Der letzte Spaziergang

Text zum Thema Freundschaft

von  GastIltis

„Otto“, sagte ich, „du bist dran.“ „Wieso“, meinte er, „ich hatte doch letztens den Gang ins Mühlenholz geplant.“ „Ja“, sagte ich, „das war vor acht Wochen. Und vorletzte Woche? Zum alten Betonwerk?“ „Stimmt“, sagte Otto, „bin dran.“


Alle paar Wochen gingen wir auf Tour. Unregelmäßig, nur wenn uns so war. Manchmal, wenn uns nicht so war, gingen wir ohne uns. Besser war aber mit.


„Gut“, sagte Otto, „morgen halb zehn.“

Wir also los. „Und“, sagte ich, „wo solls hin gehen?“ Er: „Erst in den Bruch, wo früher die Wasserfassung war und dann zur alten Bude, wo die LPG-Traktoren repariert wurden. Dauert so runde drei Stunden.“

Als wir endlich an der Bude waren, sagte ich: „Siehst du das Schild, das scheint neu zu sein.“ „Welches Schild?“ „Na da an dem Mast.“ „Ich sehe keinen Mast.“ „Otto“, sagte ich, „direkt vor uns. Wir rennen ihn bald um.“ Er: „Ach, du meinst den Pfahl mit dem Lautsprecher.“ „Otto! Das ist ein Schild und kein Lautsprecher. Da steht was drauf! Außerdem ist das Ding flach.“ Meinte Otto: „Für mich ist das ein Kasten und wenn was los ist, kommt eine Durchsage raus.“ „Otto“, sagte ich, „siehst du denn die Zeilen nicht, vier Stück, ich kann Wort für Wort lesen.“ „Das sind Schlitze“, sagte Otto, „damit die Geräusche raus kommen. Und keine Schrift!“


„Otto!“ Mein Ton wurde schärfer. „Soll ich dir die Zeilen vorlesen, damit du es glaubst? Oder willst du vorher lieber zum Augenarzt, weil dein räumliches Sehen komplett den Geist aufgegeben hat?“ „Gut,“ sagte Otto, „lies schon vor.“

Ich also:

„Ich sehe was, was du nicht siehst.

Wenn jemand Wein in Wasser gießt,

und Wasser wiederum in Wein,

ist der zu blöd, um hier zu sein!“

Was nun eintrat, war unerwartet: Stille. Richtige, tiefe Stille!

Vielleicht zwanzig Sekunden lang.


Bis plötzlich wie aus dem Nichts etwas ganz Eigenartiges geschah. Es fing an zu plärren:


„Ich höre was, was ihr nicht hört.

Wer nochmals meine Kreise stört,

den buchtet ein bis kurz vorm Tod.

Und zwar bei Wasser ohne Brot!“


Seitdem gehen wir getrennte Wege. Zumindest innerlich.

Wer einen Wanderfreund trotz Handyabstinenz derart ins offene Messer laufen lässt, der hat sich eine Denkpause redlich verdient.




Anmerkung von GastIltis:

Empfohlen von: Agnete, plotzn, Clara, franky, Jo-W., Browiak, EkkehartMittelberg, monalisa, AZU20, indikatrix, Moja.
S t i l l e !

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Kommentare zu diesem Text

Jo-W. (83)
(18.02.22, 09:39)
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 GastIltis meinte dazu am 18.02.22 um 14:16:
Lieber Freund Jo,
„fast“ ist schon viel zu viel! Weißt du, dass ich einem Freund im Sommer ein Buch geliehen habe? Nein! Titel: Corona. Und dabei handelt es sich um eine Dame mit Namen Corona Schröter, eine begnadete Sängerin, die mit Goethe befreundet war. Interessant, aber auch sie war ohne Erfolg (beim großen Goethe). Warum schreibe ich das? Weil es sich bei meinem Text um einen ganz normalen (fiktiven) Spaziergang handelt. Natürlich fließen eine Menge persönlicher Erlebnisse aus jüngster Vergangenheit mit ein. Den längeren Ausflug (drei Stunden) im Dezember habe ich übrigens zur Erlangung von Punkten im Bonusprogramm meiner Krankenkasse gemacht, damit ich mir wieder ein Paar Wanderschuhe kaufen kann. Nicht, dass ich sie mir nicht auch so kaufen könnte, aber man hat in diesem Staat nichts zu verschenken.
Aber was geschah während des Ausfluges? Ich bekam einen Anruf eines Ex-Mitgliedes von KV, und da kam die Sprache auf das „fast“-Thema. Ich habe dazu eine Haltung, und die vertrete ich auch während einer privaten Wanderung ohne Lautsprecher, lautes Geplärre und das organisierte Geschrei, dass es um unsere Kinder geht. Also, um es kurz zu machen, alle (meine) Freunde, und das war ja auch dein Thema, sind erkennbar vernünftig, was mich nicht wundert.
Sei herzlich gegrüßt und bleib gesund. Gil.

 AZU20 (18.02.22, 09:53)
Diese Pause aber nicht zu lange ausdehnen. Lohnt sich nicht, oder? LG

 GastIltis antwortete darauf am 18.02.22 um 14:29:
Hallo Armin,
mache ich nicht! Jede Woche am Dienstag um acht Uhr gehe ich eine Stunde aus ganz persönlichen Gründen.
Zum See, dort entlang, dann ein Stück bergauf, wenn ich fast nicht mehr kann 62 Stufen, dann noch ein steiles Stück, und dann wieder zum Ausgangspunkt zurück. Unterwegs begegne ich immer einem jungen Mann, der freundlich grinst, grüßt, raucht (immer), aber ansonsten nichts fragt und vielleicht auch nichts weiß. Und einmal im halben Jahr treffe ich einen Architekten, der den Umbau der Villa, wo wir Weihnachten immer verbringen, geplant hat, und dann reden wir über meine alten und seine unbestimmten Zeiten. Pausen lohnen nicht. Richtig.
Danke und viele Grüße von Gil.

 EkkehartMittelberg (18.02.22, 10:04)
Hallo Gil, unterschiedliche Wahrnehmung ist schwer zu überbrücken und kann eine Freundschaft zerstören. Das hast du eindrucksvoll dargestellt.
Herzliche Grüße
Ekki

 GastIltis schrieb daraufhin am 18.02.22 um 14:46:
Lieber Ekki,
ich habe früh gelernt, dass man jemand, der ein wenig begriffsstutzig ist, gern mal vorführt. Zum Beispiel u.a. bei seinem Chef oder Lehrer oder einer größeren Menge von "Leuten". Nun denk dir einfach mal das Ereignis unter diesem Gesichtspunkt. Ein klug eingefädelter, gelungener Trick. Leider nur ohne Zuschauer hinterm Zaun oder einem Fenster bzw. hinter Wolken, die dann noch in brüllendes Gelächter ausbrechen. Nimm dir Homer.
Wobei Hephaistos ja mehr zu bedauern als mit Gelächter zu strafen ist.
Aber da kennst du dich besser aus. Danke und sei herzlich gegrüßt von Gil.
Clara (37)
(18.02.22, 10:23)
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 GastIltis äußerte darauf am 18.02.22 um 15:04:
Liebe Clara, danke dir vielmals.

Wenn man Texte versucht, nüchtern zu betrachten, bleiben immer einige im Gedächtnis haften, die anders sind. Bei mir ist es z.B. Günter Kunerts „Ballade vom Ofensetzer“. Surreal? Sicher. Aber eben auch vom Stil her so gut, dass es mich überwältigt hat. Und wenn es so ist, sage ich es auch. Dafür bin ich Mensch und kein Literat oder Poet.
Ich finde jedenfalls, dass du einen guten Kommentar geschrieben hast.

Herzlich grüßt dich Gil.
Clara (37) ergänzte dazu am 18.02.22 um 15:35:
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 GastIltis meinte dazu am 18.02.22 um 18:56:
Liebe Clara,

ich versuche mich kurz zu fassen: Deine Erzählung hat tatsächlich eine große Ähnlichkeit mit Günter Kunerts Zeilen. Ich vermute mal, dass Kunert sie gekannt haben muss und sie als zeitgemäße Adaption in einem gesellschaftsgemäßen Gewand niedergeschrieben hat. Zu Kunert hatte ich später mal eine Verbindung aufgenommen, als ich ein Gedicht mit dem Titel „Geld“ schrieb, in das ich sein Zitat „um reich zu werden, muss man viel Geld haben“ eingebaut hatte, wofür ich seine Zustimmung brauchte, die er mir schriftlich erteilte.
 
Dass man meinen Text verschieden lesen kann, ist nicht zu vermeiden. Für mich ist er eindeutig, als mathematisch ein wenig geschulter User möchte ich fast sagen: eineindeutig! Aber du bist ja Leserin und damit nicht vorbelastet. Insofern stimmt deine Ansicht schon.
 
Und dass Lautsprecher an Masten angebracht werden, dazu bedarf es wohl nicht unbedingt eines Dorfes, es sei denn, du bezeichnest (m)eine Stadt mit über 60.000 Einwohnern als Dörp.


Danke für die Ergänzung und Erweiterung und liebe Grüße von Gil.

 monalisa (18.02.22, 10:24)
Lieber Gil, ich lese deine Text als Parabel und finde traurige Parallellen nicht nur im ganz persönlichen Bereich, sondern aktueller denn je auch im gesellschaftlichen Dilemma um Corona, für und wider Impfung, für und wider Maske, ...

Je nach Zugang schein die Haltung "einzementiert", ist man aufs Hören fixiert, werden die Buchstaben ausgeblendet, konzentriert man sich aufs Lesen, erscheint die Lautsprecherstimme irreal. Die jeweiligen "Parolen", ob nun geschrieben oder hinausgeplärrt, gießen zusätzlich Öl ins Feuer, sodass die Freundschaft daran zerbricht, wie im richtigen Leben.
Der letzte gemeinsame Spaziergang! Da geht etwas zu Ende, das lange gut war. Da ist schon eine Trauerminute angesagt.

Liebe Grüße
mona

 GastIltis meinte dazu am 18.02.22 um 15:10:
Liebe mona,

es tut mir sehr leid, dass du genau dieser Missdeutung zum Opfer gefallen bist, von der ich in der Antwort zum Kommentar an plotzn geschrieben habe.
Wenn du meinen Text als Parabel gelesen hast, die traurige Parallelen zu deinem persönlichen Bereich erkennen lässt, zeigt es mir tatsächlich, dass einfache Texte oftmals vielschichtig und vieldeutig sein können.

Mit dem Thema Corona hat mein Text nichts zu tun.

Nicht ich habe den Begriff „Spaziergang“ missbraucht, es sind die Idioten, die denken, sie könnten den Staat vorführen.

Nicht ich fahre einen von Dienern des Staates begleiteten Lautsprecher durch die Straßen der Stadt, es sind ein paar Verwirrte, die nicht wissen, was sie tun.

Und nicht ich bemale Schilder, um sie hinter der nächsten Ecke mit der Rückseite nach vorn an einen herum stehenden Pfahl zu stellen.

Wer etwas gegen den Staat hat, sollte den Mut aufbringen, das auch deutlich zu machen. Und sich nicht hinter Kranken, Kindern und Betrübten (Goethes Begriff aus Philine) verstecken.

Der Staat ist das Machtinstrument der herrschenden Klasse, habe ich früher einmal gelernt. Inzwischen gibt es, haben uns die Medien beigebogen, aber gar keine Klassen mehr. Und der Mittelstand fängt knapp oberhalb von Hartz IV an und reicht bis in Regionen eines Herrn Friedrich Merz.

Nein, mein Text handelt von einer einfachen Wanderung und dem (misslungenen) Scherz meines Wandergevatters, der zwar nicht der Tod ist, aber ihm vielleicht ein wenig nahe steht.

Sei lieb gegrüßt von Gil.

Antwort geändert am 19.02.2022 um 13:44 Uhr

 monalisa meinte dazu am 19.02.22 um 14:35:
Jetzt, denke ich,  hast du mich missverstanden, lieber Gil.
Was ich herausgelesen habe: dass zwei Freunde miteinander eine kleine Wanderung unternehmen, wie sie das in unregelmäßigen Abständen tun, die also gut miteinander bekannt und vertraut sind, dass sie zu Pfahl/Mast, Schild/Lautprecher kommen und dazu zwei ganz unterschiedliche Wahrnehmungen der gleichen Sache haben, zwei unterschiedliche Perspektiven, Zuordnungen und sich darüber streiten, sosehr, dass durch ihre Freundschaft plötzlich ein Riss geht. Die über einen längeren Zeitraum gut funktionierende Wandergemeinschaft ein (hoffentlich nur vorübergehendes) Ende findet.
Da liegt es für mich auf der Hand, Parallellen zu ziehen zu Freundschaften, ja Familien, die z.B, weil gerade hochaktuell, am Thema Corona und ihren unterschiedlichen Standpunkten dazu auseinanderdriften, ja sich bisweilen anfeinden ... ,
Parallellen zu unsrer Gesellschaft, die sich in Lager spaltet, die ihr "Wissen" aus ganz unterschiedlichen Quellen speisen ...

Das wars dann auch schon von mir. Ich verstehe absolut nicht, was daran "falsch" sein soll?

Liebe Grüße
mona

Antwort geändert am 19.02.2022 um 14:39 Uhr

 GastIltis meinte dazu am 19.02.22 um 17:31:
Liebe mona, wollen wir unsere gar nicht so divergierenden Ansichten nicht lieber per PN austauschen? Das wäre für uns beide sicher günstiger. Wir wollen doch nichts falsch machen!
Sei herzlich zurück gegrüßt von Gil.

Ich melde mich morgen wieder!
IsoldeEhrlich (12)
(18.02.22, 11:06)
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 GastIltis meinte dazu am 18.02.22 um 15:46:
Charles Bukowski hat einmal gesagt: „Man kann jede Zeit mit Alkohol vergiften. Obwohl sie ohne schon giftig genug ist. Aber mit bleibt einem noch ein wenig Hoffnung. Worauf? Auf einen Rest Ernüchterung."

Antwort geändert am 18.02.2022 um 15:47 Uhr

 plotzn (19.02.22, 11:19)
Lieber Gil,

auf solche Art S(tra)paziergänge kann ich gerne verzichten. Da wird ein Wort missbraucht. Schilder und Lautsprecher haben nichts mit Erholung zu tun, die Stimmung noch viel weniger.

Ich rieche was, was ihr nicht riecht,
das tief in meine Nase kriecht -
und mein Gerücht betrügt mich nie,
ihr ahnungsloses Massenvieh.

Liebe Grüße,
Stefan

 GastIltis meinte dazu am 19.02.22 um 12:47:
Hallo Stefan,

du hast zu recht so dick aufgetragen. Meinen Text, den ich arglos geschrieben hatte, kann man missdeuten, und er ist missdeutet worden. Das finde ich schade. Ich stehe hier für den Begriff Vernunft.
Vernunft schließt Toleranz, Respekt und Rücksichtnahme mit ein. Wer jetzt noch mit dem Banner Freiheit herum wedelt, sollte sich erst einmal um eine ordentliche Definition dafür bemühen.
„Die Freiheit ist das Leergut der Geschichte, für das es keine Rücknahmepflicht gibt!“ Von wem das ist? Das steht auf einem ganz anderen Blatt.

Dass du mit der Vernunft im Bunde bist, ehrt dich. Das zählt mehr als alles andere!

Danke und sei herzlich gegrüßt von Gil.

Antwort geändert am 19.02.2022 um 13:47 Uhr
Agnete (66)
(22.02.22, 10:14)
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 GastIltis meinte dazu am 22.02.22 um 11:29:
Stimmt Agnete,
 
wenn man wie du kommentiert, kann man leichthin antworten. Es ist alles drin in deinen wenigen Zeilen. Und damit alles gesagt. Prima! Danke, darauf, nein keinen Dujardin, lässt sich aufbauen.
 
Herzlich grüßt dich Gil.
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