Ohne Back-Up leben?

Erzählung zum Thema Familie

von  eiskimo

Carsten grämt sich. Er grämt sich ganz heftig: Seine externe Festplatte hat den Geist aufgegeben. Ohne Vorwarnung. Und das nach nur sechs Jahren. Trotz sachgerechter Bedienung, obwohl  immer im Trockenen aufbewahrt, obwohl nie im Dauereinsatz oder jemals runtergefallen ….

Keinen Mucks tut der Datenträger mehr, und auch Carstens Computer-affine Freunde haben die auf einem Terabyte gespeicherten Schätze dort nicht wieder zu neuem Leben erwecken können.

„Alle meine Fotos waren da drauf,“ jammert Carsten. „Meine Reisen, die Feiern im Handballverein, die Mannschafts- und Turnierfotos, die ganzen vertonten Dia-Shows, auch etliche Dossiers und Dokumente aus dem Büro…“

Untröstlich, der Carsten. „Für immer weg! Unwiederbringlich!“ höre ich ihn ein ums andere Mal ausrufen. „Hätte ich doch noch ein zweites Back-Up gemacht!“  Und er schaut drein, als habe man ihm ein Stück seiner selbst geraubt.

So ganz mag ich Carstens Leid nicht teilen. Ich nehme meine Fotos nämlich nicht so wichtig. Es sind bloß  Notizen. Sie helfen mir, mich an die eine oder andere Begegnung zu erinnern. Ganz nett, aber nicht zentral.

Die tote Festplatte hat mich aber in ganz anderer Form betroffen gemacht. Ich frage mich seitdem, wie die wirklich wichtigen Dinge bei mir, in meinem Leben,  gesichert sind. Wie speichere ich ab, was ich an tieferen Erfahrungen mache? Habe ich ein Back-Up für meine Freundschaften, für die von mir gemachten Versprechen oder Hoffnungen? Pflege ich noch die Erinnerungen an Eltern oder Begleiter, die mich einmal entscheidend voran gebracht haben?  Was davon könnte ich spontan herunterladen und als Vorlage weiterreichen?

Die alten Familienfotos auf dem Schrank machen mir es noch einmal bewusst: Ich kenne nicht einmal mehr die Namen der dort abgelichteten Verwandten.  War es eine Hochzeit, ein Begräbnis und wenn ja, von wem?  

Wie viele Festpatten hätte ich füllen können mit den Erzählungen meiner Eltern, mit neugierigen Fragen an die Großeltern oder die alten Tanten und Onkel, mit Details aus der Familienchronik. Alle diese Festplatten, die ich leider nie beschrieben habe, waren also schon von vorn herein perdü.

Carsten wird über seine verlorene eine Terabyte hinwegkommen. Er kann noch kompensieren. Mich trifft der Verlust letztlich viel härter. Ich habe diese Art Speicher schon viel zu lange abgeschaltet.

 



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Kommentare zu diesem Text

percaperca (39)
(23.01.22, 18:18)
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 eiskimo meinte dazu am 23.01.22 um 18:39:
Danke für diese "geschichtliche Vergrößerung"  meiner Erzählung. Man kommt so ganz anders an das Thema "Erinnerung" heran.
Ja, Cyberworld macht es einem scheinbar einfach, aber das Herz, sage ich mal etwas pathetisch, ist vielleicht der bessere Speicher, zumindest für die privaten Dateien.
LG
Eiskimo

 AchterZwerg (23.01.22, 18:20)
Dein Text wirft viele Fragen auf:
Wo werden tote Festplatten eigentlich  beerdigt? Ist eine Baumbestattung möglich?
Verenden sie im Kreise ihrer Lieben oder klammheimlich?

Haben Carsten und du denn keine Reise-Dias mehr? Die waren ja seinerzeit sehr beliebt!

 eiskimo antwortete darauf am 23.01.22 um 18:44:
Gute Fragen!
Wem gehören eigentlich die Festplatten? Sind die Passwörter geschützt.. auch nach meinem Tod?
Reise-Dias haben wir natürlich, ziemlich genau bis ins Jahr 2005. Ab da kam der digitale "Segen". Mit all seinen Tücken. Gingen wir vorher fotografisch "à la carte" essen, gab es ab dann "fast food".
A la carte-Fotos sind leckerer; leider halten auch sie nicht ewig. Vieles verbleicht.

kulinarische Grüße
Eiskimo

 Graeculus (23.01.22, 18:33)
Ein Tagebuchschreiber - die alte Art der Festplatte - bist Du offenbar nicht.
Es gibt wohl eine grundsätzliche (und unterschiedliche) Einstellung zur Bewahrung von Erinnerungen.

 eiskimo schrieb daraufhin am 23.01.22 um 18:48:
Ich war lange Zeit ein Tagebuch-Schreiber - besitze ein halbes Regal voll. Oft gelesen habe ich in diesen Schätzen allerdings nicht.  Wobei es mir sehr geholfen hat: Bestimmte Erlebnisse zu datieren. Da schwimme ich, wenn ich nur "blind" das Gedächtnis in Anspruch nehme.

 Graeculus äußerte darauf am 23.01.22 um 23:04:
Dieses Phänomen geht bei mir sogar über die Datierungen hinaus, nämlich so, daß ich große Unterschiede zwischen den Ereignissen und meiner späteren Erinnerung feststelle. Beunruhigend, was das Vertrauen in die Erinnerung angeht.

 eiskimo ergänzte dazu am 23.01.22 um 23:47:
Dem kann ich nur zustimmen. Erschreckend, wie man sich da auch selber in die Tasche lügt...
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