Verfolgung (1)

Text zum Thema Identität

von  blauefrau

Ich wusste am 31.01.22 mittags, dass etwas nicht stimmte. Mir wurde klar, dass ich mir selbst durch die Lappen gegangen war. Ich suchte entlang Gebäuden und suchte auf Wegen nach mir und fand mich nicht. Ich schritt noch einmal den Weg am Neckar ab, den ich regelmäßig zur Arbeit einschlug, seit sechs Monaten, kein Ich in Sicht, und bog dann Richtung Bahnhof ab. Ich schaute bei der Bahnhofsbäckerei vorbei: keine lange Gestalt, die eine Brezel entgegennahm oder einen überteuerten Becher Kaffee, keine fahrigen Bewegungen, die mich so kennzeichnen, keine nestelnden Bewegungen an der Tasche, um den Inhalt zurückzudrängen und die Tasche über ihrem hervorquellenden Inhalt zu schließen. Ich öffnete die Tür zu Gleis 1 und sah mich dort stehen, ruhig, fast zu ruhig, mit versteinertem Gesicht, ein Hinweis, dass ich innerlich aufgewühlt war. Das Gespräch mit meinem Kind, das Kind, das nicht erwachsen werden wollte, das Kind, das nach mir als seiner Mutter rief, die ich nicht mehr sein wollte, jedenfalls nicht so, das wühlte mich auf. Ich stieg in den einfahrenden Zug ein, setzte mich allein in eine Vierer-Bank, und als jemand sich den leeren Sitzen näherte, zuckte ich zusammen. Kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof stand ich auf und lief Richtung vorderer Waggontür. In der Nähe der Zugtür schwankte ich und prallte auf die Sitzgruppe gegenüber. Die Frauen gegenüber streckten ihre Arme hoch und fingen mich auf. Ich hielt mich nicht, ich konnte mich nicht halten, weil ich mir selbst nicht mehr zum Greifen nah war. Diese Hülle konnte ich nicht bewohnen. Ich ging davon.

 



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Kommentare zu diesem Text

Clara (37)
(06.02.22, 17:39)
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 AchterZwerg (07.02.22, 07:45)
Sich selbst zu verfolgen, ist die beste Lesart! :)

 Quoth (10.04.22, 09:52)
Für mich ist es eher ein Vermissen seiner selbst .  Ohne die letzten drei Sätze wäre der Schluss für mich stärker . Interesanter Text! Gruß Quoth
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