im von Dir angeführten Sonett funktioniert das z. B. bei den Terzetten, in Gryphius "Threnen des Vaterlandes" sind es mehrere Halbverse, zumindest Plavius unterstelle ich, sich dessen in diesem Fall nicht bewusst gewesen zu sein, da er andernfalls die Reihenfolge der Terzette zum Zweck der positiven Pointierung geändert hätte, zum Zweck des Rahmenabschlusses hätten sich auch die beiden Quartette noch vertauschen lassen.

Ciao, Frank

Antwort geändert am 20.01.2022 um 08:23 Uhr

 Willibald meinte dazu am 20.01.22 um 11:38:
@Frank

Die Zeile Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
 
kann mit einem Hebungsprall/spondeusnaher Betonung gelesen werden, insofern dann "Komm" einen Nebenakzent erhält. Und dass ab dieser Zeile Der Gedankenduktus eine "neue" Richtung erhält, ist durchaus bei Ekki richtig beobachtet...

Zum Plavius-Sonett:

Die gewisse Austauschbarkeit in lyrischen Strophen ist kein besonders belastbares Qualitätskriterium, das gilt auch dann, wenn man vom Sonett eine dialektische Argumentationsstruktur oder ähnliches fordern mag. 

Und das gilt auch für den Rekurs auf Traditionen. Im Rekurs wird allenfalls deutlich, dass Traditionen durchaus komplexe Gedankengänge zulassen.
Plavius, der hier der "contemptus mundi" eine geschickte Absage erteilt, lässt sich etwa in diesen Traditionsstrang einordnen:


1. ‹Vanitas mundi.› ist kein spezifisch biblischer Begriff, er kommt außer im Alten Orient und in Ägypten auch in verschiedenen Literaturgattungen Griechenlands vor [1]. So urteilt der Kyniker MONIMOS: «Was als existierend angenommen wird, ist alles Dunst» [2]. Von den biblischen Belegen für ‹v.m.› ist der wichtigste: «Alles ist Windhauch» (Koh. 1, 2). In den griechischen und lateinischen Übersetzungen wird das hebräische ‹hæbæl› durch Wortbildungen aus dem Stamm von μάταιος bzw. ‹vanus› wiedergegeben [3]. Dabei verstand man, spätestens seit der Übersetzung ins Griechische, das ‘allesʼ (τὰ πάντα) im Sinne der griechischen Philosophie als die Gesamtheit der Seienden. Neuerdings wird dieses kosmologisch-universale Verständnis in Frage gestellt und das hebräische ‹hakkol› nur auf die menschlichen Wirklichkeiten,also nicht auf Gott, Weltall und Natur, bezogen [4]. Auch Röm. 8, 20, der wichtigste neutestamentliche Beleg, hat weniger die Schöpfung, den Kosmos, im Blick, sondern den derzeitigen Zustand der Gläubigen und ihre Befreiung daraus am Ende der Zeit [5].
    2. Die Kirchenväter entfalten die biblische „vanitas mundi“  in zwei Richtungen; sie relativieren sie gegenüber der Gnosis und dem Manichäismus und betonen den Sinn und die gute Ordnung der Schöpfung. Andererseits radikalisieren sie die v.m., indem sie die Sünde als ihre eigentliche Ursache benennen. Dem ersten Anliegen entspricht die Vermeidung einer kosmologisch-universalen Auslegung der einschlägigen Bibelstellen. So nennt HIERONYMUS zwar als Ziel des Kohelet den «contemptus mundi», schwächt diese Aussage aber sofort durch die Erklärung ab, die Welt sei nicht an und für sich nichtig, sondern nur im Vergleich mit Gott [6]. PROKOP VON GAZA hält es sogar für «blasphemisch», unter dem ‘allesʼ von Koh. 1, 2 «den Himmel, die Erde, das Meer und diesen Kosmos» zu verstehen; denn «die Werke Gottes können nicht nichtig, sondern nur zuverlässig sein» [7].
 
3. Für platonisierende Kirchenväter sind die sichtbaren Dinge nichtig, und zwar im Vergleich zu den höheren, unsichtbaren. «Wenn Kohelet also über die sichtbaren Schöpfungen, die Ausstattung des Kosmos spricht, so nennt er sie ‘Nichtigkeit der Nichtigkeitenʼ im Vergleich zur geistigen Wesenheit, zu Gott, zu den ‘Engelnʼ, den ‘Herrschaftenʼ, den ‘Gewaltenʼ ... Im Vergleich zu diesen geistigen und ‘unsichtbarenʼ Schöpfungen ist die sichtbare Schöpfung Gottes unbedeutend. An und für sich aber ist sie großartig» [8].
 
Nichtig ist in der Sicht der Kirchenväter vor allem das menschliche Leben selber, und zwar gerade in seiner Zeitlichkeit. «In der Tat, unsere Tage sind wie ein Schatten. Ich war ein kleines Kind, ein Knabe, ein Jüngling, ein junger Mann, ein Mann, d.h. im vollkommenen Alter, in der Mitte der Jahre. Ohne es zu merken, bin ich ein Greis geworden. Auf das Greisenalter folgt plötzlich der Tod. Jeden Tag verändere ich mich, und ich merke nicht, daß ich nichts bin», kommentiert ORIGENES (HIERONYMUS) Ps. 143, 4 [9]. «Es geht auf Erden zu wie bei spielenden Kindern. Wer heute noch Richter ist, ist morgen schon ein Gerichteter. Wer hochfahrend das Szepter schwingt, wird oft vom Scharfrichter abgeführt. Der Reiche gerät in Armut. Ein Unbekannter wird wider alle Erwartung zum Allherrscher», lautet eine Beschreibung des menschlichen Loses [10].
 
4. Nicht also die Schöpfung selber ist nichtig, sondern die «Werke der Menschen sind es, die sein Leben ausmachen: seine Geschäfte, sein Handel, sein Besitz, seine Stellung, sein Reichtum, sein Luxus» [11]. Als Ursache der Nichtigkeit der menschlichen Existenz nennt vor allem AUGUSTINUS die Sünde. Zur Kennzeichnung einer Existenz, die aus freier Entscheidung sündigt, dient ihm besonders der Terminus ‹vanitas›. Die vom Menschen erfahrene Nichtigkeit ist eine den Leib und die Seele zugleich treffende Strafe. Zur Unsterblichkeit geschaffen, findet sich der Mensch jetzt gespalten in einer Welt vor, die vergeht und sich ständig verändert [12]. Selbst der Gerechte bleibt, trotz allen Mühens, in diese nichtige Welt eingeschlossen. Erst die Befreiung aus dem irdischen Leib beendet diese Nichtigkeit [13]. Einzig Christus, die «veritas», überwindet die «vanitas» [14].
Kohelet, so Augustinus, beschreibt diese Welt aus keinem anderen Grund als nichtig, als um unsere Sehnsucht nach der Welt ohne Nichtigkeit zu wecken [15].
[Historisches Wörterbuch der Philosophie: Vanitas mundi. HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie,
 (vgl. HWPh Bd. 11, S. 542-545)]



Antwort geändert am 20.01.2022 um 11:46 Uhr

 FrankReich meinte dazu am 20.01.22 um 13:21:
Okay, der Hebungsprall ändert aber nichts am Metrum Jambus und den Richtungswechsel bzgl. der Gedankenführung habe ich nie bestritten und was Plavius Sonett angeht, wäre mir mit einem Ja oder Nein samt Begründung mehr geholfen. 😂

Ciao, Frank

 Willibald meinte dazu am 20.01.22 um 13:31:
Die Imperative ab der 11. Zeile tragen Nebenakzente, das ist wohl die Grundlage von Ekkis Formulierung "trochäisch", die lässt sich nicht halten.

Im Plavius-Sonett findet sich eine Vertiefung der Gedankenführung, die gewisse Beliebigkeit und Austauschbarkeit sehe ich (noch) nicht. :( ;)

 FrankReich meinte dazu am 20.01.22 um 15:12:
Ah ja, nämlich weil der Trochäus ein Versmaß ist, das mit einer betonten Silbe beginnt, wie z. B. beim Imperativ "lerne", zum besseren Verständnis sollte dann wenigstens von betonter oder unbetonter Silbe bzgl. der restlichen Imperative gesprochen werden, insofern empfinde ich Ekkis Formulierung trotz Erläuterung immer noch als unglücklich wie Du ja offenbar auch, den Zusammenhang zwischen Betonung und Änderung der Gedankenführung erachte ich als Zufall, denn wie gesagt, der Hebungsprall zwischen 1. und 2. Silbe lässt sich entschärfen, denn eine gleich starke Betonung, bzw. ein sondäische Entsprechung findet sich bzgl. der Silbenwägung im Deutschen eh nur beim Wechsel zwischen Amphimacern oder identischen Silben, somit spreche zumindest ich die erste Silbe des 11. Verses als Auftakt.
Bzgl. Plavius erkenne ich keine Vertiefung in der Gedankenführung, sondern zwei parallel laufende Gedankengänge, i. e., die Quintessenz des 1. Quartetts findet sich im 2. Terzett, die des zweiten Quartetts aber schon im ersten Terzett, bei Vertauschung der Terzette wäre folglich nicht nur die Kompositionsfigur schlüssiger, sondern auch die positive Pointe ans Ende gesetzt.

Ciao, Frank

 FrankReich meinte dazu am 20.01.22 um 15:21:
P. S.: sondäisch = spondäisch

 Willibald meinte dazu am 20.01.22 um 17:39:
jou, kann man so sehen, hier die andere Sichtweise:

a)  1. Quartett und 2. Terzett korrespondieren miteinander: Traurgikeit und Melancholie.
b) Das zweite Terzett ist insofern was Besonderes,, als es eine theologische Volte schlägt:  Wer die Welt verachte, der sei - gewollt oder ungewollt - ein Teufelsdiener, insofern er sich dem "Zweifel" hingebe und damit das Bild des "guten Gottes und seiner Schöpfung" unterminiere. Das ist recht kühn, hier indirekt die Sünde ins Spiel zu bringen und den Teufel.
c) In der philosophischen Abhandlung weiter oben, die gar nicht so nebenher kömmt, ist ein Theologe Kronzeuge für b):

PROKOP VON GAZA hält es sogar für «blasphemisch», unter dem ‘allesʼ von Koh. 1, 2 «den Himmel, die Erde, das Meer und diesen Kosmos» zu verstehen; denn «die Werke Gottes können nicht nichtig, sondern nur zuverlässig sein»

 FrankReich meinte dazu am 20.01.22 um 18:41:
zu a) Die Korrespondenz wäre auch bei Austausch der Sonettteile gewährleistet, zweites Quartett und erstes Terzett stehen zudem in gleicher Beziehung, es wäre beim Austausch jedoch stringenter.

zu b) Wenn Du Traurigkeit/Melancholie mit Verachtung der Welt gleichsetzt, widerspreche ich Dir, da dieses der Text nicht hergibt, hier gilt der Dreisatz: Unglaube = Zweifel = Melancholie, oder: Glaube = Sicherheit = Freude, ein durchaus zeitgemäßes Weltbild also.

Ciao, Frank

 Willibald meinte dazu am 21.01.22 um 04:47:
Nun ja
Rahmenbildung durch Setzung des Traurigkeitslexems in erster und letzter Strophe

Aufbau eines Frames, in dem Weltverzicht, Weltabsage, Absage an Weltgenuss, Trauer und Melacholie als Weltverachtung und Missachtung der Gottesschöpfung und Einflüsterung des Teufels und als Sünde klassifiziert werden. Als Absage an - um mit Brockes zu sprechen - das irdische Vergnügen iin Gott. Trauer und Jammer und Antihedonismus  erhalten so neben  Lebensdiätik im 2. Quartett auch noch  eine Einbettung im theologischen Frame der Sünde.

Antwort geändert am 21.01.2022 um 04:49 Uhr

 Teichhüpfer meinte dazu am 21.01.22 um 05:44:
Das war anders, Ecki. In der Geschichte, ist das sexuelle Verhalten von unglaublicher Gewalt und Menschen verachtend. Dieses Problem wurde so unter den Teppich gekehrt.

 FrankReich meinte dazu am 21.01.22 um 10:44:
@Willibald
Deine Erläuterungen ändern jedoch nichts an der Möglichkeit, die positive Botschaft, was bei einem Lehrgedicht durchaus üblich ist, ans Ende zu stellen, zwecks Rahmenbildung ließen sich die beiden Quartette auch noch tauschen, wirklich kühn wäre es z. B.  gewesen, das letzte Terzett unter das erste Quartett zu setzen und die Frage als Feststellung zu gestalten. 
Vielleicht hast Du recht und Plavius hat diese Möglichkeiten bewusst ausgeschlossen, vielleicht sogar, weil er einen positiven Schluss zu vermeiden suchte, eigentlich aber widerspricht diese Vorgehensweise der Lehrdichtung, was mich ebenso irritieren sollte wie die Einbindung der Schicksalsgöttin Lachesis (es scheint mir übrigens das einzige Mal zu sein, dass Plavius in seinem Sonettzyklus auf die griechische Mythologie zugreift) in einem ansonsten durch und durch christlich zeitgemäßen Bezug. 
Gerne bin ich bereit, auf Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus lektorische Übersicht zu vertrauen, bei Johannes Plavius überkommen mich in der Hinsicht jedoch Zweifel, besonders bei dem Gedanken daran, dass seine Lehrsonette vor der Verlegung quasi aus dem Boden gestampft worden sein dürften, seine Gelegenheitsdichtung wird er auf den Druck wahrscheinlich um Längen besser vorbereitet haben können.
Im Übrigen vertrete ich bzgl. der Lehrsonette die Theorie, dass es Plavius gar nicht so sehr auf die Stilistik oder die Erbauung der Danziger Jugend ankam, sondern er im Sinn hatte, die darin vertretenen weltlichen und religiösen Ansichten als Multiplikation der zehn Gebote zu präsentieren, zumindest lässt das die vorangestellte Widmung auf die Danziger Ratsmitglieder vermuten.

Ciao, Frank

 Willibald meinte dazu am 21.01.22 um 12:11:
Wie schon gesagt: Ich finds ziemlich erfrischend, die Melancholie als Sünde und verachtende Haltung/Verkennung von Gottes Gütigkeit zu framen und das an den Schluss zu stellen. Teufelswerk.

(es scheint mir übrigens das einzige Mal zu sein, dass Plavius in seinem Sonettzyklus auf die griechische Mythologie zugreift)

Und dem Aurnhammer auch.
greetse

Antwort geändert am 21.01.2022 um 13:38 Uhr

 FrankReich meinte dazu am 21.01.22 um 13:40:
Das sei Dir unbenommen, allerdings behaupte ich dann einfach mal erfrischenderweise, dass es sich bei der Lachesis um eines der üblichen Wortspiele Plavius handelt, getreu dem Motto:

Nebst Freude, Wonne, Lust
bremst Lache(n)s (L)is(t) den Frust. 



Ciao, Frank

 FrankReich meinte dazu am 21.01.22 um 13:57:
P. S.: Achim Aurnhammer sollte es wissen, im Gegensatz zu mir haben er und sein Eleve Martin Andreas Dühning ausgiebig Zeit in Plavius Projekt investiert, ich bin allerdings der Meinung, dass die beiden es zu akademisch angegangen sind. 👋😉

 GastIltis (19.01.22, 12:59)
Lieber Ekki,
als ahnungsfreier poetischer Heide (und damit Vertreter der Spreu), als der ich mich ja nun hier schon mehrfach geoutet habe, ziehe ich natürlich die hohe Kunst des Dichters in Fragen Schönheit mit dem Gedicht „Vergänglichkeit der Schönheit“ vor, was ich hier gleich einsetze, denn „Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigall“. Insofern kann ich deinen Mühen wenig hinzufügen bzw. entgegenhalten, zumal sich bei den Kommentatoren schon das Korn gezeigt hat.
Herzlich grüßt dich mit Hoffmannswaldau Gil:

Vergänglichkeit der Schönheit

Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand
Dir endlich mit der zeit um deine brüste streichen,
Der liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand.

Der augen süsser blitz, die kräffte deiner hand,
Für welchen solches fällt, die werden zeitlich weichen,
Das haar, das itzund kan des goldes glantz erreichen,
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band.

Der wohlgesetzte fuß, die lieblichen gebärden,
Die werden theils zu staub, theils nichts und nichtig werden,
Denn opffert keiner mehr der gottheit deiner pracht.

Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen,
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen,
Dieweil es die natur aus diamant gemacht.


Kommentar geändert am 19.01.2022 um 13:00 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 17:58:
Mit viel Sinn für Anmut hast du "Vergänglichkeit der S chönheit" ausgewählt, lieber Gil. Welch herrliche Ironie beschert uns dieses Sonett im zweiten Terzett:
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen,
Dieweil es die natur aus diamant gemacht."

"Als Vertreter der Spreu" erinnerst du mich  oft an Phönix, der aus der Asche steigt.

 Graeculus (19.01.22, 13:17)
Es ist ein gutes Vorhaben von Dir, uns klassische Gedichte nahezubringen - vor allem solche wie das vorliegende, die dem modernen Empfinden zwar fremd sein mögen, die aber doch etwas Zeitloses an sich haben, nämlich das Ungenügen an der Welt, wie sie ist.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 17:32:
@Willibald: Merci, das sehe ich auch so. Das Innovationskriterium ist auf die imitationsschwangere Barocklyrik nur bedingt anwendbar.
"Sinnakzent und Rezeptionssteurung" befreit mich aus der Verlegenheit,, zu der Komm-Zeile etwas Gescheiteres zu sagen.
Im Barock, wo das Schicksal so rasch wechselte, war es von Plavius allein schon inhaltlich eine geistige Leistung vor unnötiger Traurigkeit zu warnen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 18:08:
Danke, Gaeculus, ich werde versuchen, die Interpretationen epochetypischer Gedichte noch ein wenig fortzusetzen, obwohl die Arbeit sehr zeitintensiv ist. Aber sie lohnt sich, weil es zu jedem Gedicht Experten geben wird, von denen man lernen kann.

 Teichhüpfer meinte dazu am 20.01.22 um 07:29:
Weißt Du, was das Problem da ist? Durch sein zeitgemäßes Tabu ist die Eintönigkeit erkennbar.
wa Bash (47)
(19.01.22, 17:20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 19:11:
Gracias, wa Bsh, das Loblied auf die schönen Brüste würde ich der Rokoko-Lyrik, also der Anakreontik, als dem Barock zuordnen.
wa Bash (47) meinte dazu am 19.01.22 um 19:28:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 harzgebirgler (19.01.22, 17:33)
es spiegelt das barockene gedicht
von hofmannswaldau wider eine sicht
die typisch ist für christen von der welt
weshalb mir deine deutung sehr gefällt.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.01.22 um 19:16:
Vielen Dank, Henning, ja, die barocke Sicht der Welt ist meines Wissens weitgehend christlich.

LG
Ekki

 TassoTuwas (20.01.22, 09:47)
Hallo Ekki,
da waren wir wohl zeitgleich im Barock unterwegs.
Erstaunlich wie aktuell diese Gedichte noch heute sind, und es wohl immer bleiben werden!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.22 um 11:01:
Merci, Tasso. Zur bleibenden Aktualität: In modernen Massenmedien sind Katastrophennachrichten allgegenwärtig..Damit korrespondiert das im Barock vorherrschende Vergänglichkeits- und Todesmotiv.
Herzliche Grüße
Ekki

 Teichhüpfer meinte dazu am 20.01.22 um 13:17:
Yeti oder Ötzi, er könnte es sein, oder?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.22 um 23:54:
Hast dich mit dem Kommentar ein bisschen verirrt, nä?

 FrankReich meinte dazu am 21.01.22 um 17:11:
Ich könnte ja drauf schwören, dass der sich auf Tassos Avatar bezieht.
👋😂

Ciao, Frank

 TassoTuwas meinte dazu am 21.01.22 um 18:37:
Hallo !

 Saira (20.01.22, 18:12)
Lieber Ekki,

ich staune, lerne und bin beeindruckt!

Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 20.01.22 um 23:57:
Grazie, freut mich, dass es dir gefällt, Sigi.
Herzliche Grüße
Ekki

 Teichhüpfer meinte dazu am 21.01.22 um 13:03:
Das stimmt nicht, Ekki, das waren die Perversesten.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram