Es ist vorbei

Text zum Thema Trauma

von  Seelensprache

Jetzt war er an der Reihe. Er fühlte Aufregung in seinem Körper. Was hatte er nicht alles erreicht. Das Studium hatte er mit Bestnoten abgeschlossen. Auch die berufliche Laufbahn konnte sich sehen lassen. Mittlerweile leitete er selbst Führungskräfte an, die wiederum große Abteilungen unter sich hatten. Regelmäßig erhöhte man ihm das Gehalt. Er musste nicht einmal mehr danach fragen, man schmiss ihm das Geld einfach hinterher. Dass er aber einmal einen solchen Tag erleben würde, daran hatte er im Traum nicht gedacht.

Dann wurde sein Name genannt. Er war deutlich, mit kräftiger Stimme warm ausgesprochen, in einem Klang, der ein gutes Gefühl machte. Während er die ersten Schritte nach vorne ging, erinnerte er sich zurück an die vielen Firmen-Feiern der letzten Jahre. Diese hatten meist in großen Hallen, üppig aufgeblasen, stattgefunden. Dort standen pompöse Tribünen, manchmal spielten sogar bekannte Bands. Die Dekorationen waren detailliert, raffiniert, mit Blick für perfekte Arrangements. Das Buffet war überwältigend, so, dass gleich neben der Lust sich alles einzuverleiben, die Traurigkeit parkte, da dies, ob der schieren Fülle, schlicht unmöglich war.

Er trat ein paar Schritte voran. Die Augen der anderen waren nun auf ihn fixiert. Sie strahlten. Er hatte lange keine Augen mit einer solchen Leuchtkraft gesehen. Mit jedem Schritt spürte er eine Regung in sich, die ihn tief bewegte. Er hielt einen Moment inne. Er schaute sich um und in den Gesichtern und Gesten spürte er so etwas wie die liebevolle Ermutigung einer Mutter gegenüber ihrem zögerlichen Kind. Er selbst hatte jedoch kein Zögern in sich. Es war etwas anderes, es war als ob etwas ganz und gar Unglaubliches geschah.

Er erinnerte sich, warum er hierher gekommen war. Er war so erschöpft. Er erinnerte sich an all die Schmerzen und Krankheiten zeitlebens. Er erinnerte sich an all die Demütigungen, an diese Gefühle des Andersseins. Er erinnerte sich an den täglich Kampf mit sich selbst und die ganzen hässlichen Auswüchse, die daraus hervorgegangen waren. Er erinnerte sich, wie er nicht ein einziges Mal hatte aus vollem Herzen „Mir geht es gut“ sagen können. Er erinnerte sich an die ständigen Schweißausbrüche, die Panik, die Depression, die unzählig leidvollen Besuche bei Ärzten. Er erinnerte sich an den Hass, die Scham, die Ohnmacht und es war schlimm, sich zu erinnern. Er fühlte tiefen Schmerz. Und während er dort stand und sich erinnerte, sah er, wie auch die anderen seinen Schmerz fühlten. Er sah es in ihren Augen, in ihren Gesichtern, in ihrer ganzen Haltung und es war eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen. Es näherten sich ein paar Männer. Sie hielten sich an den Händen oder hatten die Hände über die Schulter eines anderen gelegt. Sie traten an ihn heran, so dass er nun nicht mehr alleine stand. Gemeinsam gingen sie nach vorne.

Dort standen drei Männer. Hinter ihnen loderte ein großes, wämendes Feuer. Der Älteste trat an ihn heran. „Du bist ein Überlebender“, sagte er. „Du hast überlebt. Dein Kampf ist zu Ende“. Er sagte dies in einer Ruhe und Klarheit und Tiefe, die keinen Zweifel hinterließ. „Dein Trauma ist Vergangenheit“.

Die Möwen kreischten. Er schreckte hoch. Er müsste unbedingt den Weckton tauschen, sonst würde er künftig beim Kreischen der Möwen immer an seinen Wecker denken müssen. Das wollte er nicht. Er ließ sich noch einmal zurück auf das Kissen fallen und starrte ungläubig an die Decke. Dort flirrten schlierenhaft, wie ein Nachbild die Worte: „Es ist vorbei“. Er lächelte endlich mal wieder.



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